Franz Mehring 19050227 Ein deutscher Arbeiter

Franz Mehring: Ein deutscher Arbeiter

27. Februar 1905

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 48, 27. Februar 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 446-448]

Heute feiert Friedrich Leßner in London seinen achtzigsten Geburtstag. Für das deutsche, für das internationale Proletariat ist dieser Tag ein Tag stolzer Erinnerung. Denn was das deutsche Proletariat gekämpft und gelitten hat, seit es, um mit Karl Marx zu sprechen, die riesigen Kinderschuhe des Weitlingschen Kommunismus ausgetreten und gemeinsam mit den Bundesgenossen aus anderen Ländern im Kommunistischen Manifest die politische Mannbarkeit der Arbeiterklasse proklamiert hat, das hat Friedrich Leßner mitgekämpft und mitgelitten. Zuerst als Vorkämpfer, als einer der wenigen, die die herrschenden Gewalten als Verbrecher verfolgten und die bürgerliche Welt als Narren verhöhnte, auf dem verfluchten Boden der preußisch-deutschen Reaktion; dann als Blutzeuge für das gesellschaftliche Recht seiner Klasse, dessen sittliche Widerstandskraft allen Folterkünsten der modernen Justizinquisition wie auch den dreijährigen Qualen einer preußischen Festungshaft ebenso siegreich spottete wie später die deutsche Arbeiterklasse den Wutschlägen des Sozialistengesetzes. Dann als Propagandist des wissenschaftlichen Kommunismus, den er, der einfache Arbeiter, sich mit sicherem proletarischem Instinkt als die Weltanschauung assimilierte, die im Auf- und Abwogen der Klassenkämpfe die Befreiung seiner eigenen Klasse sieghaft ankündigte. Auf den Kongressen der Internationale, die vom Streit der verschiedensten sozialistischen Systeme widerhallten, war er stets einer derjenigen, die die Fahne des Kommunismus gegen die antikollektivistischen Proudhonisten aufpflanzten und die universellen ökonomischen Entdeckungen des „Kapitals" gegen die genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen und nichtpolitischen Eigenbrötler hochhielten. Und auch nach dem Fall der Internationale, als er um sich herum alles jäh zusammenstürzen sah, was zähe Arbeit und hingebende Aufopferung als Grundlage einer selbständigen englischen Arbeiterbewegung aufgebaut hatten, als es um ihn leerer und einsamer wurde und zuletzt auch die Männer, an denen er mit schwärmerischer Liebe und Verehrung hing, Marx und Engels, hingegangen waren, ist er doch immer siegesbewusster geworden im Hinblick auf die täglich rapider wachsende Athletengestalt des deutschen Proletariats, auf die sich überstürzenden Kämpfe und Siege der internationalen Arbeiterbewegung. So steht er heute vor uns, ein deutscher Arbeiter, rüstig und geistesfrisch wie nur je zuvor, ein Bild, ein Typus der deutschen Arbeiterklasse. Die deutschen Schergen wollten ihn in tödlich langer Einzelhaft zur Verzweiflung bringen: sie sind selbst daran verzweifelt, ihn zu beugen; sie wollten ihn in preußischen Kasematten verfaulen lassen: ihre Namen modern heute auf dem Schindanger der Geschichte. Friedrich Leßner hat sie alle überlebt, wie einst die Arbeiterklasse alle ihre Peiniger und Mörder überleben wird.

Friedrich Leßner ist nicht der einzige Veteran aus der Zeit des Kommunistenbundes, der heute noch lebt. Mit ihm zusammen, durch treue Freundschaft und die Waffenbrüderschaft von fast sechs Jahrzehnten verbunden, lebt heute noch in London Georg Lochner, sogar noch einige Jahre älter als Leßner, ein Kampfgenosse aus der Zeit des Kommunistenbundes und der Internationale. Wie kommt es, dass Georg Lochner nur einem kleineren Kreise von Genossen heute noch bekannt ist, während Friedrich Leßner der Liebling des deutschen Proletariats ist? Leßner hat sich nie in seinem Leben vorgedrängt, hat nie von sich reden gemacht, hat nur gesprochen oder geschrieben, wenn er dazu aufgefordert war, und auch dann nicht immer. Allein Leßners Name ist eingegraben in die Herzen des deutschen Proletariats durch die Leiden des Kölner Kommunistenprozesses, und sein Name ist ebenso unvergänglich wie die Schmach, mit der sich die preußische Justiz auf ewige Zeiten bedeckt hat. Dieser Prozess hat damals in der preußischen Verwaltung und Polizei ähnliche Zustände an den Tag gefördert, wie der Königsberger Prozess1 das für die russischen Zustände geleistet hat; das gesittete Ausland, insbesondere England, wandte sich mit Entsetzen ab von dem stinkenden Aasgeruch preußischer Barbarei und preußischer Korruption. Georg Lochner ist, kurz ehe die Kommunistenhetze in Deutschland losbrach, aus Deutschland nach England übergesiedelt, nicht um seine Person in Sicherheit zu bringen, sondern weil ihm in den Tagen der Reaktion die Propaganda ebenso aussichtslos dünkte wie seinen Nürnberger Genossen.* Leßner war aus zäherem Stoffe gemacht; ihn beherrschte vor allem schon damals jenes alles überwindende Siegesbewusstsein, das später die köstlichste Wegzehrung des kämpfenden Proletariats geworden ist. So hat er die passiven Lorbeeren des großen Kommunistenprozesses um seinen Namen gewunden, und auch in der Internationale ist er stets Propagandist geblieben, während Lochner mehr in den internen Sitzungen des Generalrats seinen Mann stellte. Und später, als das deutsche Proletariat von Kampf zu Kampf und von Sieg zu Sieg schritt, als es während zwölf Jahren des Schandgesetzes mit seinem Würger Bismarck rang und diesen endlich zu Fall brachte, da war er überall im Geiste dabei, er hat mit den Exilierten des „Sozialdemokraten" persönlich die alte Waffenbrüderschaft, die ihn mit dem deutschen Proletariat verbindet, erneuert, und er hat auf dem Frankfurter Parteitag den Vertretern der deutschen Arbeiterklasse seine Glückwünsche zu ihrem Sieg über ihren Erzfeind ausgesprochen. „Und sie bewegt sich doch!" rief er damals dem Gespenst der Umsturzvorlage zu. So ist bis auf den heutigen Tag der Name Friedrich Leßner für die deutsche Arbeiterklasse ein Name stolzer Erinnerung geblieben, in dem sich ihre geschichtliche Kontinuität mit den ersten Anfängen der internationalen Arbeiterbewegung widerspiegelt.

Aber nicht nur ihre Geschichte, sondern auch ihr eigenes innerstes Wesen findet sie in der Person Friedrich Leßners wieder. Er ist das Urbild eines deutschen Arbeiters, wie er im Karl Marx und Friedrich Engels steht. Er ist einer jener Arbeiter, die heute zu Hunderttausenden leben, an dem sich aber unter den Ersten erfüllt hat, was Engels der deutschen Arbeiterklasse vorhergesagt hat, dass sie die Erbin der deutschen klassischen Philosophie werden würde. Er hat in diesem Erbe, wie es Marx und Engels umgedacht und weitergedacht haben, seine persönliche Weltanschauung, seine sittliche Kampfeskraft, seine unerschütterliche Siegeszuversicht gefunden, mit der er allen Anfechtungen getrotzt hat und durch die er bis ins hohe Greisenalter geistig frisch und rüstig geblieben ist. Die ewig verjüngende Kraft dieser Siegesgewissheit, die sich auch an Georg Lochner bewährt hat, ist auch der Jungbrunnen des deutschen Proletariats geworden, in dem es sich von allen Unterdrückungen und Verfolgungen zum letzten Kampfe und Siege stählt und stärkt. Friedrich Leßner ist ein Typus und doch eine Individualität; er ist ein leuchtendes Beispiel für die Tatsache, dass auch der einfachste Arbeiter in genossenschaftlichem Denken und Fühlen seine Persönlichkeit nicht preisgibt, sondern sie tagtäglich verjüngt und neu gewinnt. In diesem Sinne gilt das Wort, dass, wer sein Leben hingibt, der wird es gewinnen; wer es aber behalten will, der wird es verlieren.

Wenn heute Friedrich Leßner die Hunderttausende von Proletariern überblickt, die ihm ihre Grüße und Wünsche darbringen, so wird er von neuem die Gewissheit schöpfen, dass die Saat, die er einst auf dem harten, steinigen Boden der deutschen Reaktion ausstreute, herrlich in die Halme geschossen ist. Und als einen besonderen Stern seines Lebens mag er es preisen, dass die blutige Morgensonne der russischen Revolution den Abendhimmel seines Lebens vergoldet.

1 Der Königsberger Prozess fand vom 12. bis 25. Juli 1904 statt. Deutsche Sozialdemokraten, die gemeinsam mit russischen Revolutionären Propagandamaterial der russischen Sozialdemokratie illegal ins Zarenreich geschmuggelt hatten, waren deshalb „der Geheimbündelei, des Hochverrats gegen Russland und der Zarenbeleidigung" angeklagt worden. Ähnlich wie der Kölner Kommunistenprozess schlug jedoch auch dieser Prozess auf seine Urheber, die mit dem Zarismus verbündete preußische Reaktion, zurück. Dank des klassenbewussten Auftretens der Angeklagten und ihrer hervorragenden Verteidigung durch Karl Liebknecht wurden im Verlauf des Verfahrens die ganze Brutalität des Zarismus, die Rechtlosigkeit des russischen Volkes, die Korruption der Beamten und die katastrophalen Zustände in der zaristischen Justiz und Polizei vor aller Welt aufgedeckt. Damit wurde auch den reaktionären Kräften in Deutschland ein schwerer Schlag versetzt. (Siehe Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1958, S. 68-74.)

* Siehe das Nähere in der Beilage zu Friedrich Leßners Gedächtnis.

Kommentare