Franz Mehring 19131002 Heinrich Dietz

Franz Mehring: Heinrich Dietz

2. Oktober 1913

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 229, 2. Oktober 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 493-406]

Die deutsche Sozialdemokratie hat ein Alter erreicht, das ihr gestattet, schon auf mehr als eine Generation von Männern zurückzublicken, von deren Wirken die Blätter ihrer Geschichte dauerndes Zeugnis ablegen werden. Zur ersten Generation mag man ihre drei führenden Geister zählen, Marx, Engels und Lassalle; zur zweiten dann Männer wie Schweitzer, Liebknecht, Bebel, Auer, Grillenberger, von denen es in manchen Nachrufen auf Bebel hieß, dass sie nun alle der kühle Rasen decke.

Das war im Schmerz um einen großen Verlust gesprochen, und deshalb wäre es unbillig, mit dem Worte zu rechten. Aber ein ungewolltes Unrecht war es doch gegen manchen Lebenden und so auch gegen den Mann, dessen 70. Geburtstag wir morgen mit unsern herzlichsten Grüßen und Wünschen feiern, den Genossen Heinrich Dietz. Sein Tagewerk steht in der Geschichte des proletarischen Emanzipationskampfes so groß da wie das Tagewerk irgendeines von denen, die jahrzehntelang Schulter an Schulter mit ihm gearbeitet und gekämpft haben; ja, wenn er allezeit seinen Mann gestanden hat, wo immer die Parteipflicht heischend an ihn herantrat, als Agitator, als Organisator, als Gewerkschafter, als Parlamentarier, so hat er doch einen großen und wichtigen Teil unseres Schlachtfeldes aus ureigener Kraft verwaltet, lange Zeit allein und dann immer noch als Vorbild der jüngeren Kräfte, die ihm nacheiferten und ihm doch nur nacheifern konnten, weil sie ihr Bestes von ihm gelernt hatten.

Heinrich Dietz ist der Schöpfer der wissenschaftlichen Literatur, die die deutsche Arbeiterpartei zu ihren schönsten Ehren- und Ruhmestiteln zählen darf. Sicherlich der Schöpfer nur in dem Sinne, worin der einzelne durch seine Arbeit und seinen Fleiß, seine Energie und seine Umsicht die Entwicklung zu fördern vermag, die in den Dingen selbst gegeben ist, aber innerhalb dieses beschränkten Sinnes doch im allerweitesten Maße. Gerade jetzt, wo der Stuttgarter Parteiverlag, den Dietz seit einem Menschenalter leitet, den Briefwechsel zwischen Engels und Marx herausgegeben hat, wird man fast auf jeder Seite der vier Bände daran erinnert, wie schwer unsere großen Vorkämpfer unter der Not um einen tüchtigen und willigen Verleger gelitten haben und wie die Plage noch lange nicht aufhörte, wenn sie wirklich mal einen fanden. Wie hat der reiche Herausgeber der „New York Tribüne" dem armen Marx durch klägliche und kleinliche Geschäftskniffe das Leben vergällt, obgleich er sehr wohl wusste, was er an diesem Mitarbeiter besaß, und sogar öffentlich gern damit einher prunkte. Wie viel reicher würde das wissenschaftliche Erbe sein, das Marx und Engels hinterlassen haben, wenn sie einen Mann wie Heinrich Dietz zur Seite gehabt hätten.

Aber freilich – die Zeit erst konnte den Mann schaffen, der selbst in der glühenden Esse des proletarischen Klassenkampfes zurecht gehämmert sein musste, um diesem Kampfe die wissenschaftlichen Waffen zu schmieden. Heinrich Dietz hat von der Pike auf gedient. Ein Sohn der Hansastadt Lübeck, hat er das Buchdruckerhandwerk erlernt und auf seinen Wanderfahrten auch mehrere Jahre in russischen Druckereien gearbeitet. Es war ein noch unverstandenes Vorzeichen seiner Zukunft, als er in jungen Jahren eine Schrift Tschernyschewskis setzen half und das Lob dieses so berühmten wie edlen Sozialisten einerntete, der bald darauf einem furchtbaren Schicksal erliegen sollte. Die militärische Gestellungspflicht rief Dietz dann nach Deutschland zurück; er war gewerkschaftlich im Buchdruckerverbande und politisch unter den Lassalleanern tätig, bis er im Jahre 1876 als Faktor einer Hamburger Buchdruckerei mit seiner vollen Kraft in den Dienst der eben geeinigten Partei trat, um der „sozialistischen Hauptstadt", wie Hamburg damals mit Recht genannt wurde, das erste sozialdemokratische Blatt einzurichten, das Hamburg-Altonaer „Volksblatt", das dreimal wöchentlich erschien. Laufenberg hat in einem anziehenden Kapitel seiner hamburgischen Parteigeschichte die Gründung dieser Zeitung geschildert.

Kaum hatte sie triebkräftige Wurzeln geschlagen, als das Sozialistengesetz mit seinen Schrecken hereinbrach. Nun zeigte sich Dietz als der rechte Mann am rechten Platze, er wurde der „Verwalter des Schlachtfeldes", indem er die elenden Trümmer der durch infame Tücke zerschmetterten Genossenschaftsbuchdruckerei von Hamburg und dann von Leipzig in eigenen Betrieb übernahm, um sie von neuem aufzubauen und sie dann freilich nur immer von neuem zertrümmert zu sehen. Diesen zähen Kampf führte er erst in Hamburg, dann, als der kleine Belagerungszustand über diese Stadt verhängt wurde, von Harburg aus, und als ihn dasselbe Ungetüm auch von hier vertrieb, zuletzt in Stuttgart, wo er endlich Ruhe fand, soweit sich der Begriff der Ruhe mit einem täglichen Platzregen von Beschlagnahmen, Haussuchungen, Verhaftungen und andern Annehmlichkeiten fürsorgender Staatsweisheit verträgt. Einiges aus dieser Sturm- und Drangzeit hat Genosse Dietz selbst, nicht zwar mit harmlosem – denn harmlos können nur Schlafmützen solche Dinge auffassen –, aber wohl mit überlegenem Humor in Auers Sammelschrift „Nach zehn Jahren" geschildert.

Mit der „milderen Praxis" – die doch auch nur ein Interim war, das den Schalk hinter sich hatte – gab Heinrich Dietz sofort das Signal zur wissenschaftlichen Sammlung der Partei. Am 1. Januar 1883 begann er „Die Neue Zeit" herauszugeben, zunächst als Monatsschrift. Der Schreiber dieser Zeilen entsinnt sich noch lebhaft, wie ihm der seitdem verstorbene Leiter eines bürgerlich-demokratischen Blattes die erste Nummer als buchhändlerische Merkwürdigkeit zusandte mit der lakonischen Notiz: Ein wahnsinniges Beginnen! Aber Dietz wusste das Schifflein so geschickt zu leiten, dass auch nicht ein einziges Heft der „Neuen Zeit" der sozialistengesetzlichen Guillotine verfallen ist. Freilich, wenn sie sein Lieblingskind wurde, so ist sie auch wohl, wie es mit Lieblingskindern zu gehen pflegt, sein Sorgenkind gewesen, aber er hat sie durch alle Untiefen des Defizits zu lotsen verstanden, und mit ihren mehr als fünfzig Bänden, die von Jahr zu Jahr stärker anschwellen, bleibt sie allein schon ein stattliches Denkmal seiner Verlagstätigkeit.

Um die „Neue Zeit", zu der sich später der „Wahre Jacob" und die „Gleichheit" mit ihren Hunderttausenden von Lesern und Leserinnen gesellten, gruppierte sich die Fülle wissenschaftlicher Werke, die jedem Parteigenossen aus den Katalogen des Stuttgarter Parteiverlages bekannt sind. Sie sind durchweg oder fast durchweg von armen Teufeln geschaffen, denen erst eine bescheidene Existenz gesichert werden musste, ehe sie sich wissenschaftlichen Arbeiten auf Jahre und manchmal halbe Jahrzehnte widmen konnten, während die wissenschaftliche Literatur der bürgerlichen Welt zumeist von Autoren in behäbiger Lebensstellung produziert wird, die geringe oder gar keine Honorare beanspruchen und oft sogar selbst die technischen Herstellungskosten ihrer Werke tragen. Dagegen darf diese Literatur auf ein kaufkräftiges Publikum rechnen und hohe Preise ihrer Erzeugnisse auswerfen, während die wissenschaftliche Literatur des Sozialismus von vornherein mit mühsam ersparten Arbeitergroschen rechnen muss. Es ist auch hier die umgekehrte Welt: drüben niedrige Honorare und hohe Preise, hüben hohe Honorare und niedrige Preise. Trotz dieser erschwerenden Umstände hat der Stuttgarter Parteiverlag sich auf eine der großen wissenschaftlichen Verlage der bürgerlichen Welt ebenbürtige Höhe zu heben vermocht.

Das ist um so mehr anzuerkennen, als er nie seine wissenschaftlichen Werke aus den Augen verloren hat. Nicht als ob sich unter seinen Werken nicht auch minderwertiges Gut befände; diesem unvermeidlichen Schicksal entgeht kein großer Verlag. Aber alles, was nach Sensation aussah, was nicht auf ehrliche und sachliche Arbeit, sondern auf Befriedigung müßiger Instinkte abzielt, jede Spekulation auf bloßen Schein, hat Heinrich Dietz seinem Werke stets ferngehalten. Wie streng er darin denkt, haben wir erst vor wenigen Tagen an dieser Stelle angedeutet bei der Anzeige des Briefwechsels zwischen Engels und Marx, an dessen Herstellung Dietz übrigens nicht nur als Verleger durch die treffliche Ausstattung, sondern auch – was der Herausgeber am ehesten und freudigsten anerkennen wird – als eifriger und sorgsamer Mitarbeiter beteiligt gewesen ist.

Dies gilt überhaupt wohl von allen oder doch den meisten Werken, die Genosse Dietz verlegt hat. Er ist nicht nur der zuverlässige Freund seiner Autoren, sondern auch ihr kluger Berater, und noch keiner, der seinem Rate gefolgt ist, hat es je zu bereuen gehabt.

Die elenden Trümmer, die er ehedem in schwerster Zeit übernommen hat, um sie vor ruchloser Gewalt zu retten, hat er der Partei längst als blühende Unternehmungen zurückgegeben. Aber er arbeitet in alter Art unverdrossen weiter, auch heute noch eine unentbehrliche Kraft, wenngleich sein Muster manch andern Parteiverlag erzogen hat, der Treffliches leistet. Heinrich Dietz denkt mit Karl Marx: Ein Mensch, der nicht arbeitet, ist ein Vieh. Und wenn der Tag, der uns allen beschieden ist, ihm in einer, wie wir alle hoffen, grauen Ferne heraufdämmert, so wird er ihn in den Sielen finden. Das ist sein Los, und wer sollte ihn darum nicht beneiden?

Feind alles äußeren Gepränges und alles öffentlichen Lobes, hat sich unser Freund zu seinem Ehrentage in irgendeinen verborgenen Erdenwinkel geflüchtet, allein mit seiner Gattin, die als sein treuester Kamerad ihn in Arbeit und Kampf durch sein Leben begleitet hat, wie Julie Bebel ihren Mann. Aber die Partei ehrt nicht sowohl ihn als sich selbst, wenn sie, mit heißem Dank für die Vergangenheit und mit froher Hoffnung für die Zukunft, an der Schwelle seines biblischen Alters des Mannes gedenkt, der sie seit vierzig Jahren gefördert hat, wie es immer nur einer erlesenen Minderzahl vergönnt gewesen ist.

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