Franz Mehring 19090319 Johann Philipp Becker

Franz Mehring: Johann Philipp Becker

19. März 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 937-939. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 449-451]

Heute sind hundert Jahre verflossen seit der Geburt eines Mannes, dessen Name in den revolutionären Jahrbüchern des neunzehnten Jahrhunderts fleckenlos strahlt. Johann Philipp Becker war kein bahnbrechender Geist, aber er war ein Mann, von dem, ähnlich wie von seinem Jahrgänger Wilhelm Wolff, die großen geistigen Pfadfinder der modernen Arbeiterbewegung immer nur wie von einem Ebenbürtigen gesprochen haben.

Die Biographie Beckers schreiben heißt die Revolutionsgeschichte des vorigen Jahrhunderts erzählen von den Tagen an, wo der Burschenschafter Sand den russischen Spion Kotzebue tötete, bis zu den Tagen, wo das Schandgesetz, das Bismarck über die deutsche Arbeiterklasse verhängt hatte, in den letzten Todeskrämpfen um sich schlug. Und nicht allein in der deutschen Revolution hat Becker sich hervorgetan. Er hat den schweizerischen Sonderbundskrieg von 1847 mitgemacht, als „im Hochland fiel der erste Schuss"; dann bildete er, als 1848 die Februarrevolution ausbrach, eine Flüchtlingslegion in der Schweiz, um Baden zu insurgieren. Als dieser Versuch gescheitert war, führte er im badisch-pfälzischen Aufstand des folgenden Jahres die badische Volkswehr, nicht siegreich, aber so ehrenvoll, dass selbst die preußische Militärpresse seine Leistungen anerkannte.

Nach dem Verlust der Schlacht bei Waghäusel sollte Becker den Rückzug decken. Er machte mit Leuten, die der Mehrzahl nach kaum vierzehn Tage bis drei Wochen eingestellt, die, ganz rohe Rekruten, von improvisierten Offizieren und Unteroffizieren eben notdürftig eingeübt waren und von Disziplin kaum eine Spur besaßen, einen Marsch von über 80 Kilometern oder elf deutschen Meilen, der gleich mit einem Nachtmarsch begann, und brachte sie mitten durch den Feind nach Durlach in einer Verfassung, dass sie den preußischen Truppen eines der wenigen Gefechte des Feldzugs liefern konnten, in denen der Gefechtszweck der revolutionären Streitkräfte völlig erreicht wurde. Dann hat Becker noch in den letzten Kämpfen an der Murg rühmlich befehligt, um darauf mit dem geschlagenen Heere auf das Gebiet der Schweiz überzutreten, die dem geborenen Pfälzer schon in den dreißiger Jahren zur zweiten Heimat geworden war. Doch hat er sich im Jahre 1860 noch einmal als Freischärler betätigt, im Einverständnis mit Garibaldi, dem er in Genua als Nachschub für die Tausend von Marsala eine Freischar rüstete. Zum Kampfe selbst ist er aber nicht mehr gekommen, da die raschen Fortschritte Garibaldis und die Einmischung des italienischen Heeres, das die Früchte des Sieges für die Monarchie einheimsen sollte, den Feldzug zu schnellem Abschluss brachten.

In der militärischen Befähigung Beckers sah Engels die hervorragendste Gabe des alten Revolutionärs. Aber das Schwert zu ziehen war ihm selten vergönnt, und die Waffe, die er unermüdlich gebrauchte, um für die großen Ziele seines Lebens zu wirken, war die Feder. Am 30. Mai 1867 schrieb Becker an seinen Freund Sorge: „Wenn ich Euch sage, dass dieser Brief seit 1861 der zweitausendachthundertsechsundachtzigste ist, worunter ganze Abhandlungen über unsere Frage, so könnt Ihr schon daraus, abgesehen von den zahlreichen Aufrufen, Rundschreiben, Zeitungsartikeln, der Abfassung von Statuten und Programmen, der Herausgabe mehrerer größerer und kleinerer Schriften, der Redaktion des ,Vorboten', der Organisierung und Leitung von Arbeitergewerksgenossenschaften, Euch einen Begriff meiner fortgesetzten Tätigkeit machen. Freilich muss ich deshalb, da ich dies alles unentgeltlich tue, mir und meiner Familie große Entbehrungen auferlegen und als wahrer Proletarier leben. Indessen liegt für mich ein großer Trost, ja Genuss in der Tatsache, dass meine Wirksamkeit auch in weiteren Kreisen mehr und mehr Anerkennung und Gewicht erhält und der Welt einigen realen Nutzen bringen wird." Als Becker so schrieb, gehörte er zu den rüstigen Vorkämpfern der Internationalen Arbeiterassoziation.

Nach einer Angabe von Engels, von der wir dahingestellt sein lassen, ob sie nicht auf einem Gedächtnisfehler beruht – denn Becker selbst hat niemals etwas davon erwähnt –, hatte dieser bereits dem berühmten Meeting in St. Martin's Hall beigewohnt, von dem die Internationale ihren Anfang nahm. Jedenfalls hatte sie kaum ihre Agitation begonnen, als sich Becker mit Feuereifer ihr anschloss. Er organisierte die deutschen und eingeborenen Arbeiter der romanischen Schweiz und gründete als Organ dieser Gruppe eben den „Vorboten", den er in dem Brief an Sorge erwähnt, eine Monatsschrift, deren sechs Jahrgänge unter den öffentlichen Quellen zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation noch immer an erster Stelle stehen. Ihre kritischen und politischen Artikel sind großenteils von Becker selbst geschrieben; es sind keine stilistischen Meisterwerke, denn er ließ seiner rührigen Feder nur allzu freien Lauf, und da es ihm immer nur auf die Sache ankam, so galt ihm die Form nichts. Aber aus aller Weitschweifigkeit blickt stets wie ein helles und klares Auge ein kerniger Verstand hervor, der sich so leicht kein X für ein U machen ließ.

Ein Kernmensch war Becker in allem. Mit achtzehn Jahren hat er bereits geheiratet, und nicht weniger als 22 Kinder entsprangen der glücklichen Ehe. Natürlich war all sein Lebtag Schmalhans in seinem Hause Küchenmeister. Wenn's gar zu arg kam, wollte er wohl in den Mond auswandern oder spottete sonst mit gutmütiger Selbstironie über seine verzweifelte Lage. Aber den Kopf behielt er immer oben, und es kam ihm gar nicht darauf an, selbst Marx und Engels in derber Weise abzukanzeln, wenn sie die Dinge nicht so rosenrot sahen, wie sie seinem unverwüstlichen Optimismus erschienen.

Ein Hüne von Gestalt, von riesiger Körperkraft, dabei ein schöner Mann, hatte er seinen ungelehrten, aber keineswegs ungebildeten Geist, dank glücklicher Anlage und gesunder Tätigkeit, ebenso harmonisch entwickelt wie seinen Körper. Er war einer von den wenigen Menschen, die nur ihrer eigenen instinktiven Natur zu folgen brauchen, um richtig zu gehen. Daher wurde es ihm auch so leicht, mit jeder Entwicklung der revolutionären Bewegung Schritt zu halten und im achtundsiebzigsten Jahre noch ebenso frisch in der ersten Reihe zu stehen wie im achtzehnten. Der Knabe, der 1814 schon mit den durchziehenden Kosaken gespielt und 1820 Sand, den Erdolcher Kotzebues, hatte hinrichten sehen, entwickelte sich vom unbestimmten Oppositionsmann der zwanziger Jahre immer weiter und stand noch 1886 vollständig auf der Höhe der Bewegung. Dabei war er kein finsterer Gesinnungslümmel wie die meisten ‚ernschten' Republikaner von 1848, sondern ein echter Sohn der heitern Pfalz, lebenslustig, liebte Wein, Weib und Gesang trotz dem Besten. Erwachsen auf dem Boden des ‚Nibelungenliedes', um Worms, sah er noch auf seine alten Tage aus wie eine der Gestalten aus unserem alten Heldengedicht: heiter und spottvoll, den Gegner anrufend zwischen den Schwerteshieben, Volkslieder dichtend, wenn es nichts zu schlagen gab – so und nicht anders muss er ausgesehen haben, Volker der Fiedeler!"1

So hat Engels mit Meisterhand das Bild des alten Becker gezeichnet, und so lebt dies Bild fort im Gedächtnis der deutschen Arbeiterklasse.

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