Franz Mehring 19111208 Paul und Laura Lafargue

Franz Mehring: Paul und Laura Lafargue

8. Dezember 1911

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 337-343. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 478-485]

In wenigen Wochen, am 15. Januar des kommenden Jahres, kehrt der Tag wieder, an dem Paul Lafargue vor siebzig Jahren geboren wurde.

Während wir uns rüsteten, den festlichen Tag zu feiern, vor allem auch in den Spalten der „Neuen Zeit", zu deren ältesten und verdientesten Mitarbeitern Paul Lafargue gehört hat, ereilt uns die erschütternde Kunde, dass er, gemeinsam mit der treuen Gefährtin seines Lebens, in der Nacht vom 25. auf den 26. November den freiwilligen Tod gesucht hat: ehe ihm, wie er in einem hinterlassenen Schreiben sagt, das unerbittliche Greisenalter die Freuden des Daseins, eine nach der anderen, entreißt, ihn der geistigen und körperlichen Kräfte beraubt, seine Energie lähmt und seinen Willen bricht, ihn zur Last für sich selbst und die anderen macht.

Eine erschütternde und doch auch, wie Jean Jaurès in seinem Nachruf nicht mit Unrecht sagt, eine verwirrende Kunde! Denn mehr als je gilt von dem proletarischen Emanzipationskampf, dass der Dienst der Freiheit ein strenger Dienst ist, der auch dem reich mit Lorbeeren geschmückten Veteranen nicht gestattet, seinen Posten zu verlassen, solange ihn noch ein Hauch von Kraft beseelt. Und welche Fülle der Kraft lebte noch in diesem jugendlichen Greise, welch unverwüstliche und zähe Energie, die ihn seit Monaten und seit Jahren furchtlos dem Tode ins Auge blicken und doch jede große wie kleine Pflicht des Tages sorgsam erfüllen ließ, als läge noch ein langes Leben vor ihm! Sein Tod selbst zeugt wider ihn, wie seine großen Führer und Lehrer wider ihn zeugen, die auch die Beschwerden des Alters nicht scheuten, um ihrer großen Sache zu dienen bis zum letzten Atemzug. Aber nur dem strengen Urteil der Geschichte steht das Recht zu, diesen Toten nach so großen Verdiensten einer letzten Schuld zu zeihen; seinen überlebenden Waffengefährten fehlt dies Recht, denn keiner von ihnen weiß, ob er dem Tode eine gleich stoische Verachtung bezeigen wird; uns bleibt nur die Pflicht, wie der deutsche Dichter des Proletariats einmal sagt:

Seinem Irren zu vergeben, sein Verstummen zu beweinen.

In Paul Lafargue mischte sich das Blut dreier unterdrückter Rassen: Die Mutter seines Vaters war eine Mulattin, von den Eltern seiner Mutter war der Mann ein Inder, die Frau eine karibische Indianerin. So heißt es in den französischen Nachrufen, die wir weder bestätigen noch bestreiten können. Sicher ist nur, dass Lafargue Negerblut in den Adern hatte, wovon er selbst gern sprach und wovon auch der matte Teint und die großen weißen Augäpfel des sonst sehr regelmäßig geschnittenen Gesichts beredtes Zeugnis ablegten. Und nur diese Blutmischung hat eine gewisse Bedeutung für das Wesen des Mannes gehabt; auf sie mag seine geistige und körperliche Gesundheit, seine große Sorglosigkeit, die sich vielleicht noch in der Art seines Todes bekundet hat, und auch ein gewisses Maß von Hartnäckigkeit zurückführen, das Marx und Engels gar manches Mal zu ärgerlich-lustigem Spotte über den „Niggerschädel" veranlasst hat.

Geboren in Santiago auf der Insel Kuba, kam Lafargue im Alter von neun Jahren nach Frankreich und machte hier seine Studien für den ärztlichen Beruf. In der Mitte der sechziger Jahre gehörte er zu der studentischen Opposition gegen das zweite Kaiserreich, zu den „Löwen vom Quartier Latin", die Rogeard besang:

Fünf Könige sind's, die er zerrissen In des Jahrhunderts langer Qual;

Für so viel Hass ein schmaler Bissen, Und Zeit ist's für ein neues Mahl.

Wohlan, schon winkt der längst erharrte, Und sein Gebiss, das dräuend klafft,

Zeigt keine Scharte; Ihn hungert auf den Bonaparte, Den Löwen der Studentenschaft.

Viele dieser Löwen sind im Laufe der Jahre sehr zahm geworden, so zahm, dass sie selbst das Fell des russischen Bären teilten. Lafargue aber zog ein besseres Los. Seine Beteiligung an dem Studentenkongress zu Lüttich, im Oktober 1865, verschloss ihm alle Universitäten Frankreichs; er ging nun nach London, um seine medizinischen Studien zu vollenden und den Doktorgrad zu erwerben. Vorher hatte er jedoch schon Karl Marx kennen gelernt, als er im Februar 1865 einen Besuch in London abstattete, um dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation, die im September 1864 gegründet worden war, über deren Fortschritte in Frankreich zu berichten. Tolain, der an der Spitze der französischen Arbeiterbewegung stand, die er in den Tagen der Pariser Kommune verriet, um es dafür bis zum Senator der Bourgeoisrepublik zu bringen, hatte ihm eine Empfehlungskarte an Marx gegeben. Wie Tolain selbst, war der junge Lafargue damals ein Anhänger Proudhons, und er pflegte gern zu erzählen, dass er die Karte an Marx nur aus einer einfachen Rücksicht der Höflichkeit abgegeben habe.

Aber bald erkannte er, dass Proudhon nur die Vergangenheit, Marx jedoch die Zukunft vertrete. Freilich scheint sich der jugendliche Feuerkopf nicht sofort gefangen gegeben zu haben; dafür hat Marx selbst ein ergötzliches Zeugnis abgelegt. „Dieser verdammte Schlingel Lafargue belästigt mich mit seinem Proudhonismus und wird wohl nicht eher ruhen, bis ich ihm einmal tüchtig etwas auf seinen Kreolenschädel gegeben habe"1, schrieb Marx im März 1866 aus einem englischen Seebad nach London an seine Tochter Laura, die sich ein Jahr darauf mit Lafargue verlobte. Die Hochzeit fand im Frühjahr 1868 statt und führte zur glücklichsten Ehe, deren vollkommene Harmonie nun auch durch den gemeinsamen Tod besiegelt worden ist. Getrübt wurde sie nur durch den Tod zweier Kinder in frühem Alter; seitdem gab Lafargue seine ärztliche Tätigkeit auf, die ihm durch diesen schweren Schicksalsschlag verleidet worden war; er meinte, ohne ein gewisses Maß von Scharlatanerie sei sie nicht auszuüben.

An dem Aufstand der Pariser Kommune, in deren Rat viele seiner persönlichen Freunde saßen, nahm Lafargue regen Anteil. In ihrem Auftrag sollte er das westliche Frankreich insurgieren, und er gab für diesen Zweck eine Zeitung in Bordeaux heraus, doch scheiterte die Mission aus Gründen, die zu bekannt sind, als dass sie hier auseinandergesetzt zu werden brauchten. Durch die Flucht über die spanische Grenze entging Lafargue den Schergen der wütenden Bourgeoisie, die darauf seine Auslieferung verlangte, aber damit bei dem Ministerium Castelar abblitzte. In Spanien widmete sich Lafargue sofort wieder der sozialistischen Propaganda, gemeinsam mit Pablo Iglesias, namentlich im Kampfe mit dem Bakunismus, dessen sie doch nicht Herr wurden. Nach dem Haager Kongress, dem letzten der Internationalen Arbeiterassoziation, für den ihm spanische und portugiesische Sektionen ein Mandat übertragen hatten, siedelte Lafargue nach London über, wo er in den siebziger Jahren sich kümmerlich durchschlug, als Inhaber eines photo-lithographischen Ateliers.

Seine eigentlich historische Wirksamkeit, die ihm ein unvergängliches Andenken in den Jahrbüchern der internationalen Sozialdemokratie sichert, begann mit dem Anfang der achtziger Jahre, als die französische Arbeiterbewegung zu neuem Leben erwachte und ihm die Amnestie die Rückkehr nach Frankreich ermöglichte. In dem Menschenalter, das seitdem verflossen ist, verflicht sich das Leben Lafargues so eng mit dem Leben der französischen Schwesterpartei, dass man das eine ohne das andere nicht schildern kann. Aufs glücklichste ergänzte Lafargue sich mit Jules Guesde, der ihm als Agitator und Redner überlegen, aber als Theoretiker nicht gewachsen war. Gemeinsam mit Karl Marx entwarfen beide im Jahre 1880 das Programm der marxistischen Partei, der Parti ouvrier francais2.

Sie begannen dann eine rastlose Agitation, die ihnen bereits im Jahre 1883 je sechs Monate Gefängnis eintrug. Einige Jahre darauf verfiel Lafargue allein noch einmal der Klassenjustiz. Die Maifeier des Jahres 1891 hatte in Fourmies einen von Alkohol und Patriotismus trunkenen Offizier zu einem Massaker verleitet, an dem die feiernden Arbeiter so unschuldig waren, dass selbst die Kammer 50 000 Franken für die Familien der niedergemetzelten Arbeiter auswarf und die sofortige Freilassung der zahlreichen Gefangenen verlangte. Um nun die „Ehre der Armee" zu retten, strengte die Regierung einen skandalösen Prozess gegen Lafargue an, der ein paar Wochen vorher in Fourmies und einigen umliegenden Ortschaften für die Maifeier agitiert hatte. Er sollte in seinen Reden zur Ermordung der Fabrikanten aufgefordert haben, und in einem Gerichtsverfahren, das an Häufung von Fälschungen und Meineiden sich mit dem Kölner Kommunistenprozess messen konnte, gelang es in der Tat, den bürgerlichen Geschworenen ein Schuldig zu entreißen. Lafargue wurde zu einem Jahre Gefängnis verurteilt.

Aber das Verdikt der Geschworenen wurde kassiert durch das allgemeine Stimmrecht. Bei einer Ersatzwahl in Lille erhielt Lafargue das Mandat, das bisher ein radikaler Deputierter besessen hatte, obgleich die Regierung wiederum vor keinem noch so schoflen Mittel zurückschreckte, seinen Sieg zu hindern. Entgegen der Praxis, die selbst unter dem zweiten Kaiserreich beobachtet worden war, weigerte sie sich, ihn während der Wahlperiode aus dem Gefängnis zu entlassen, und sie bestritt ihm die Staatsangehörigkeit, auf die hin sie zwanzig Jahre früher seine Auslieferung von Spanien verlangt hatte. Keine Verleumdung wurde von den Pressorganen der Regierung verschmäht gegen den „Fremden", „den Schwiegersohn des Preußen Marx", der in sein „würdiges Vaterland" zurückgeschleudert werden müsse. Trotz alledem wurde Lafargue gewählt; erst bei den allgemeinen Neuwahlen des Jahres 1893 gelang es der Regierung, durch eine heimtückische Wahlkreisgeometrie den unbequemen Gegner zu beseitigen. Nicht zum Kummer Lafargues, dessen parlamentarische Tätigkeit sich auf diese paar Jahre beschränkte, in denen er, wie Engels von ihm rühmte, „seine Diäten und seinen Eisenbahnfreipass [benutzte], um das ganze Land zu bereisen, von Lille bis Toulouse aufzuregen, und mit brillantem Erfolg"3. Lafargue verkannte keineswegs den Nutzen, den der bürgerliche Parlamentarismus für die Emanzipation der Arbeiterklasse hat, soweit denn dieser Nutzen reichen mag, aber er war eine viel zu selbständige und ursprüngliche Natur, um sich gern in den parlamentarischen Trott zu schicken.

Man braucht die agitatorisch-rednerischen Leistungen Lafargues nicht zu unterschätzen, um doch zu sagen, dass er in erster Reihe Schriftsteller war, dass sich sein Geist auf literarischem Gebiet am eigentümlichsten und reizvollsten entfaltete, dass auf diesem Gebiet die Spur von seinen Erdentagen am längsten dauern wird. Und insofern darf die „Neue Zeit" mit gerechtem Stolze sich rühmen, dass er fast ein Menschenalter hindurch ihr sein Bestes gegeben hat. Lafargue hat multa geschrieben, aber auch multum, vielerlei, aber doch auch viel. Wie ihn sein medizinisches Studium auf dem Gebiet der Naturwissenschaft heimisch gemacht hatte, so hatte ihn ein so unvergleichlicher Lehrer wie Marx durch das Gebiet der Geisteswissenschaft geleitet. Er war in vielen Sätteln gerecht. Ob er sich nun in gründlichen Untersuchungen über die amerikanischen Trusts oder die ökonomischen Funktionen der Börse verbreitete, ob er die scharf geschliffenen und zierlich befiederten Pfeile seiner Satire im „Recht auf Faulheit", im „Verkauften Appetit", im „Herrn Geier" verschoss, ob er kritische Studien über die Anfänge der Romantik im Zeitalter der großen französischen Revolution, über Victor Hugo, Daudet, Zola schrieb oder ob er die abstrakten Ideen, die Idee des Guten, die Ideen des Gerechten und Ungerechten, den Begriff der Seele bis ins Dunkel der Vorzeit verfolgte – schwerlötig blieben seine Arbeiten immer.

Sie ihren Titeln nach hier alle aufzuzählen hätte keinen Zweck, zumal da viele von ihnen namentlich den älteren Lesern der „Neuen Zeit" noch gegenwärtig sein werden. Von ihnen gilt, was Ossip Zetkin schon vor mehr als zwanzig Jahren über sie schrieb: „Sie verfallen nie einem abstrakten und schwerfälligen Doktrinarismus, sie sind voller Leben und Bewegung, und bei aller theoretischen Haltung voll von Beziehungen zu den praktischen Fragen der Gegenwart." Lafargues eigene Landsleute, und keineswegs bloß ihm freundlich gesinnte, haben ihn als Schriftsteller mit Diderot verglichen. Und in der Tat war Lafargue halb Feinschmecker, halb Volkslehrer, war er ein geborener Dialektiker, ein Diderot. Die eigentümliche Gabe des dialektischen Denkens, die sich durch keinen Scheffel sauren Schweißes erwerben lässt, ist es denn auch wohl gewesen, die das geistige Band zwischen Lafargue und Marx am ehesten und festesten geknüpft hat; die historisch-materialistische Methode wurde das Werkzeug, mit dem Lafargue in all seinen historischen, literarischen, ökonomischen Untersuchungen gearbeitet hat.

Das Werkzeug – ich möchte sagen, wenn es nur nicht in anderem Sinne missverständlich wäre: in handwerksmäßigem Sinne. Lafargue hat sich niemals, wie leider manche andere Marxisten, von den bürgerlichen Gegnern auf das Glatteis philosophischer Haarspalterei über den Begriff des historischen Materialismus verlocken lassen: mit gutmütigem Spotte fragte er, was man wohl von einem Tischler sagen würde, der am Hammer mäkeln wollte, statt ihn zu gebrauchen. „Der könnte lange schimpfen, denn vollkommenes Werkzeug gibt es eben nicht." Lafargue orakelte nicht über den Begriff des Hammers, sondern nahm den Hammer am Griff und schlug den Nagel auf den Kopf. Mitunter auch wohl daneben. Aber eine historische Methode kann nie so genaue Ergebnisse liefern wie ein chemisches Experiment, und wenn Lafargue ein Phantast gescholten worden ist, so hätte er mit Fug erwidern können, dass ein Historiker ohne Phantasie ein krüppelhaftes Wesen sei. Übrigens hat sich dieser angebliche Phantast in mancher seiner Schriften, so noch im „Herrn Geier", einer beißenden Satire auf den großstädtischen Bodenwucher, sogar als ein sehr geschäftskluger Kopf erwiesen.

Eher lässt sich der Vorwurf der Paradoxie hören, der ebenfalls oft gegen Lafargue erhoben worden ist. Er war freilich paradox wie Diderot; er hatte einen eigenen Kopf und eigene Gedanken. Niemand konnte tiefer als er von der Überzeugung durchdrungen sein, dass die Solidarität der Arbeiterklasse ihre wirksamste Waffe ist, und in allen entscheidenden Augenblicken ist er dieser Überzeugung gefolgt. Allein, deshalb huldigte er nicht dem trostlosen Glauben, dass sich das geistige Leben einer Arbeiterpartei immer in ausgefahrenen Geleisen bewegen müsse. Auf seine Paradoxien kann man die Sätze anwenden, mit denen schon der junge Lessing die Paradoxien Diderots verteidigt hat: „Seine Träume oder Wahrheiten, wie man sie nennen will, werden der Gesellschaft ebenso wenig Schaden tun, als vielen Schaden ihr diejenigen tun, welche die Denkungsart aller Menschen unter das Joch der ihrigen bringen wollen." Der beschränkte Obrigkeitsverstand hat in aller menschlichen Gesellschaft immer viel größeres Unheil angerichtet als der beschränkte Untertanenverstand, und von der freiwilligen Disziplin des modernen Proletariats unterscheidet er sich wie das höckerige Kamel vom edlen Rosse.

Wie die Diderot und die Lessing gehörte Lafargue zu den Schriftstellern, denen ungleich mehr daran liegt, die Gedankenarbeit ihrer Leser anzuregen, als vor ihnen den Schulsack der eigenen Weisheit bis aufs letzte Schnipfelchen auszuschütten. Und er teilte mit ihnen den durchsichtigen und klaren Stil sowie den feinen Geschmack, womit er die Früchte seines Nachdenkens darbot, ohne den Schweiß und Staub der Werkstatt. Von Kant trennte ihn schon dessen düstere und verkrachte Schulsprache. Er hat diesen Philosophen einmal einen „bürgerlichen Sophisten" genannt, was im Munde einer so echten Kampfnatur nicht einmal so uneben war: In dem einzigen ernsthaften Konflikt seines Lebens sowie in den Ratschlägen, die er den Aufklärern seiner Zeit erteilte, ist Kant wirklich nicht mehr als ein bürgerlicher Sophist gewesen. Immerhin – kaum war das allzu kecke Wort dem Gehege seiner Zähne entflohen, als Lafargue, wie ich aus brieflichen wie mündlichen Äußerungen von ihm weiß, sich deshalb zu beunruhigen begann, und es ist ein schönes Zeugnis für seine Gewissenhaftigkeit, dass er sich alsbald daranmachte, in seiner Abhandlung über das „Problem der Erkenntnis", einer seiner letzten und reifsten Arbeiten, die Kantische Philosophie in ihrem Schwerpunkt einer sachlich so eindringenden wie formell maßvollen Kritik zu unterziehen.

Eine würdige Lebensgefährtin dieses Mannes war die Tochter von Karl Marx. Sie hat alle Kämpfe und Leiden mit ihm geteilt; erst nach ihrer silbernen Hochzeit schuf ihnen ein Erbteil von Engels eine sichere Existenz. Sie kauften dafür ein Landhaus in der Nähe von Paris, doch ist es eine Verleumdung bürgerlicher Gegner, als hätten sie nunmehr das behagliche Dasein von Rentiers geführt. Um das ländliche Anwesen mit geringen Hilfskräften im Gange zu erhalten, hatten sie redlich schaffen müssen; drohnenhaften Müßiggang haben sie nie gekannt.

Um die Arbeiterbewegung hat sich Laura Lafargue jedoch nicht nur als verständnisvolle Gefährtin ihres Mannes, sondern auch dadurch verdient gemacht, dass sie mehrere Werke ihres Vaters vortrefflich ins Französische übersetzte und dessen literarischen Nachlass in großem Sinne verwaltete. Erst vor wenigen Jahren gab sie die „Kritik der politischen Ökonomie" von 1859 in einer Übersetzung heraus, die glücklich alle wahrlich nicht geringen Schwierigkeiten überwunden hat; nur an der „Heiligen Familie" drohten ihre Kräfte zu erlahmen, wie sie mir einmal klagte. Jedoch wie ich einer Mitteilung des Genossen Bracke in unserem Pariser Parteiblatt entnehme, ist sie auch damit fertig geworden. Eine echte Tochter ihres Vaters war sie auch als Verwalterin seines Nachlasses. Sie hegte gewiss eine gründliche Abneigung gegen alle Versuche, an dem Lebenswerk von Marx und Engels mit grund- und ziellosen Zweifeln herumzunörgeln, aber der Kritik derer, denen sie zutraute, dass sie redlich auf der von Marx und Engels gelegten Grundlage fortbauen wollten, hat sie nie auch nur einen Strohhalm in den Weg gelegt. Ihnen bewies sie stets ein großherziges Vertrauen ; so wählte sie mich zum Herausgeber der Briefe Lassalles an ihren Vater, obgleich sie wusste, dass ich über Lassalle wesentlich anders dachte als Marx und Engels.

Sie hat kein schriftliches Zeugnis hinterlassen, weshalb sie freiwillig aus dem Leben schied; wir müssen annehmen, dass sie den Mann nicht überleben wollte, mit dem sie mehr als vierzig Jahre gemeinsame Schicksale geteilt hat. Aber dann hat sie dem Tode mit so stoischem Gleichmut ins Auge gesehen wie ihr Gatte. In einem lebhaften Briefwechsel, den ich gerade im letzten Jahre über Veröffentlichungen aus dem Nachlass ihres Vaters führte, traf sie kluge Dispositionen auf Jahre hinaus, und noch am Tage vor ihrem Tode sandte sie mir einen herzlichen Glückwunsch zur Genesung von schwerer Krankheit. Sie hatte die Güte, hinzuzufügen: „Wir beglückwünschen uns selbst dazu nicht minder; Ihre Abwesenheit von der ‚Neuen Zeit' war mir sehr lang erschienen." Und nun sind die ersten Zeilen, die ich seit diesem Brief für die „Neue Zeit" schreibe, ein Nachruf für die edle und tapfere Frau geworden!

In ihrem privaten Leben waren beide von großer Herzensgüte, aufrichtige Charaktere, noble Naturen. Und wir trauern um sie mit jenem Worte Epikurs, das Karl Marx gern anzuführen pflegte: Der Tod ist kein Unglück für den, der stirbt, sondern für den, der überlebt.

1 Marx an seine Tochter Laura in London, 20. März 1866. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 31, S. 508.

2 Parti ouvrier francais - französische Arbeiterpartei.

3 Engels an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken, 5. März 92. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 38, S. 289.

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