Franz Mehring 19020200 Die deutsche Kolonie

Franz Mehring: Die deutsche Kolonie1

1902

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Zweiter Band, Stuttgart 1902, S. 13-28. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 153-168]

Ehe ich zu den „Kritischen Randglossen" übergehe, die Marx im Pariser „Vorwärts!" gegen Ruge veröffentlichte, ist es notwendig, über Ruge und den „Vorwärts!" selbst ein wenig ausführlicher zu handeln, sintemalen dieser Acker gleich von zwei deutschen Professoren, G. Adler und P. Nerrlich, mit reichlichem Schwindelhafer bestellt ist.

Nach P. Nerrlich ist der Zwist zwischen Ruge und Marx dadurch entstanden, dass Marx sich wie ein „ganz gemeiner Kerl" und „unverschämter Jude" benommen habe, nachdem er von Ruge durch Geldmittel und Empfehlungen unterstützt worden sei. P. Nerrlich hat diese Enthüllung der Berliner Philosophischen Gesellschaft in einer angeblichen Gedenk- und tatsächlichen Schmährede auf Engels gleich nach dessen Tode gemacht, wobei ich nicht unterlassen will zu bemerken, dass die Philosophische Gesellschaft ihrerseits, wie mir ihr Vorsitzender, Herr Lasson, mitzuteilen die Freundlichkeit gehabt hat, jede Verantwortung für das auf ihre philosophische Würde gemachte Attentat ablehnt. P. Nerrlich stützt nun seine Anklagen gegen Marx auf die höchst einseitigen Behauptungen Ruges, dessen Briefwechsel er in beiläufig sehr nachlässiger Weise herausgegeben hat.

Schlägt man dieses Buch nach, so berichtet Ruge am 15. Mai an Ludwig Feuerbach, am 19. Mai an seine Mutter, eine brave Pächterswitwe von der Insel Rügen, und am 20. Mai an den Gymnasiallehrer Moritz Fleischer in Cleve über seinen Zwist mit Marx. Die drei Briefe unterscheiden sich in sehr charakteristischer Weise voneinander. Am schärfsten gegen Marx geht der Brief an die Mutter ins Zeug; Marx sei vor Hochmut und Galle toll, es ärgere ihn, dass Ruges Name auf dem Titel der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" voranstehe, dass Ruge ihn gewissermaßen ins Publikum eingeführt habe und was der kläglichen Klatscherei ist. Hoffentlich wird der alten Dame, die von Marx soviel wusste wie vom Manne im Monde, die tröstliche Überzeugung eingeflößt worden sein, dass nur böse Menschen ihren Arnold ärgern könnten. Umso zurückhaltender sind Ruges Klagen in dem Briefe an Fleischer, der mit Marx persönlich befreundet war; Ruge sagt hier nur: „Mit Marx seh ich mich leider gar nicht. Er ist mir aufs äußerste aufsässig, ohne, wie es scheint, recht zu wissen, warum? Ich meinerseits warte ruhig das Ende dieser Raserei ab." Eine angenehme Mittellinie hält der Brief an Feuerbach inne, der zwar persönlich nicht mit Marx zusammengekommen war, aber seine wissenschaftliche Bedeutung wohl zu schätzen wusste. Da diese Schilderung des damaligen Marx auch sonst ihr Interesse hat, gebe ich sie ausführlich, wobei ich des Zusammenhangs wegen einige Sätze wiederhole, die ich schon in meiner Parteigeschichte zitiert habe.

Ruge schreibt also: „Marx, mein Mitredakteur, kämpfte immer mit Verlegenheiten und erwartete mit Unrecht seine Hilfe von dem Unternehmen. Alsdann ist er eine eigene Natur, die ganz zum Gelehrten und Schriftsteller geeignet, aber zum Journalisten vollständig verdorben ist. Er liest sehr viel; er arbeitet mit ungemeiner Intensität und hat ein kritisches Talent, das bisweilen in Übermut ausartende Dialektik wird, aber er vollendet nichts, er bricht überall ab und stürzt sich immer von neuem in ein endloses Büchermeer. Er gehört seiner gelehrten Disposition nach ganz der deutschen Welt an, und seiner revolutionären Denkweise nach ist er von ihr ausgeschlossen. Ich habe schon lange ein lebhaftes Interesse an ihm gewonnen, und es ist mir jetzt die Unannehmlichkeit widerfahren, dass gerade dies mich mit ihm entzweit hat. Unwillkürlich musste ich mich dabei an Daumer und dessen exzessive Empfindlichkeit erinnern; Marx ist womöglich noch gereizter und heftiger, am meisten, wenn er sich krank gearbeitet und drei, ja vier Nächte hintereinander nicht ins Bett gekommen ist." Folgen einige Angaben über die Entstehung der „Deutsch-Französischen Jahrbücher", die ich in der Einleitung zum vierten Teile dieser Sammlung bereits mitgeteilt habe.2 „Vom Oktober an hat auch Fröbel bezahlt, was er stipuliert hatte, endlich, was hier das Büro an Schriftsteller- und Redaktionshonorar schuldig war, ist zuerst an Marx, der es am dringendsten brauchte, entrichtet, sodann sind hier so viele Exemplare verkauft, dass die übrigen Teilnehmer und ich selbst bereits fast ganz zu ihren Forderungen gelangt sind. Aber die ganze Sache ist fehlgeschlagen, und obgleich ich Fröbel sechstausend Taler dazu geborgt habe, indem ich mit ihm in das Züricher Literarische Kontor als Kommanditär eingetreten bin, obgleich ich diese Summe und dazu die Einnahme von dem Journal nun verloren habe, was hier in Paris eine empfindliche Sache ist, so macht nun Marx mir den Verlauf dieser Angelegenheiten zum Vorwurf und verlangt so zirka, ich solle fortfahren, ,Buchhändler zu sein, was ich durch die Verbindung mit Zürich sei', wofür ich mich aber nie gehalten. Wäre nun Marx durch mich zur Emigration verleitet worden, so hätte die Sache einen andern Anstrich; wäre er in pekuniärer Not geblieben, so wäre immerhin seine Ansicht zu begreifen. Er ist aber, von vornherein zur Auswanderung genötigt und entschlossen gewesen, mit seiner Wendung hierher durchaus nicht unzufrieden; außerdem haben ihm seine Kölner Freunde tausend Taler geschickt und scheinen das alljährlich wiederholen zu wollen. Ich bin nun in der Tat sehr froh, dass mein gescheiteres Projekt, sofern es auch den Zweck hatte, Marx zu helfen, jetzt doppelt ersetzt ist, aber ich habe große Verdrießlichkeiten von seinem wahrhaft abgeschmackten Hass gegen mich gehabt. Es scheint, er möchte das Verhältnis zu mir gern bis auf die Erinnerung los sein, weil es ihn drückt, dass ich mich für ihn verwendet, und weil er jetzt einsieht, dass er sich in meinen Mitteln geirrt hat, denn unser Zeitschriftenplan ist gescheitert. Er trennte sich durch einen förmlichen Absagebrief von mir und ergriff dazu die Gelegenheit, wo ich mich allerdings vielleicht zu heftig über Herweghs Sybaritismus und Blasiertheit, in der er von seinem öffentlichen Charakter abfällt, ausgelassen hatte. Er verteidigte Herwegh mit der Genialität und versprach sich eine große Zukunft von ihm. Das ist möglich. Denn Herwegh ist bei alledem sehr fleißig, und so wenig philosophisches Talent er hat, so leicht fasst er auf, und er hat ja bereits gezeigt, dass er Formtalent besitzt." Folgen einige Bemerkungen über Herwegh. „Marx dagegen will die Geschichte des Konvents schreiben und hat das Material dazu aufgehäuft und sehr fruchtbare Gesichtspunkte gefasst. Die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie lässt er wieder liegen. Er will den Pariser Aufenthalt zu jener Arbeit benutzen, was ganz richtig ist." Soweit Ruge.

Aus seiner Darstellung geht zunächst hervor, dass er selbst gar nicht die Behauptung aufgestellt hat, Marx durch Geldmittel unterstützt zu haben. Es mag nicht schön sein, dass der sehr wohlhabende Mann sich noch damit brüstet, seinen Verpflichtungen als Mitverleger der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" gegen den blutarmen Marx nachgekommen zu sein, statt ehrlich zu sagen, Marx habe als Mitarbeiter und Redakteur am meisten für die Zeitschrift gearbeitet und demgemäß auch den ersten Anspruch auf das stipulierte Honorar gehabt. Noch weniger schön als das, was Ruge an Feuerbach schrieb, war das, was er ihm schamhaft verschwieg; er zahlte das kontraktliche Honorar an Marx in – Exemplaren der Jahrbücher, wie Heß in einer handschriftlichen, für den Druck bestimmt gewesenen und von Marx durchgesehenen Aufzeichnung bezeugt: So hat Marx das Trucksystem schon am eigenen Leibe erprobt, ehe er es an den englischen Arbeitern studierte. Vermutlich um sein Gewissen zu übertäuben, hat dann Ruge die Geschichte mit den tausend Talern, die Marx von seinen Kölner Freunden erhalten haben soll, erfunden oder entstellt: es ist sonst nicht das Geringste davon bekannt, und Ruges eigene Mitteilung an Fleischer, dass die Kölner Liberalen jede Unterstützung der „Jahrbücher" verweigert hätten, spricht mittelbar dagegen. Aber immerhin – davon, dass er Marx durch Geldmittel unterstützt habe, sagt Ruge keine Silbe; diese Behauptung hat sich P. Nerrlich aus den Fingern gesogen, um Marx zu beschimpfen.

Mit seiner weiteren Behauptung, dass Marx von Ruge durch Empfehlungen unterstützt worden sei, sieht es insofern nicht ganz so wendig aus, als Ruge einige Redensarten macht, die etwa in diesem Sinne gedeutet werden können. Ruge will sich für Marx „verwendet" haben, wie er an Feuerbach schreibt, er will Marx „gewissermaßen ins Publikum" eingeführt haben, wie er seiner Mutter verrät. Tatsächlich steckt aber auch hinter diesen Redensarten nichts Greifbares. Ruge hat für Marx nie die Bedeutung gehabt, die Bruno Bauer und Friedrich Köppen allerdings beanspruchen können. Er hatte sich an Köppen mit der Bitte gewandt, ihm junge tüchtige Kräfte zu empfehlen, die er für die „Hallischen Jahrbücher" brauchte; Köppen hatte ihn an Marx gewiesen, und die Briefe Ruges an Marx sind zahlreich genug erhalten, um daraus zu ersehen, dass Ruge in diesem Verhältnis durchaus der Begehrende und Werbende gewesen ist. Das gereicht an sich seinem Scharfblicke gewiss zur Ehre, und man mag es menschlich verstehen, wenn er als der beträchtlich Ältere dabei ein Gefühl wohlwollender Patronage gehabt haben sollte, aber er hatte nicht das mindeste Recht, sich als Wohltäter von Marx aufzuspielen und über Undank zu klagen, wenn Marx ihm nicht auf jeden beliebigen Holzweg folgte.

Ob Marx dann wirklich „so zirka" verlangt hat, Ruge solle nach dem Scheitern der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" noch fernerhin den Buchhändler spielen, ist just so glaubwürdig, wie Ruges Behauptungen über Marx nach alledem sein können. Ungefähr kann man sich aus dem Charakter beider Männer aber einen Vers darauf machen. Marx war in Geldsachen von einer souveränen Gleichgültigkeit und sollte bald darauf zeigen, dass er lieber den letzten silbernen Löffel ins Pfandhaus schickte, ehe er eine politische Position aufgab, die noch durch pekuniäre Opfer gerettet werden konnte. Umgekehrt war Ruge, von Haus aus auch ein armer Teufel, durch reiche Heiraten eine argwöhnische Krämerseele geworden, der schon in ganz kleinen Geldsachen die Gemütlichkeit ausging. Er selbst hat der Nachwelt die possierlich entrüstete Standrede erhalten, womit er damals in Paris die Zumutung Ewerbecks ablehnte, ein paar Francs für den Druck von Weitlings Schriften springen zu lassen, und später hat er sich bekanntlich so weit herabgelassen, bei Bismarck um den Ersatz der pekuniären Verluste zu petitionieren, die er durch die Verfolgungen der preußischen Polizei erlitten hatte, wozu sich sonst kein namhafter Vertreter auch nur der bürgerlichen Opposition bequemt hat. Bereits im Jahre 1866 begann Ruge damit, Bismarck und dessen Räte Keudell und Bucher zu bombardieren; im Jahre 1870 erbot er sich dem Auswärtigen Amt in Berlin zu literarischen Handlangerdiensten; er trieb es so arg, dass sogar die nationalliberale Gründerfraktion ihm durch ihre Anstandsdame Lasker „freimütig" vorstellen ließ, ein Mann von seiner Vergangenheit dürfe vom Ministerium Bismarck keine Vergünstigungen annehmen. Jedoch Ruge ließ sich nicht reden, und endlich, nach zehnjährigem Pochen und Prachern, eiste er aus Bismarcks geheimen Fonds auch einen „Ehrensold" von dreitausend Mark jährlich los. Darnach wird man sich die Szene aus dem Jahre 1844 wohl so konstruieren dürfen, dass Marx gemeint hat, man solle nach dem ersten Misslingen nicht gleich die Flinte ins Korn werfen, Ruge aber darin ein fürchterliches Attentat auf seinen Geldbeutel gewittert hat.

Ungern genug bin ich auf diese Dinge näher eingegangen. Marx selbst ist über derartige Anzapfungen seines persönlichen Charakters immer mit verächtlichem Schweigen fort gegangen, es sei denn, dass sie der von ihm vertretenen Sache zu schaden drohten, und das war sein gutes Recht. Aber unser gutes Recht, das Recht derer, die in ihm ihren Vorkämpfer ehren, ist es auch, seinen blanken Schild von dem verleumderischen Schmutze zu reinigen, womit Leute, die nicht einmal fähig sind, das Abc von dem zu begreifen, was Marx als historische Persönlichkeit gewesen ist, ihn zu besudeln versucht haben.

Mit dem, was Ruge über den Zwist wegen Herwegh sagt, kommen wir glücklicherweise wieder in höhere Regionen. Nicht nur weil die Darstellung Ruges hier wahrscheinlich genug klingt, sondern auch weil der Zwist selbst ein Symptom des prinzipiellen Gegensatzes ist, der sich zwischen Ruge und Marx herauszubilden begann, sobald sie nach Paris übergesiedelt waren. Ohne jeden Zweifel hat Ruge seine historischen Verdienste um die Befreiung des deutschen Geistes, Verdienste, die durch seine späteren Irrfahrten nicht ausgelöscht werden können. Er hat seine historische Stunde gehabt wie Strauß, wie Bruno Bauer, wie Feuerbach; auf jeden dieser Junghegelianer trifft das Wort aus dem „Macbeth" zu:

Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht

Sein Stündchen auf der Bühn' und dann nicht mehr

Vernommen wird.

Solche historische Stunde ist aber keine kleine Sache. Mag auch Ruges weitläufige Schriftstellerei heute mehr oder weniger ungenießbar sein, mag er kein Werk hinterlassen haben, das einen Markstein der historischen Entwicklung bildet, wie das „Leben Jesu" von Strauß oder das „Wesen des Christentums" von Feuerbach, so sichert ihm doch die Redaktion der „Hallischen" und „Deutschen Jahrbücher" ein rühmliches Andenken. Diese Fahne wehte nach vorwärts, und Ruge hat sie wacker im Getümmel der Feinde verteidigt. Nur dass er niemals den deutschen Philister auszuziehen vermocht hat, den Heine auf den ersten Blick nach Ruges Ankunft in Paris erkannte. „Ruge ist der Philister", schrieb Heine, „welcher sich mal unparteiisch im Spiegel betrachtet und gestanden hat, dass der Apoll von Belvedere doch schöner sei. Er hat die Freiheit schon im Geiste, sie will ihm aber noch nicht in die Glieder, und wie sehr er auch für hellenische Nacktheit schwärmt, kann er sich doch nicht entschließen, die barbarisch modernen Beinkleider oder gar die christlich germanischen Unterhosen der Sittlichkeit auszuziehen." Während die Woge des Pariser Lebens ein Genie wie Marx hob, begrub sie einen Philister wie Ruge unter ihrem Sturzbade.

Das größte Unrecht der Philister besteht freilich darin, Recht zu haben, und in dem Streit über Herwegh hat der Philister das Genie besiegt. Herwegh hat keine große Zukunft gehabt. Nach allem, was über sein damaliges Leben in Paris überliefert ist, war es unerfreulich genug, und in dem Briefe an seine Mutter gibt Ruge auch zu, dass Marx keine Freude daran gehabt habe. Aber der angeblich „herzlose" Marx war nicht so eilig damit, über ein edles Talent den Stab zu brechen, und sein hochherziger Irrtum ehrte ihn mehr, als Ruge sich auf seinen philiströsen Instinkt einbilden durfte.3

Charakteristischer noch prägt sich der Unterschied beider Männer in ihrem Verhältnis zu einem genialeren Dichter aus, als Herwegh war, in ihrem Verhältnis zu Heinrich Heine. Seit seinem Buch über Börne war Heine den Atta Trolls des deutschen Radikalismus, oder was sich so nannte, ein großes Ärgernis geworden; Ruge hatte schon in seiner deutschen Zeit, im Dezember 1840, dem „herrlichen Kerl" Börne im Gegensatze zu dem „Schuft Heine" für alle Zeiten ein Denkmal setzen wollen, und bei seinem ersten Aufenthalt in Paris, im Sommer 1843, berichtete er triumphierend nach Hause, er habe Heine bei einem persönlichen Zusammentreffen wegen dessen Buch „gegen den noblen, braven Börne" geschnitten. Marx dagegen schloss die herzlichste Freundschaft mit Heine, als er nach Paris kam, und diese Freundschaft ist für Heine noch fruchtbarer gewesen als für Marx; das Jahr 1844, das Jahr des „Weberliedes" und des „Wintermärchens", war ein Höhepunkt in Heines Dichterleben; in ihm wurde der klassische Satiriker geboren, der in aller Weltliteratur wenige seinesgleichen gehabt hat. Bei allem Hasse gegen Marx hat Ruge ihn noch in späteren Jahren als Geburtshelfer der Heineschen „Zeitgedichte" gerühmt, ein Zeugnis, dessen Glaubwürdigkeit dadurch nicht abgeschwächt wird, dass Ruge sich selbst auch einen fragwürdigen Anteil an diesem Verdienste zuschrieb. Über Heines Beziehungen zu Börne urteilte Marx gerade umgekehrt wie Ruge. Er meinte, dass er Börne doch nicht für so fad, kleinlich und abgeschmackt gehalten habe, wie er sich in seinen hinterlassenen Briefen zeige, und er fügte hinzu, eine tölpelhaftere Behandlung, als Heines Schrift über Börne von den christlich-germanischen Eseln erfahren habe, sei kaum in irgendeiner Literaturperiode anzutreffen, und doch fehle es keiner deutschen Periode an Tölpeln.4 Er wollte damals ausführlich über das Buch schreiben, und es ist sehr zu bedauern, dass er diese Absicht nicht ausgeführt hat.

Heine war das berühmteste Haupt der deutschen Kolonie, die sich damals in Paris gesammelt hatte. Ihre unterste Stufe bildeten dagegen die deutschen Handwerksburschen, deren vorgeschrittenste sich in dem Bunde der Gerechten unter Ewerbecks Leitung zusammenfanden. Ewerbeck hatte Cabets utopischen Roman ins Deutsche übersetzt, und Cabets Arbeiterkommunismus war im Bunde der Gerechten die vorherrschende Richtung.5 So weit Marx darüber hinaus war und so wenig er deshalb daran dachte, in den Bund selbst einzutreten, so sehr interessierte er sich für die kommunistische Bewegung unter den deutschen Handwerksburschen. Das war wieder ein unbegreifliches Rätsel für Ruge, der im Juli 1844 an Fleischer schrieb: „Marx hat sich in den deutschen hiesigen Kommunismus gestürzt – gesellig heißt das, denn unmöglich kann er das traurige Treiben politisch wichtig finden. Eine so partielle Wunde, als die Handwerksburschen, und nun wieder diese anderthalb hier eroberten, zu machen imstande sind, kann Deutschland aushalten, ohne viel daran zu doktern." Allein auch Heine wurde in diesem Interesse von Marx überflügelt. Wohl hatte er schon in den dreißiger Jahren prophetisch verkündet, dass der „Freiheitssinn" im Gegensatze zu der klassischen Periode der deutschen Literatur „unter den Gelehrten, Dichtern und sonstigen Literaten viel minder als in der großen aktiven Masse, unter Handwerkern und Gewerbsleuten sich ausspreche", und im Jahre 1844 wiederholte er, dass der Kommunismus sich durch ganz Deutschland verbreite und dass die Proletarier in ihrem Kampfe gegen das Bestehende die fortgeschrittensten Geister, die großen Philosophen, als Führer besäßen. Jedoch vor dem ganz kommunen, feigenblattlosen Kommunismus schreckte Heine immer wieder zurück; er dachte mit Schaudern an die Zeit, wo diese finsteren Bilderstürmer zur Herrschaft gelangen, mit ihren schwieligen Händen die Marmorstatuen der Schönheit zerbrechen und die Lorbeerhaine des Dichters fällen würden; unsägliche Trauer beschlich ihn, wenn er an den Untergang dachte, womit das siegreiche Proletariat seine Verse bedrohe, die ins Grab sinken würden mit der ganzen alten romantischen Welt. Gewiss braucht nicht erst gesagt zu werden, wie wenig in diesem Falle der Dichter ein Seher gewesen ist: Heines Verse leben unsterblich fort im zukunftsfrohen Proletariat, und vandalische Attentate auf sie macht nur das „gebildete" Deutschland.

Außer Heine und den deutschen Handwerksburschen bot die deutsche Kolonie in Paris für Marx keine Anknüpfungs- und Anziehungspunkte. Mochte sie auf sechzig- oder selbst neunzigtausend Köpfe geschätzt werden, so fehlte ihr doch jeder innere oder auch äußere Zusammenhang, wie ihn die englische Kolonie in Paris besaß. Mancherlei Versuche, einen solchen Zusammenhang zu schaffen, waren im Sande verronnen, und ein neuer Anlauf, der eben jetzt in dieser Beziehung gemacht wurde, lag weit ab von der „gallo-germanischen Allianz", unter deren Zeichen die „Deutsch-Französischen Jahrbücher" erschienen waren. Einzig die idiotische Politik des vormärzlichen Despotismus brachte es fertig, im Pariser „Vorwärts!" einen gewissen Ersatz für die untergegangene Zeitschrift zu schaffen, freilich nur für so lange, bis jener Despotismus die Folgen seiner unergründlichen Borniertheit am eigenen Leibe spürte.

Der erneute Versuch, für die deutsche Kolonie in Paris einen Mittelpunkt zu schaffen, ging von einem gewissen Heinrich Börnstein aus. Schauspieler und Theaterdichter, doch beides nur in handwerksmäßigem Betriebe, war er mit einem missglückten Opernunternehmen nach Paris verschlagen worden. Hier hatte er einen günstigen Boden für seine geschäftlichen Talente gefunden, denen Literatur und Kunst nicht mehr als milchende Kühe waren. Er richtete eine fingerfertige Übersetzungsfabrik ein, die mit unglaublicher Fixigkeit neue Stücke der Pariser Bühne binnen acht bis zehn Tagen übersetzte, für den Geschmack des deutschen Publikums zurechtstutzte, mit Erläuterungen über Besetzung, Inszenierung, Kostümierung etc. versah und an die deutschen Theaterdirektionen versandte. Daneben gründete Börnstein ein „Zentralbüro für Kommission und Publizität", das sich nach seiner eigenen Versicherung „regierenden Höfen, hochgestellten Diplomaten, fürstlichen, gräflichen und sonstigen adeligen Familien in Deutschland" mit Erfolg zur Besorgung von Aufträgen und zur Versorgung mit autographischem Klatsch aus dem Pariser Leben empfahl. Dazu kam dann noch ein „Hilfs- und Unterstützungsverein für Not leidende Deutsche in Paris", der sich ebenfalls adeliger und diplomatischer Huld erfreute. Für alle diese Zwecke brauchte Börnstein nun aber auch ein eigenes Organ, in erster Reihe, um seine Übersetzungsfabrik gegen die Angriffe der jungdeutschen Autoren zu schützen, die sich in ihrer bescheidenen, aber doch redlichen Weise bemühten, dem deutschen Theater aus dem Sumpfe zu helfen, und die aus gutem Grunde wenig erbaut waren von der heftigen Schleuderkonkurrenz, die ihnen Börnstein machte. Sehr bald erfüllte sich dem betriebsamen Manne auch dieser Wunsch; mit einem Neujahrsgeschenk von 3.000 Francs, das ihm der Komponist Meyerbeer zusteckte, rief Börnstein den „Vorwärts!" ins Leben, eine vom 1. Januar 1844 ab zweimal wöchentlich erscheinende Zeitung, die sich in ihrem Nebentitel als „Pariser Signale aus Kunst, Wissenschaft, Theater, Musik und geselligem Leben" ankündigte.

Das Blatt war zunächst ein reines Geschäftsblatt. G. Adler findet es zwar in dieser ersten Periode „vorzüglich geleitet", doch Ruge, der vom Redigieren wirklich etwas verstand, schrieb am 20. Mai an Fleischer, der „Vorwärts!" sei noch trauriger als die deutschen Blätter in Deutschland. „Diese Leute sind ohne alle Kenntnis und Bildung und schreiben unter Pressfreiheit so dumm wie ihre Brüder in Deutschland unter Zensur." Dies Urteil traf den Nagel auf den Kopf. Der „Vorwärts!" brachte byzantinische Anekdoten über die leutselige Herablassung deutscher Landesväter, verhöhnte den jungdeutschen Dramatiker Gutzkow als Putzkopf und fiel die „Deutsch-Französischen Jahrbücher" bissig an, kaum dass sie erschienen waren. Besonders gehässig attackierte Börnstein Heines „Lobgesänge auf König Ludwig", wobei er zwar keinen ästhetischen, aber immerhin einen klingenden Grund für sich geltend machen konnte, nämlich die „hohe Gönnerschaft", die Prinz Max von Bayern dem „Zentralbüro für Kommission und Publizität" widmete. Nicht genug mit seiner abgeschmackten Prosa, ließ Börnstein eine noch viel abgeschmacktere Flut von Poesie gegen die „Deutsch-Französischen Jahrbücher" auslaufen, deren Mitarbeiter der „Vorwärts!" also haranguierte:

Es ist ein Büchlein erschienen,

Jahrbücher ward's tituliert,

Es werden die deutschen Tyrannen

Gewaltig da drin malträtiert.

Die Helden der deutschen Freiheit

Eröffnen anjetzt den Strauß,

Sie ziehen grimmig die Schwerter

Und geben die Jahrbücher h'raus.

Sie haben die Schwerter gezogen -

Die Fürsten sahen's mit Schreck

Sie steckten sie bald in die Scheide

Und werfen dafür jetzt mit Dreck.

Wie Jungen, die Schläge bekommen,

Hört man sie zetern und schrein,

Das ist so ganz kommunistisch,

So wirklich hundegemein.

Beiläufig hat Börnstein diese herrliche Poesie zum zweiten Male für würdig erachtet abgedruckt zu werden; in seinen Denkwürdigkeiten, die 1881 erschienen sind. Hier allerdings, wo es darauf ankam, seinem windigen Abenteurerleben dadurch eine gewisse Würze zu geben, dass er sich rühmen konnte, mit Männern wie Ruge, Marx und Heine einmal in flüchtige Berührung gekommen zu sein, verschweigt Börnstein weislich, dass er selbst zuerst diesen Pegasus gespornt habe, und stöhnt nun wörtlich mit gerungenen Händen: Mit solchem Pack musste sich Heine herumschlagen. Der kleine Zug kennzeichnet den gerissenen Geschäftsmann, wie er auch erklärt, dass G. Adler als professoraler Historiker des Sozialismus den Börnstein zur Würde eines "Quellenschriftstellers" erhoben hat: Die Nachwelt müsste jeden Sinn für Humor verloren haben, wenn sie die Wechsel nicht honorieren würde, die von diesen Biedermännern gegenseitig auf ihre Unsterblichkeit gezogen worden sind.

Indessen so brillant die Geschäfte Börnsteins gingen, so wird des Lebens ungemischte Freude doch keinem Sterblichen zuteil. Der „Vorwärts!" sollte vor allem den Widerstand der jungdeutschen Dramatiker gegen die Pariser Übersetzungsfabrik brechen, aber für diesen Zweck musste er erstens in Deutschland verbreitet sein und zweitens den alleruntertänigsten Pferdefuß etwas verstecken. So schwach die jungdeutsche Limonade war oder gerade weil sie sehr schwach war, sagte sie dem Geschmack des deutschen Philisters zu, der nun doch einmal in eine gewisse Rebellenstimmung geraten war und sich mit byzantinischen Anekdötlein über hohe Herrschaften allein nicht mehr abspeisen ließ. Irgendwelche Redensarten über Freiheit und Volkeswohlfahrt musste der „Vorwärts!" also machen, wenn er vor dem deutschen Publikum mit den jungdeutschen Dramatikern anbinden wollte, und es ist durchaus anzuerkennen, dass Börnstein sich mit dieser heiklen Aufgabe so abzufinden wusste, dass sein „gemäßigter Fortschritt" nicht einmal von fern den Hühneraugen eines „hohen Gönners" zu nahe kam. Leider aber war der vormärzliche Despotismus in diesem Punkte über Gebühr kitzlig, und so wurde der „Vorwärts!" von vornherein, vermutlich schon auf seinen bloßen Titel hin, von Österreich, Preußen und anderen deutschen Staaten verboten. Alle Bemühungen Börnsteins, diesen Riegel zu sprengen, blieben erfolglos. Damit drängte sich seinem findigen Kopfe der Gedanke auf, wenn denn einmal der „Vorwärts!" ein verbotenes Blatt sein solle, ihm nun auch alle Würze eines verbotenen Blattes zu geben, so dass es sich dem deutschen Philister lohnte, ihn auf Schleichwegen zu beziehen. Dieser Gedanke begann zur Tat zu werden, als ein ehemaliger Mitarbeiter der „Deutsch-Französischen Jahrbücher" sich zur Mitarbeit am „Vorwärts!" meldete.

Ferdinand Cölestin Bernays – so schrieb der Mann nämlich seine Vornamen in den Jahrbüchern; Börnstein nennt ihn Karl Ludwig und G. Adler gar Lazarus, das richtige Abschreiben will eben auch gelernt sein – also Bernays war ein junger, rheinpfälzischer Jurist, der bis in die ersten Stadien der Advokatenlaufbahn gelangt war und schon ein loyales Schriftchen über „Deutschland und seine fränkischen Repräsentativverfassungen" veröffentlicht hatte, als er aus einem Saulus zum Paulus wurde. Er schrieb für die „Rheinische Zeitung" scharfe Kritiken der bayrischen Ständekammer und gab dann den Staatsdienst auf, um die „Mannheimer Abendzeitung" zu redigieren. Dabei trat er so radikal auf, dass er bald in Deutschland unmöglich wurde.

Er ging nun nach Straßburg, wo er der servilen Presse und der blöden Zensur einen Hauptpossen spielte. Er wettete darauf, innerhalb acht Tagen fünfzig der albernsten, auf den ersten Blick als sinnlos erkennbaren Nachrichten in die patriotischen Blätter zu bringen. Zu diesem Behufe verschaffte er sich ein Siegel mit einer Grafenkrone über den Buchstaben C. v. R., nahm Postpapier mit Goldschnitt und feinsten Siegellack, unterzeichnete sich je nach Umständen als Baron, Graf, Regierungsrat, hatte in den Begleitschreiben alle Nachrichten von „hohen Militärs", „Bankierhäusern", „Hofkavalieren", „aus offizieller Quelle" oder von einer „hoch stehenden Person" und gewann so glänzend seine Wette. Eines schönen Tages tauchten in den wohl gesinntesten Blättern Nachrichten von den gesegneten Leibesumständen verschiedener Landesmütter auf, denen nur noch ein Wunder Gottes diese Beglückung ihrer geliebten Untertanen hätte ermöglichen können, oder ein offizielles Blatt in Mannheim meldete in würdevollstem Tone: „Unsere Stadt genoss heute das unverhoffte Glück, die Pferde Seiner königlichen Hoheit des Prinzen Karl an unserer Stadt vorbeiziehen zu sehen, höchst welche dem hohen Herrn voraus zu den Manövern am Rhein eilen." Am tiefsten fast schlidderte die „Preußische Staatszeitung" hinein. In einer rheinpfälzischen Korrespondenz pries sie in rührendsten Tönen das Untertanenglück der Pfälzer, erzählte von einer Urkunde Ludwigs des Bayern, die ausgegraben worden sei, als die Fundamente der Maxburg gelegt wurden, und schilderte endlich das vorläufig aus einem einzigen Hause bestehende Ludwigshafen als einen schnell empor blühenden Stapelplatz, der schon über eine Flotte von sechs großen und vier kleinen Schleppdampfern auf dem Rhein verfüge und große Lagerhäuser in Kusel, Landstuhl und Blieskastel angelegt habe, das will sagen, in weltvergessenen Nestern, die auf den höchsten Anhöhen des Landes, mehrere hundert Meter über dem Meeresspiegel und zwanzig Meilen vom Rhein entfernt lagen. Nachdem die Wette gewonnen war, veröffentlichte Bernays „Schandgeschichten zur Charakteristik des deutschen Zensoren- und Redaktorenpacks", ein Büchelchen, worin die gelungenen Mystifikationen urkundlich dargelegt waren.

Auch dies Histörchen kennzeichnete seinen Mann. Bernays war ein gebildeter und gescheiter Kopf, aber er hatte eine Ader vom lustigen Gassenjungen. Er schrieb nicht, damit ein schöner Artikel in einem Blatte stehe. „Für mich sind die Worte", sagte er einmal, "nur die schwachen Surrogate von Bajonetten und Kanonen; ich bin kein Literat und will keiner sein." Da aber die Zeit der Bajonette und Kanonen noch nicht da war, so hatte Bernays einstweilen seine Freude daran, die Fenster der Despoten mit klirrendem Lärm einzuwerfen, und in diesem Stil waren auch seine Beiträge zu den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" abgefasst. Er war inzwischen nach Paris übergesiedelt, und nun trieb ihn sein unruhiges Blut, mit dem „Vorwärts!" anzuknüpfen. Er sandte ihm gepfefferte „Briefe eines Franzosen über Deutschland" ein, deren ersten Börnstein am 8. Mai abdruckte, um dann in der nächsten Nummer vom 11. Mai an der Spitze des Blattes ein Spottgedicht Heines auf Friedrich Wilhelm IV. zu veröffentlichen („Mein Vater war ein trockner Taps" etc.), ein Spottgedicht, das sich an ausgelassenem Witze reichlich mit den „Lobgesängen auf König Ludwig" messen konnte, die Börnsteins loyale Gesinnung kaum einen Monat früher so gewaltig empört hatten.

Bei alledem war er ein zu guter Geschäftsmann, um gleich alles auf eine Karte zu setzen. Er hatte seinen „hohen Gönnern" gezeigt, dass er beißen könne, und deutete ihnen nunmehr an, dass er ein billig denkender Mann und auf leidliche Bedingungen stets zu haben sei. Am 15. Mai erklärte er, die Fortsetzung der „Briefe eines Franzosen" nicht bringen zu können. Selbst durchaus nicht radikal, wolle er doch radikalen Meinungen die Mittel, sich auszusprechen, nicht vorenthalten, wenn sie in jener Art und mit Beobachtung jener Form vorgebracht würden, die Humanität und Bildung verlangten. Da die „Briefe eines Franzosen" diese Art und Form vermissen ließen, so könne der „Vorwärts!" sie nicht weiter veröffentlichen, worüber sich Börnstein dann noch eine ganze Weile in einem hitzigen Briefkastengeplänkel mit Bernays auseinandersetzte.

Jedoch es blieb bei dem Verbote des „Vorwärts!" in Deutschland, und so musste Börnstein seine Partie nehmen. Es konnte ihm nun nichts erwünschter kommen, als dass auch Ruge an ihn herantrat mit der Bitte, im „Vorwärts!" einen offenen Brief abzudrucken, den Ruge an die „Deutsche Schnellpost" in New York gerichtet hatte, um eine bissige Kritik dieses deutsch-amerikanischen Blattes an den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" zurückzuweisen. Blieb es bei dem Verbote des „Vorwärts!", so konnte das Blatt für seine heimliche Verbreitung gerade in denjenigen deutschen Spießbürgerkreisen, aus denen es die Gutzkow und Laube zu verdrängen galt, nicht leicht einen besseren Vorspann finden als den Namen Ruges, mit dem sich die Schriftsteller des Jungen Deutschlands nicht messen konnten. Somit druckte Börnstein am 19. Juni den offenen Brief Ruges an die „Deutsche Schnellpost" ab und richtete selbst am 22. Juni einen offenen Brief an Ruge, worin er seine feierlichste Schalksmiene aufsetzte. Als einfacher Mann aus dem Volke bat er um Belehrung über die Geheimnisse der Philosophie. Sei es nicht auch die Schuld der Philosophen, wenn sie das deutsche Volk nicht gewonnen hätten? Wären sie nicht zu weit gegangen? Hätten sie nicht mit leeren Worten wie Organisation der Arbeit gespielt, ohne sich dabei viel zu denken? Mit staatsmännischem Runzeln seiner Brauen spricht der einfache Naturmensch auf Ruge ein: „Sie werfen alles in Trümmer, was wollen Sie an die Stelle des Bestehenden setzen? – Basieren Sie nicht in den Jahrbüchern Ihre Lehre auf die .Menschenrechte' und geht nicht in demselben Bande Herr Marx weit über die Menschenrechte hinaus? Wie aber soll der Dritte bei diesem Zwiespalte nicht mit sich selbst und an Ihnen unklar werden?" Wie ein Kind nach der Mutter Brust, verlangt den einfachen Naturmenschen nach dem Quelle der Weisheit, aber er bittet, Ruge möge diesen Quell nur sprudeln lassen in jenem Tone der Mäßigung, der der wissenschaftlichen Forschung zieme etc. Es war die letzte Rückendeckung Börnsteins gegen seine „hohen Gönner"; am 3. Juli bereits wandelte sich der „Vorwärts!" aus „Pariser Signalen" in eine „Pariser Deutsche Zeitschrift" um, und Bernays übernahm die Redaktion, natürlich nicht in "jenem Ton der Mäßigung", sondern in einem, nicht eigentlich revolutionären, aber höchst burschikosen und für vormärzliche Begriffe hochverräterischen Tone.

Erst darnach, am 6. Juli, erschien Ruges offene Antwort an den einfachen Naturmenschen. Sie hat heute kein Interesse mehr, bis auf den Umstand, dass Ruge darin nicht nur über seinen Zwist mit Marx schweigt, was ja durchaus begreiflich und natürlich gewesen wäre, sondern sich auch den Anschein gibt, als sei er prinzipiell noch ein Herz und eine Seele mit Marx, was er längst nicht mehr war. Er meint, der Zwiespalt zwischen ihm und Marx, den Börnstein entdecken wollte, bestehe tatsächlich gar nicht. Er habe in dem Programm der „Jahrbücher" gesagt: „Frankreich hat die Menschenrechte proklamiert und erobert, es hat seine Eroberung verloren und wieder gewonnen, es kämpft in diesem Augenblicke für die Realisierung der großen Prinzipien der Humanität, welche die Revolution in die Welt gebracht." Das sei eine Geschichtserzählung, die den jetzigen Kampf, den sozialistischen, ausdrücklich von der Eroberung der alten Revolution, ja sogar von der Wiedereroberung dieser Freiheit im Jahre 1830 unterscheide. Eine Lehre werde damit nicht begründet, sie werde vorausgesetzt, und es werde erzählt, wozu sich das Prinzip der Revolution entwickelt habe. Die Prinzipien des Humanismus, um die es sich jetzt handle, seien dieselben, aus denen, Marx die Menschenrechte kritisiert habe, und diese Kritik gehöre zu dem jetzigen Kampfe Frankreichs für die Realisierung des Humanismus, zur sozialistischen Bewegung.

Ruge sagt dann wörtlich: „Wie kann es Sie verwirren, dass der eine das Prinzip nur nennt, die Tatsache seiner Existenz feststellt, der andere ,weit darüber hinausgeht', indem er Gebrauch von der Lage der Sache macht? Gehen Sie doch mit, wo einer ,Vorwärts' geht, und kehren Sie sich nicht an Hinz und Kunz, sondern untersuchen Sie, ob die alte Revolution mit den droits de l'homme6 oder die sozialistische Kritik derselben die wahre Auffassung des Humanismus, das heißt die Befreiung des Menschen, ist. Sie wollen endlich wissen, was an die Stelle des Bestehenden gesetzt werden soll? Die droits de l'homme sind etwas Bestehendes. Lesen Sie doch Herrn Marx' Kritik nach; er setzt etwas sehr Bestimmtes an ihre Stelle, indem er schließt: "Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine „forces propres" [eigenen Kräfte] als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.'7 Ist das nicht deutlich? Ist diese ,Organisation der Arbeit' ein leeres Wort? Und wenn man es vielfältig braucht, ,ohne eben viel dabei zu denken', so ist es doch in der Tat etwas stark, daraus für die einen Vorwurf zu machen, die das Wort brauchen mussten, weil sie die Sache dachten." Ruge identifiziert sich somit völlig mit Marx, was nach Lage der Sache eine Zweideutigkeit war.

Viel ärger wurde diese Zweideutigkeit aber noch, als Ruge seine Mitarbeit am „Vorwärts!" begann. In dem schon mehrfach erwähnten Briefe an seine Mutter vom 19. Mai hatte er gemeint: „Ich bin zu alt geworden, um auf einzelne Skandalosa der Potentaten Gewicht zu legen; die Theorien sind der Freiheit nützlicher als die kleine Praxis der Satire und selbst als der direkte Angriff, der über Nacht wieder vergessen ist." Es war nun gewiss Ruges Sache allein, dass er schon zwei Monate später von diesem löblichen Grundsatze abwich und in der satirischen „Verteidigung der preußischen Politik", die er am 24. und 27. Juli im „Vorwärts!" veröffentlichte, alles Gewicht auf die einzelnen Skandalosa der Potentaten oder etwa noch ihrer Minister legte. Er sagte vom preußischen Hofe, die Königin hinke und der König trinke, sprach mit boshafter Anspielung auf eine damals weit verbreitete Meinung von der „rein spirituellen Ehe" des königlichen Paares, sagte dem Prinzen Wilhelm, dem späteren Heldenkaiser, nach, dass dieser in Weimar erklärt habe: Die Völker mögen nur kommen, die Könige sind gerüstet, und wusste weiter zu melden, dass, als die Völker nicht gekommen seien, das Volk auf einer Hofjagd unter dem Symbol des Hirsches abgestochen und beim Jagdschmaus einem bürgerlichen Maler die Nase mit der Champagnerflasche breit geworfen sei, wegen der Frechheit, dass er in dieser Gesellschaft sein kanailleuses Gesicht zu zeigen gewagt habe; diese brutale Rohheit schrieb Ruge einem andern Bruder des Königs, dem Prinzen Karl, noch aufs spezielle Konto. Alles das war Ruges persönliche Sache, aber durchaus nicht seine persönliche Sache war es, dass er diesen Artikel unterschrieb: Ein Preuße. Er war als Dresdner Stadtverordneter nach Paris gekommen und hatte sich als solcher bei der sächsischen Gesandtschaft angemeldet; Bernays war Rheinpfälzer, Börnstein ein geborener Hamburger, der später namentlich in Österreich gelebt hatte; der „Preuße" wies also sozusagen mit dem Finger auf Marx hin.8

Ob Ruge dabei irgendeine Absicht gehabt hat, muss dahingestellt bleiben. Ohne triftige Beweise darf man eine so schwere Beschuldigung nicht erheben, doch kann man leider auch nicht ohne weiteres Ruge von ihr freisprechen, da er später wirklich seine Pariser Kampf- und Exilsgenossen bei der preußischen Regierung denunziert hat. Er schrieb am 10. März 1846 an den preußischen Minister v. Bodelschwingh und flehte um Aufhebung der polizeilichen Maßregeln, die etwa gegen seine Person getroffen sein könnten. Er bezog sich darauf, dass er wie andere deutsche Schriftsteller im Januar 1845 aus Paris ausgewiesen worden sei, und fügte wörtlich hinzu: „Zu diesem Schritte hatte das kleine Blättchen ,Vorwärts!' den Anlass gegeben, ein Journal, mit dessen Geranten und Redakteuren ich in prinzipieller, persönlicher und, ich brauche nicht zu sagen, auch in ästhetischer Feindschaft lebte, seitdem ich nicht imstande gewesen war, meine Ansicht von einer gehaltenen Pressfreiheit durchzusetzen, die ich in dem Programm der ,Deutsch-Französischen Jahrbücher' selbst für diese Publikation vergebens gefordert hatte. Ich vermutete nun, da diese Verhältnisse durch die Publikationen selbst sowie durch das Verfahren der französischen Behörden notorisch und durch die königlich sächsische Gesandtschaft für mich geltend gemacht waren, da ich seit zehn Monaten in Paris lediglich meinen Studien lebte und nichts mehr drucken ließ, die königlich preußischen Behörden würden ebenfalls von der Verfolgung meiner Person zurückgekommen sein und meine schriftstellerische Stellung von einer mir gänzlich fremden Form und Richtung namenloser junger Leute absondern. Leider war dies nicht der Fall." Diese Darstellung gab Ruge wider besseres Wissen, um sich auf Kosten anderer Leute heraus zu schwindeln, denn er hatte vom Januar 1845 zehn Monate rückwärts allerdings Sachen im „Vorwärts!" drucken lassen, deren „gehaltene Pressfreiheit" eben in dem bestand, wovon Ruge sich vor Bodelschwingh reinigen wollte, in persönlichen Ausfällen gegen die Vertreter der preußischen Dynastie. Selbst aber wenn Ruge durch die irreführende Unterschrift dieser Artikel im Juli 1844 keinen absichtlichen Schlag gegen Marx hat führen wollen, so musste er sich doch bei einiger Überlegung darüber klar sein, was er mit dieser Unterschrift anrichtete, zumal da gerade damals die zensierte preußische Presse die Mitteilung brachte, das rheinische Oberpräsidium habe die Grenzpolizeibehörden mit Verhaftsbefehlen gegen Marx versehen, ja sogar die Nachricht, die Berliner Regierung habe in Paris das direkte Ersuchen gestellt, Marx zu verhaften.

Marx selbst kam durch Ruges Taktik in eine peinliche Lage. So persönlich er werden konnte, wenn es das Interesse der Sache gebot, so sehr hat er immer allen persönlichen Klatsch verschmäht: er hatte nichts mit dem Artikel Ruges gemein. Aber er konnte auch nicht bei seinem lautern und männlichen Charakter wie ein flennender Schulbube sagen: Ich habe diese hochverräterischen Sachen nicht geschrieben; er konnte nicht einmal mit gutem Rechte die klägliche Rolle übernehmen, die Ruge später, sogar wider besseres Wissen, in dem Brief an Bodelschwingh spielte. Zum Glück aber hatte Ruge gleichzeitig mit seinem langen Klatschartikel über die preußische Dynastie einige kurze Bemerkungen über die preußische Politik im „Vorwärts!" veröffentlicht, und diese Handhabe durfte Marx ergreifen, um ehrlich und öffentlich mit dem ehemaligen Freunde abzurechnen.9

1 Ergänzend sei hier auf Mehrings Artikel „Börnsteins Memoiren" (Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Zweiter Band, S. 377-380) und Ein Eselsfußtritt" (ebenda, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 417-422) hingewiesen. In beiden Artikeln setzte sich Mehring mit Verfälschungen des Lebens und des Werkes von Marx und Engels auseinander und verteidigte die Klassiker und ihre Theorie gegen Angriffe bürgerlicher Literaten.

2 Gemeint ist Aus dem literarischen Nachlas von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Hrsg. von Franz Mehring, Stuttgart 1902, Erster Band, S. 331-359.

3 Mehrings Auffassungen von der Zukunft Herweghs sind nicht ganz gerechtfertigt. Der Dichter leistete vor allem auf dem Gebiet der politischen Lyrik noch Großes. So bedeutete zum Beispiel sein „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein" aus dem Jahre 1863 durchaus eine politische und künstlerische Steigerung über die Vormärzperiode hinaus. - Siehe auch Anmerkung 35 in Bd. 3 der „Gesammelten Schriften".

4 Siehe Marx an Heinrich Heine in Paris, [um den 5. April 1846]. In: Marx/ Engels: Werke, Bd. 27, S. 441.

5 Mehrings Darstellung ist hier insofern nicht ganz genau, als um die Zeit des Pariser Aufenthalts von Marx (1843-1845) der Cabetsche Kommunismus wohl in der Pariser Gemeinde, nicht aber im gesamten Bund der Gerechten viele Anhänger hatte. In der Schweiz, in England und in Deutschland waren die utopisch-kommunistischen Anschauungen Wilhelm Weitlings verbreitet, die allerdings viele Berührungspunkte mit den Lehren Cabets hatten.

6 droits de l'homme - Menschenrechte.

8 Karl Marx hatte schon in der „Rheinischen Zeitung" mehrfach unter dem Pseudonym „ein Preuße" geschrieben.

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