Franz Mehring 19070930 Julius Motteler

Franz Mehring: Julius Motteler

30. September 1907

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 227, 30. September 1907. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 497-500]

Nicht überraschend, aber dennoch erschütternd kommt die Kunde vom Hinscheiden Julius Mottelers. Er stand an der Schwelle des biblischen Alters und hatte sein Tagewerk vollendet, als ihn der Tod abberief; schon den Anstrengungen und Aufregungen des letzten Reichstagswahlkampfes fühlte er sich nicht mehr gewachsen, und solchen Verzicht spricht so ein wetterharter Kämpfer, wie unser alter Freund war, nicht eher aus, als bis ihm die letzten Kräfte zu versagen drohen. Nur um wenige Monate hat er seinen Rücktritt von der politischen Tätigkeit überlebt.

Mit ihm aber sinkt wieder ein großes Stück der deutschen Arbeiterbewegung ins Grab. Julius Motteler zählte zu den ganz Alten in der Partei, zu denen, die schon politisch tätig waren, ehe es eine deutsche Arbeiterbewegung gab; er gehörte zu den Paten dieser Bewegung, die völlig mit ihr verwachsen waren. Er war ein geborener Schwabe, in Esslingen hat er am 18. Juni 1838 das Licht der Welt erblickt, dann bis zum Jahre 1852 das Pädagogium seiner Vaterstadt besucht und eben hier auch bis zum Jahre 1856 die Tuchmacherei erlernt. Darauf war er einige Jahre lang als Buchhalter und Werkführer in einer Augsburger Tuchweberei tätig, wurde 1859 zur Linie ausgehoben, freigekauft und im Mai desselben Jahres zur Landwehr einberufen, erhielt aber im September die Erlaubnis, als beurlaubt über die württembergischen Grenzpfähle vorzudringen. So kam er nach dem Königreiche Sachsen, wo er seine öffentliche Wirksamkeit begann, ein Jüngling von eben zwanzig Jahren, und wo er sie nach weiten Fahrten durch die Schweiz und England nunmehr beschlossen hat, ein Greis von nahezu siebzig Jahren.

Zunächst nahm er noch als Buchhalter einer Vigognespinnerei eine private Stellung an, die er sieben Jahre bekleidete, bis zum Schluss des Jahres 1866. Aber er wurde jetzt schon Mitglied des Nationalvereins, half den Arbeiterfortbildungsverein in Crimmitschau gründen und ähnliche Vereine in Mittelsachsen; es war die Zeit, wo die deutsche Arbeiterklasse nach den schweren Enttäuschungen der Gegenrevolution sich wieder politisch zu orientieren begann. Halb noch mit Geduld und halb schon mit Widerwillen ertrug sie die Patronage des bürgerlichen Liberalismus über die Arbeiterbildungsvereine, jedoch zunächst sammelte sich nur eine kleine Schar um die Fahne des proletarischen Klassenkampfes, die Lassalle im Jahre 1863 offen entfaltete. Stärker sonderte sich Spreu und Weizen, als Bismarck im Jahre 1866 die Revolution von oben begann; im Herbste dieses Jahres, mitten im großen Abfall der bürgerlichen Klassen, gründete Motteler mit Bebel, Liebknecht, den Brüdern Freytag, Roßmäßler die Sächsische Volkspartei, die mit einem noch radikal-bürgerlichen Programm schon von echt proletarischer Kampflust beseelt war.

Und nun ging es rüstig vorwärts Jahr für Jahr. Nächst und neben der Tätigkeit Bebels war die Wirksamkeit Mottelers der Sauerteig in dem Bunde der deutschen Arbeitervereine, den die Fortschrittspartei im Jahre 1863 als Gegengewicht gegen den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Lassalles gegründet hatte. Auf dem Geraer Vereinstage dieses Bundes, im Herbste von 1867, also gerade vor vierzig Jahren, entrollte Motteler in einem ergreifenden Bericht das namenlose Elend der fabrikmäßigen Kinderarbeit und forderte das rücksichtslose Einschreiten der Staatsgewalt gegen die ausbeutende Macht des Kapitals. Er half so den Bund der Arbeitervereine der kapitalistischen Vormundschaft entreißen; eben hier in Gera schwankte die Wahl zum Vorsitzenden zwischen Bebel und Max Hirsch; Bebel wurde mit namhafter Mehrheit gewählt. Dann ein Jahr darauf nahm der Bund das Programm der Internationalen an, und wieder ein Jahr später, im Herbst 1869, tat er sich als Sozialdemokratische Arbeiterpartei auf. Motteler aber marschierte immer mit an der Spitze des schnellen Vormarsches.

Allein auch noch auf andern Gebieten war er unermüdlich, seine großen organisatorischen Talente zu erproben; in seiner nationalvereinlichen Zeit rief er Konsumvereine ins Leben, dann organisierte er mit Arbeitern, die wegen ihres Anschlusses an die Sächsische Volkspartei gemaßregelt worden waren, eine Spinn- und Webegenossenschaft in Crimmitschau, die ihrerseits wieder etwa fünf Schneiderproduktivgenossenschaften organisieren und mit unterstützen half. Sobald die Sozialdemokratische Arbeiterpartei sich konstituiert hatte – die Eisenacher, wie sie sich im Gegensatze zu den Lassalleanern nannten –, griff Motteler in die gewerkschaftliche Bewegung ein und schuf die Internationale Gewerkschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter. Mit alledem noch nicht zufrieden, hat er damit begonnen, in der Lokalpresse eine neue Waffe der Partei zu schmieden; die Crimmitschauer Genossenschaftsbuchdruckerei, die seit 1870 den von Karl Hirsch redigierten „Bürger- und Bauernfreund" herausgab, war sein Werk.

Im Jahre 1874 wurde Motteler nach Leipzig berufen, um die kaufmännische Leitung des „Volksstaats" und des späteren „Vorwärts" zu übernehmen. In diese Jahre fällt auch seine erste parlamentarische Wirksamkeit; im Januar 1874 wurde er von dem Wahlkreise Zwickau-Crimmitschau in den Reichstag gewählt. Diese Wahlen und die gemeinsame Tätigkeit im Reichstage beseitigten die letzten Steine des Anstoßes, die es noch zwischen den Eisenachern und den Lassalleanern gab; unter den je neun Mitgliedern jeder Fraktion, die im Februar 1875 in Gotha die Bedingungen des Einigungswerks berieten, befand sich auf Seiten der Eisenacher auch Motteler. Er war für den Frieden umso tätiger, je weniger er zu den Heißspornen des Fraktionskrieges gehört hatte. Dann wurde er im Januar 1877 abermals von Zwickau-Crimmitschau in den Reichstag geschickt, aber in den Attentatswahlen von 1878 ging das Mandat verloren, und das Sozialistengesetz legte sich mit bleierner Wucht auf die sozialdemokratische Propaganda in Deutschland.

Auch Motteler wurde durch das Ausnahmegesetz schwer betroffen, doch erhob es ihn bald zur Würde des „roten Postmeisters". Ein Spitzel hat das Wort erfunden, allein wie so oft ist der Schimpf- zu einem Ehrennamen geworden, und unter ihm wird Motteler in der Geschichte der Partei fortleben. Der Posten, den er elf Jahre durch als Leiter erst des Züricher und dann des Londoner Geschäfts verwaltete, war ein Ehren- und Vertrauens-, aber auch ein Sorgenposten im höchsten Sinne des Worts. Was Motteler in dieser Stellung geleistet hat, ist ohne Beispiel ein Vorbild in der Geschichte verfolgter Parteien. Sicherlich hätte er es nicht leisten können ohne die hoch gesteigerte Entwicklung der modernen Verkehrsmittel und namentlich nicht ohne ein ganzes Heer gleich geschickter und zuverlässiger Helfer, unter denen namentlich die Genossen Belli und Schlüter hervorragten. Allein der Feldherr dieses ruhmreichen Feldzugs ist Motteler gewesen; er hat unermüdlich die Spitzelbande mitsamt ihrem Hauptmann Puttkamer aufs Haupt geschlagen. Niemals erklang sein Lob lauter, als wenn Ehren-Puttkamer, wieder und wieder in schimpfliche Flucht geworfen, über die „infernalische Geschicklichkeit" der roten Feldpost jammerte.

Da Kriegsjahre doppelt zählen, so mögen es Puttkamers Erben in ihrer Weise gut gemeint haben, als sie Mottelers übermäßiger Anstrengung von elf Jahren ein stilles Exil von elf Jahren anhängten. Er hat diese Jahre in England verlebt und die Vielseitigkeit der Fähigkeiten, die er in den Dienst der Partei zu stellen wusste, dadurch von neuem betätigt, dass er ihr fleißigster und sorgsamster Archivar wurde. Er sammelte und sichtete unermüdlich, was sich zur urkundlichen Geschichte der deutschen und überhaupt der modernen Arbeiterbewegung auftreiben ließ, und hat sich hierdurch die größten Verdienste erworben.

Er gab diese Tätigkeit auch nicht auf, als ihm im Jahre 1901 die Rückkehr in sein Vaterland möglich wurde. Aber die Leipziger Genossen, die in seinen letzten Jahren das Glück hatten, ihn zu den Ihren zu zählen, beriefen ihn in mehr als ein Ehrenamt; der Stadtkreis Leipzig sandte ihn 1903 in den Reichstag, und auch in der geschäftlichen Leitung unsrer Zeitung hat er an erster Stelle gestanden. Wir alle haben seiner Sitten Freundlichkeit erfahren; um den grundehrlichen und grundgütigen Menschen trauern wir nicht minder als um den politischen Führer, auf den immer, auch in den schwierigsten Situationen, sicherer Verlass war.

Jedoch der Rückblick auf sein fleckenloses und verdienstvolles Leben mildert den Schmerz, und zumeist mag er die Gefährtin seines Lebens trösten, die allen Kampf und Sturm, alle Siege und alle Niederlagen, alles Glück und alles Leid mit ihm in treuer Hingebung geteilt hat. Ein Leben, das fortwirkt im Gedächtnis der Arbeiterklasse, erlischt nicht im Tode, sondern zündet sich von neuem an reinerer Fackel an.

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