Franz Mehring 19111010 Paul Singer

Franz Mehring: Paul Singer

10. Februar 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 649-652. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 489-492]

Erst wenige Monate über ein Jahr sind verflossen, seit an dieser Stelle Paul Singers politisches Werden und Wachsen geschildert wurde, zu Ehren des Tages, an dem er fünfundzwanzig Jahre parlamentarischer Arbeit im Dienste der Arbeiterklasse vollendet hatte. Damals glaubten wir noch eine reiche Zukunft seiner öffentlichen Wirksamkeit vorherzusehen, aber unsere Hoffnungen haben sich leider nicht erfüllt; heute schon müssen wir dies Blatt dankbarer Erinnerung und Verehrung auf die Gruft legen, die sich über seinen sterblichen Resten geschlossen hat.

Einen „alten Demokraten" nannten wir ihn in jenem Artikel, und zwar so, dass wir damit den eigentlichen Grundzug seines Wesens kennzeichnen wollten. Er selbst hat uns noch bestätigt, wie gern er sich so nennen hörte, in dem historischen Sinne, dass der demokratische Gedanke, der ihn seit den Tagen seiner Kindheit beseelte, ihn in ehrlicher und strenger Folgerichtigkeit in die ersten Reihen der Sozialdemokratie geführt hat. Es war eine ununterbrochene Entwicklung, und so lange er auch zu den eifrigsten und erfolgreichsten Führern des proletarischen Emanzipationskampfes gehört hat, so ist er doch erst langsam in ihn hineingewachsen, und auf die Tage seiner Jugend hat er immer gern zurückgeblickt. Manches gemeinnützige Werk auch, an das der Jüngling die schaffende Hand mit anlegte, wie das Asyl für Obdachlose, hat der Greis noch mit aller Liebe und Sorge gepflegt.

Leicht war seine Jugend nicht, und auch von ihm gilt das Dichterwort, dass er sich seinen steilen und rauen Lebensweg mit eigener Hand gehauen hat. Obgleich er der Geburt nach nicht zur Arbeiterklasse, sondern zum kleinen Bürgertum gehörte, so hat er doch nur, wie jedes Proletarierkind, bis zum vierzehnten Jahre den Schulunterricht genossen; er zählte erst vier Jahre, als sein Vater starb, und zwar keine irdischen Glücksgüter, aber eine zahlreiche Kinderschar hinterließ. Im Schatten der Armut ist Paul Singer aufgewachsen, und bescheiden genug begann er als Lehrling in der Schnittwarenhandlung eines alten braven Demokraten, den wir noch oft in behaglicher Laune haben rühmen hören, wie stolz er darauf sei, dies „Früchtchen" herangezogen zu haben. Jedoch hatte Berlin in der Jugend Paul Singers noch einen überwiegend kleinbürgerlichen Zuschnitt; einer frischen und rüstigen Kraft mochte es eher gelingen, als es heute möglich wäre, auf der sozialen Stufenleiter empor zu klimmen; die bürgerliche Tugend hatte noch einen gewissen Kurswert, und man konnte Millionär werden, ohne das Zuchthaus mit dem Ärmel zu streifen.

Millionär ist Paul Singer unseres Wissens nicht geworden, aber als fünfundzwanzigjähriger Mann konnte er, gemeinsam mit seinem etwas älteren Bruder Heinrich, mit dem ihn, ebenso wie mit seinen zahlreichen Schwestern, stets die innigste Lebensgemeinschaft verknüpft hat, ein eigenes Geschäft begründen, das sich durch eine strenge Solidität schnell einen angesehenen Namen in der kaufmännischen Welt erwarb. Aber zu gleicher Zeit half Singer, einen demokratischen Arbeiterverein ins Leben zu rufen, im Gegensatz zu dem Arbeiterverein der Fortschrittspartei, den die kapitalistische Phrase beherrschte, und die Rücksicht auf sein junges Unternehmen hinderte ihn nicht, im September 1870 einen Protest gegen die Annexion Elsass-Lothringens zu unterzeichnen, obgleich dieser Protest nur hundert Unterschriften fand und jeden Unterzeichner um so leichter den patriotischen und polizeilichen Spürnasen anzeigte.

Es war ihm immer verzweifelter Ernst mit seiner demokratischen Gesinnung, und er hat die Fahne der bürgerlichen Demokratie nicht verlassen, bis sie für immer in den Staub sank. Aber eben weil er Demokrat vom Scheitel bis zur Sohle war, hatte er sich nie gegen die soziale Demokratie verschlossen; er hatte allemal ein offenes Auge für ihre Forderungen gehabt und an seinem Teil stets Schulter an Schulter mit ihr gekämpft. So kam er nun zu ihr, nicht wie ein verzweifelter Flüchtling von einem verlorenen Schlachtfeld, sondern, um nochmals ein Dichterwort anzuziehen, „ein anderer und doch derselbe". Und schneller noch, als es in ruhigeren Tagen vielleicht geschehen wäre, verschmolz die heiße Glut des Sozialistengesetzes sein Leben mit den Schicksalen des proletarischen Emanzipationskampfes.

Paul Singer hat diesem Kampfe nicht nur sein Vermögen geopfert – heute vom Mammon viel zu reden wäre sicherlich am wenigsten im Sinne unseres toten Freundes –, sondern er gab ihm – und das war ungleich mehr –, was er sich in einem arbeitsamen und bewegten Leben an geistiger und körperlicher Kraft erworben hatte. Er lebte und webte nur noch in der Partei und hat unvergessliche Arbeit für sie getan. Wie Friedrich Engels und Ferdinand Freiligrath kam er vom Kaufmannsstand zur Sache des Proletariats, aber wenn er weder ein Denker wie Engels, noch ein Dichter wie Freiligrath war, so war er in seiner Art doch ebenso hervorragend als praktischer Politiker. Unerschütterliche Kaltblütigkeit, weite Umsicht, klare und schnelle Disposition, alle die Fähigkeiten, die er in seinem bürgerlichen Beruf erworben hatte, verwandte er meisterhaft im Dienste der Partei; was er als Gründer ihres Zentralorgans, als Berliner Stadtverordneter, als Reichstagsabgeordneter, als Vorsitzender der Parteitage geleistet hat, das steht in ihren Jahrbüchern mit Lettern geschrieben, die nicht verlöschen werden.

Wie alle, die von der bürgerlichen Linken zur Partei gekommen sind, stand Singer auf der Seite, die man die „radikale" zu nennen pflegt; wer der ewigen Nachgiebigkeiten und Zugeständnisse überdrüssig geworden ist, wird immer gerechte Scheu empfinden, dies verfängliche Gebiet von neuem zu betreten. Und Singer dachte viel zu klar über die historischen Bedingungen des proletarischen Klassenkampfes, um nicht zu wissen, dass dieser Kampf bis zum letzten Ende durchgekämpft werden muss. Gleichwohl besaß er das Vertrauen der ganzen Partei, da er seiner sachlichen Entschiedenheit jede persönliche Schärfe fernzuhalten wusste. Nichts törichter, als wenn ein bürgerliches Blatt aus der Tatsache, dass er in der Partei die allgemeinste Sympathie genoss, die Schlussfolgerung zieht, dass Singer kein „ausgeprägter Charakter" gewesen sei, denn „ausgeprägte Charaktere" hätten immer Gegner. Das mag für bürgerliche Parteien gelten, die vom Cliquengeist zerfressen sind; in der Sozialdemokratie bewährt sich die Eigenart der Charaktere nicht am Übelwollen der Freunde, sondern am Hass der Feinde.

Und dieser Hass gehört zu den nicht am wenigsten stolzen Ehrentiteln Singers. Wohl haben auch viele bürgerliche Gegner, die ihn und sein Schaffen in der Nähe beobachten konnten, ihm ihre Achtung bezeigt, vor seinem Tode wie nach seinem Tode, aber im Großen und Ganzen ist seit einem Menschenalter kein sozialdemokratischer Politiker so heftig und namentlich auch so gemein geschmäht worden wie er. Und selten genug war es eine ehrliche Abneigung, die man verstehen konnte, denn eben weil Singer ein „ausgeprägter Charakter" war, hatte er seine scharfen und schroffen Seiten; er mochte nicht im landläufig-oberflächlichen Sinn ein liebenswürdiger Schwerenöter sein, was Männer, die sich ihr Schicksal selbst geschaffen haben, überhaupt nicht zu sein pflegen. Man versteht es auch wohl, wenn der freisinnige Goethe-Kenner Victor Hehn in seinen gedruckten Briefen sich missliebig über Singer äußert – beide waren durch Guido Weiß miteinander bekannt geworden und tranken gelegentlich einen gemeinsamen Abendschoppen bei Hausmann oder Siechen -; einen Kommentar zu Goethes „Faust" zu schreiben entsprach gewiss sowenig den Fähigkeiten wie den Neigungen Singers.

Aber selbst wenn man so viele mildernde Umstände zusammenträgt, wie es deren nur geben mag, so würde das jahrzehntelange Schmähkonzert der reaktionären Presse gegen Singer dennoch unbegreiflich sein, wenn es sich nicht schließlich erklären würde aus der unstillbaren Wut darüber, dass ein Mann, dem die kapitalistische Produktionsweise buhlerische Liebesblicke gespendet hatte, gleichwohl an der Spitze ihrer Todfeinde kämpfte. So hat man unserem Freunde, der all sein Lebtag kleinbürgerliche Lebensgewohnheiten gehabt hat, allerlei bourgeoise Sitten angedichtet, um einen Gegensatz zwischen Leben und Lehre zu konstruieren, der nie bestanden hat. Man rechnete dabei auf das unausrottbare Pharisäertum des deutschen Philisters, dem sich alle Haare in sittlicher Entrüstung sträuben, wenn einem öffentlichen Charakter nachgeschwatzt wird, was als menschliche Schwäche aufgemutzt werden kann, wobei denn noch obendrein aufs Ungenierteste mit zweierlei Maß gemessen wird, Wenn der bürgerliche Sittlichkeitsapostel Treitschke in seinem Aufsatze über Cavour schmunzelnd von den „lockeren Junggesellensitten" dieses liberalen Ministers erzählt, die noch in späteren Jahren, wenn ein Redner leise darauf anspielte, die Heiterkeit des Parlamentes erregt hätten, so drischt die Scharfmacherpresse noch in ihren Nekrologen auf Singer dasselbe Stroh mit der komischen Gravität bärbeißigen Germanentums. Jedoch wenn einem dieser Organe bei Singers Tod ein wenig das Gewissen schlug, so dass es meinte, er sei doch wohl ein wenig zu viel gelästert worden, so muss man dieser Sorte einfach erwidern: Noch lange nicht genug! Denn die Berge von Schmähungen, die die giftigsten Gegner der Arbeitersache auf Singer häuften, waren für die Arbeiter selbst nur ein Maßstab, woran sie seine Verdienste um ihre Klasse maßen.

Doch genug von diesen Schmähungen, aber auch genug des Lobes. Paul Singer hat Großes genug geleistet, um sein Urteil nur aus der Hand der Geschichte zu empfangen, und vor deren Richterstuhl wird sein Andenken in Ehren bestehen.

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