Franz Mehring 19020200 „Gesellschaftsspiegel"

Franz Mehring: „Gesellschaftsspiegel"

1902

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Zweiter Band, Stuttgart 1902, S. 349-354. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 174-179]

Solcher Zeitschriften begannen im Jahre 1845 vier zu erscheinen: der „Gesellschaftsspiegel" in Elberfeld, das „Deutsche Bürgerbuch" und die „Rheinischen Jahrbücher" in Darmstadt, endlich das „Westfälische Dampfboot", erst in Bielefeld, dann in Paderborn. Bei den drei ersten waren Marx und Engels unmittelbar beteiligt, der „Gesellschaftsspiegel" wurde sogar von Engels mit Heß begründet.1

Er berichtete darüber am 20. Januar 1845 an Marx: „Das Neuste ist, dass Heß und ich vom 1. April an bei Thieme & Butz in Hagen eine Monatsschrift: „Gesellschaftsspiegel' herausgeben und darin die soziale Misere und das Bourgeoisie-Regime schildern werden. Prospektus etc. nächstens."2 Engels bittet dann um Material über die „dortige Misere" und fügt hinzu: „Besonders einzelne Fälle, das klappt für den auf den Kommunismus vorzubereitenden Philister. Das Ding kann mit wenig Mühe redigiert werden, für Material, um monatlich 4 Bogen zu füllen, werden sich Mitarbeiter genug finden – wir haben wenig Arbeit dabei und können viel wirken. Außerdem wird Püttmann bei Leske eine Vierteljahrsschrift: ,Rheinische Jahrbücher' überzensurgroß erscheinen lassen, worin lauter Kommunismus erscheinen soll."3

Der „Gesellschaftsspiegel" ist nun zwar nicht am 1. April, sondern am 1. Juli, auch nicht in Hagen, sondern in Elberfeld bei Julius Baedeker herausgekommen, aber den Charakter, den Engels als Mitbegründer ihm vorschrieb, hat er beibehalten, namentlich auch in seinem Unterschiede von den „Rheinischen Jahrbüchern". Kommunistische Theorie enthielt er wenig und nur beiläufig, im wesentlichen war er das, was sein Titel besagte: Er spiegelte die gesellschaftlichen Zustände der Zeit wider, wobei er in seinem Prospekte betont, dass die Lage der arbeitenden Klasse als das schreiendste unter allen Übeln der zivilisierten Gesellschaft vor allem berücksichtigt werden müsse. So nannte sich das Blatt denn auch auf seinem Titel „Organ zur Vertretung der besitzlosen Volksklassen und zur Beleuchtung der gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart".

Wahrscheinlich genug, dass der „Gesellschaftsspiegel" sein eigentümliches Gepräge von Engels erhalten hat. Engels schrieb damals an seinem Buch über die Lage der englischen Arbeiter und konnte somit leicht auf den Gedanken verfallen, ein Organ zu schaffen, das die Lage der deutschen Arbeiter registrierte. Für Heß lag dieser Gedanke nicht ebenso nahe, da er sich damals noch, wie seine Beiträge für die Darmstädter Zeitschriften zeigen, vorwiegend in philosophischen Gedankengängen bewegte. Es kam allerdings hinzu, dass der „Gesellschaftsspiegel" unter Zensur erschien und also von vornherein in allen theoretischen Fragen sehr vorsichtig und zurückhaltend sein musste, wenn er überhaupt erscheinen wollte. Jedoch ist Engels unmittelbar nur bei dem ersten Hefte beteiligt gewesen, das zwar erst im Juli erschien, aber im Februar schon so weit fertig war, dass Engels an Marx melden konnte: „Unser „Gesellschaftsspiegel' wird prächtig, der erste Bogen ist schon zensiert und alles durch. Beiträge in Masse."4 Dann aber ging Engels nach Brüssel und beschränkte sich auf bloße Mitarbeit am „Gesellschaftsspiegel", die zudem nicht sehr eifrig gewesen zu sein scheint.

Wenigstens klagte Heß sehr bald in einem undatierten Briefe an Engels: „Ihr werdet nun doch endlich den Artikel für den „Gesellschaftsspiegel' fertig haben. So schickt ihn mir doch gleich per Post an Baedeker, damit ich ihn ins dritte Heft bringen kann. Es sind hier am Orte unter der arbeitenden Klasse bereits über 200 Exemplare vom ersten Heft abgesetzt und werden wohl noch doppelt soviel (wenigstens) verkauft werden, was insofern bedeutend ist, als die armen Leute immer zu mehreren sich auf ein Exemplar abonnieren. 600 Exemplare haben wenigstens 2 000 abonnierte Leser (die Wirtshausleser also abgerechnet). Indessen ist das zweite Heft noch immer beim Zensor." In demselben Briefe stöhnt Heß über die „ungeheure Ängstlichkeit" des Verlegers. „Ich habe meine liebe Not mit ihm, dass er den „Gesellschaftsspiegel' gehörig unters Volk bringe; er will nichts riskieren." Vielleicht haben diese so bald eintretenden Verlags- und Zensurschwierigkeiten dazu beigetragen, den Brüsselern die Mitarbeit zu verleiden; wenigstens ist im dritten Hefte nichts von dem Beitrage zu entdecken, den Heß „endlich" verlangte, wobei freilich nicht übersehen werden darf, dass bei dem überwiegend referierenden Inhalt des Blattes die Autorschaft der einzelnen Beiträge nicht immer leicht festzustellen ist. Besteht doch auch der einzige Beitrag, den Marx mit seinem Namen gezeichnet hat, fast ganz aus der Übersetzung einzelner Abschnitte eines französischen Werks über den Selbstmord.

Dieser Beitrag erschien im Januar 1846. „Peuchet: vom Selbstmord", so lautet sein Titel, und er beginnt: „Die französische Kritik der Gesellschaft besitzt teilweise wenigstens den großen Vorzug, die Widersprüche und die Unnatur des modernen Lebens nicht nur an den Verhältnissen besondrer Klassen, sondern an allen Kreisen und Gestaltungen des heutigen Verkehrs nachgewiesen zu haben, und zwar in Darstellungen von einer unmittelbaren Lebenswärme, reichhaltigen Anschauung, weltmännischer Feinheit und geisteskühner Originalität, wie man sie bei jeder andern Nation vergebens suchen wird."5 Marx verweist auf die Schriften Fouriers und fährt darauf fort:

es sind keineswegs nur die eigentlich ,sozialistischen' Schriftsteller Frankreichs, bei denen man die kritische Darstellung der gesellschaftlichen Zustände suchen muss; es sind Schriftsteller aus jeder Sphäre der Literatur, namentlich der Roman- und Memoirenliteratur. Ich werde in einigen Auszügen über den ,Selbstmord' aus den ,Memoires tires des archives de la police etc. par Jacques Peuchet' ein Beispiel dieser französischen Kritik geben, das zugleich zeigen mag, inwiefern die Einbildung der philanthropischen Bürger begründet ist, als ob es sich nur darum handle, den Proletariern etwas Brot und etwas Erziehung zu geben, als ob nur der Arbeiter unter dem heutigen Gesellschaftszustand verkümmere, im übrigen aber die bestehende Welt die beste Welt sei."6 Nach einigen biographischen Notizen über Peuchet, der Archivar der Pariser Polizeipräfektur gewesen war, folgen die sehr interessanten Auszüge aus dessen Werke, ohne jeden Kommentar des Übersetzers.

Von Engels ist kein Aufsatz des „Gesellschaftsspiegels" namentlich gezeichnet, doch ist seine Art in den Mitteilungen der Zeitschrift namentlich über englische Zustände zu spüren, wie denn auch sein Buch über die englische Arbeiterklasse ausführlich exzerpiert wird. Ich beschränke mich indes auf den ersten Bogen der Zeitschrift, von dem feststeht, dass Engels ihn mit verfasst und mit redigiert hat. Er enthält den Prospekt, der nach Inhalt und Stil von Engels und Heß gemeinsam verfasst ist, dann einen leitenden Aufsatz: „Die gesellschaftlichen Zustände der zivilisierten Welt", unter welchem Gesamttitel der „Gesellschaftsspiegel" fortlaufend an erster Stelle englische, französische, belgische etc. Zustände schilderte, endlich einen Aufsatz, der erschütternd lehrreiches Detail über die Lage der Weber im Wuppertal beibringt. Der leitende Aufsatz nun zerfällt in zwei Abschnitte, deren erster eine Art programmatische Einleitung darstellt, während der zweite sich mit dem englischen Proletariat beschäftigt, in Anlehnung an ein Buch, das Buret, ein Schüler Sismondis, einige Jahre früher über das Elend der englischen Arbeiter veröffentlicht hatte. Dieser Abschnitt rührt offenbar von Engels her, der erste dagegen ebenso offenbar von Heß.

Er beginnt damit zu sagen, dass weder einzelne Klassen unserer Gesellschaft, etwa die Klasse der Besitzer, noch diese oder jene Regierungsform die Grundursache der vielfachen Übelstände sei, unter deren Last wir seufzten. Gerade unter der Klasse der Besitzenden fänden die Versuche, unsere gesellschaftlichen Zustände gründlich zu verbessern, den tiefsten Anklang und die regste Teilnahme; wenn sich die ärmeren Volksklassen weniger darum kümmerten, so halte sie freilich kein böser Wille, sondern nur Mangel an Einsicht davon ab. In Frankreich zeige sich die umgekehrte Erscheinung, deren Grund die oberflächliche Verstandesbildung der besitzenden, die tiefere Herzensbildung der besitzlosen Klassen jenseits des Rheines sei. Sei aber gerade dieser Umstand, dass die besitzende Klasse in Deutschland, nachdem sie sich kaum zwei Jahre mit der gesellschaftlichen Frage beschäftigt habe, schon mit den besitzlosen in Frankreich im Ganzen und der Hauptsache nach übereinstimme, nicht Beweis genug dafür, dass weder diese noch jene Klasse die sozialen Übelstände verschulde?

Das gleiche gelte von dieser oder jener Regierungsform. Seien die westlichen Länder mit ihrer mehr oder weniger demokratischen Staatsform weniger vom Elende heimgesucht als die östlichen Länder mit ihrer mehr oder weniger autokratischen Staatsform? „Oder hat Preußens Monarch weniger Herz für das Elend der ärmeren Volksklassen gezeigt als Frankreichs Deputiertenkammer und der König der Franzosen? Wir sind durch Tatsachen so sehr vom Gegenteil überwiesen, durch Nachdenken über die wahren und letzten Ursachen unseres gesellschaftlichen Elends so sehr vom Gegenteil überzeugt, dass uns alle politisch-liberalen Bestrebungen mehr als gleichgültig, förmlich zum Ekel geworden sind." Einen moralischen Ekel müsse jener politische Liberalismus erregen, der gegenüber dem geistigen und leiblichen Elend der arbeitenden Volksklassen, das gerade in den „freiesten" Staaten und bei dem „blühendsten" Privaterwerb am blühendsten sei, noch immer seine Illusionen verfolge und dem eigentlichen Übel nur eine beiläufige und gezwungene, daher auch völlig frucht- und tatlose Teilnahme zuwende.

Es ist klar, dass Engels diese Sätze nicht geschrieben haben kann, dagegen berühren sie sich nahe mit Gedanken, die Heß zu gleicher Zeit an anderen Orten geäußert hat. Sie sind deshalb vor Jahren in der sozialistischen Presse abgedruckt worden, weil sie „wie in einem Brennglas alle Sünden des philosophischen Sozialismus" vereinigten, weil sie „ein quellenmäßiger Beleg" für die „richtenden Worte" seien, womit das Kommunistische Manifest den damaligen deutschen Sozialismus verurteilt hätte. Diesem wuchtigen Urteil steht nun gegenüber, dass Engels über den ersten Bogen der Zeitschrift, der ebendiese Sätze enthielt, an Marx schrieb: „Unser „Gesellschaftsspiegel' wird prächtig."7 Man kommt darüber nicht mit der Redensart hinweg, dass Marx und Engels auch einmal „wahre" Sozialisten gewesen seien. Denn wenn es klar ist, dass Engels jene Sätze nicht geschrieben hat, so ist nicht minder klar, dass er sie auch nicht gebilligt haben kann; um dies zu erkennen, genügt schon ein oberflächlicher Blick in seine und seines Freundes gleichzeitige Schriften.

Wie also den scheinbaren Widerspruch auflösen? Einfach dadurch, dass man den falschen Schein zerstört, wodurch er überhaupt entstanden ist, mit andern Worten, dass man die Dinge nicht im Spiegel des drei Jahre später entstandenen Kommunistischen Manifestes abliest, sondern sie so betrachtet, wie sie sich tatsächlich abgespielt haben. Marx und Engels sind die Toren nicht gewesen, mag man sie auch oft als solche Toren dargestellt haben, die eine eben sich entfaltende Bewegung von vornherein schulmeisterten, die einen ehrlichen und fähigen Kameraden deshalb abkanzelten, weil er philosophisch noch ein wenig verbiestert war. Wenn Heß den bürgerlichen Ursprung des deutschen Sozialismus in allzu rosigem Lichte sah, nun, so konnte man der Zeit überlassen, diesen holden Schimmer zu zerstören, und wirklich genügten schon ein paar Monate, wie sich gleich zeigen wird, um Heß eines Besseren zu belehren. Und wenn er seinen Abscheu vor dem politischen Liberalismus allzu heftig bekundete, so konnten Marx und Engels das im Februar 1845 so gut passieren lassen, wie sie es etwa im Dezember 1847 sicherlich nicht hätten passieren lassen. Mit anderen Worten, zur Zeit, wo der politische Liberalismus in Deutschland sich in der Rolle eines Faultiers gefiel, konnte ihm ein Schlag zu viel eher gegönnt werden als zur Zeit, wo er in wirklichem Kampfe mit dem feudalen Absolutismus stand.

Solcher Stellen, wie diese einleitenden Sätze von Heß, gibt es noch mehrere im „Gesellschaftsspiegel". Namentlich ein Artikel des französischen Sozialisten Vidal, von dem nicht erhellt, ob er unmittelbar für die Zeitschrift verfasst oder aus dem Französischen übersetzt worden ist, muss wegen seiner liebreich-kraftlosen Tiraden über das Wesen des Sozialismus für Marx und Engels bitter zu lesen gewesen sein. Aber im Großen und Ganzen konnten sie mit dem Inhalte des Blattes wohl zufrieden sein; junge Kräfte taten sich darin auf, allen voran Georg Weerth mit glänzenden Beiträgen in Prosa und Versen, und an sozialhistorischem Material ist der „Gesellschaftsspiegel" so reich, dass er heute noch als Fundgrube solchen Materials gelten darf.

Es war kein geringes Verdienst, das Elend des deutschen Proletariats zu entschleiern, zur Zeit, wo der offizielle Historiker des französischen Sozialismus und Kommunismus, wo Lorenz Stein sich in der abgeschmackten Behauptung gefiel, in Deutschland gebe es kein Proletariat.

1 Engels hatte sich an den Vorbereitungsarbeiten zur Herausgabe der Zeitschrift beteiligt, wurde aber nicht Redaktionsmitglied. Die Zeitschrift erschien 1845/1846 in Elberfeld und wurde unter der Leitung von Moses Heß ein Sprachrohr der „wahren" Sozialisten.

2 Engels an Marx in Paris, [20. Januar 1845]. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 27, S. 15.

3 Ebenda.

4 Engels an Marx in Brüssel, 22.-26. Febr. [und 7. März] 45. In: Ebenda, S. 22.

5 Karl Marx: Peuchet: vom Selbstmord. In: Karl Marx/Friedrich Engels. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 3, Berlin 1932, S. 391.

6 Ebenda.

7 Engels an Marx in Brüssel, 22.-26. Febr. [und 7. März] 45. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 27, S. 22.

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