Franz Mehring 19020200 Politik und Sozialismus

Franz Mehring: Politik und Sozialismus

1902

[Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring, Zweiter Band, Stuttgart 1902, S. 28-32. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 169-173]

Im Juni 1844 waren die Weber von Langenbielau und Peterswaldau, unter dem Druck eines unsagbaren Elends, gegen ihre blutsaugerischen Ausbeuter aufgestanden, aber nach einem kurzen Erfolge von der bewaffneten, Macht niedergemetzelt oder gefangen worden. Während die Gefangenen grausamen Strafen entgegen harrten, erregte sich die öffentliche Meinung, soweit es deren in Deutschland gab, heftig über das aufgedeckte Weberelend; Friedrich Wilhelm IV. aber ließ als liebender Landesvater einen tönenden Wortschwall los, in einer jener Kabinettsordres, mit denen er bei jedem großen oder kleinen Anlass zur Hand war.

Unfähig, die Entstehung des modernen Proletariats auch nur zu begreifen, geschweige denn seinem Elend abzuhelfen, machte der König allerlei frömmelnde Redensarten, warf kunterbunt hilfsbedürftige Arme und reuige Verbrecher untereinander, jammerte über die Verwahrlosung, worin die „Kinder der untersten Klasse" aufwüchsen, und empfahl zur Abhilfe des sozialen Übels die Vereinigung aller Kräfte mildtätiger Herzen. Alle Behörden, die mit der Armenpflege und Armenpolizei zu tun hätten, sollten eine heilige Pflicht darin sehen, derartige Assoziationen ernsthaft zu fördern und dem Könige Pläne und Vorschläge darüber zu unterbreiten. Von diesem Willen des Königs benachrichtigte die Kabinettsordre dann auch noch die Chefs der Provinzialbehörden und forderte sie auf, die ganze Frage als einen Gegenstand von höchster Wichtigkeit zu betrachten, sie sorgfältig zu prüfen und die Bildung wohltätiger Gesellschaften, wo sie noch fehlten, zu begünstigen. Heuchlerisch, wie diese Kurmethode des sozialen Übels schon an sich war, hatte sie den besonderen Vorzug, noch in ihrer Heuchelei verheuchelt zu sein: Als sich gleich darauf der Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen bildete, sah der vormärzliche Despotismus seine „heilige Pflicht" darin, selbst einer so harmlosen und unschädlichen Gesellschaft die Faust ins Genick zu setzen.

Die „Réforme", das Organ Louis Blancs, hatte in dem Schrecken und dem religiösen Gefühle des preußischen Königs die Ursachen der Kabinettsordre gesehen, in der sie das Vorgefühl der großen Reformen fand, die der bürgerlichen Gesellschaft bevorständen. Ruge bestritt nun im „Vorwärts!" beides, sowohl den Schrecken und das religiöse Gefühl des Königs als auch das Vorgefühl der großen Reformen, bei dem weder der preußische König noch die deutsche Gesellschaft angelangt sei. In einem unpolitischen Lande wie Deutschland könne die partielle Not der Fabrikdistrikte nicht als eine allgemeine Angelegenheit, geschweige denn als ein Schaden der ganzen zivilisierten Welt zur Anschauung gebracht werden. Die guten Worte und die gute Gesinnung seien wohlfeil, die Einsicht und die erfolgreichen Taten seien teuer; sie seien in diesem Falle mehr als teuer, sie seien noch gar nicht zu haben. Auch seien die deutschen Armen nicht klüger als die armen Deutschen; sie sähen nirgends über ihren Herd, über ihre Fabrik, über ihren Distrikt hinaus, die ganze Frage sei von der alles durchdringenden politischen Seele bis jetzt noch verlassen. Eine Sozialrevolution ohne politische Seele, ohne die organisierende Einsicht vom Standpunkt des Ganzen aus sei unmöglich.

Gegen diese Bemerkungen, die Ruge am 27. Juli im „Vorwärts!" veröffentlicht hatte, richtete Marx in den Nummern des Blattes vom 7. und 10. August „Kritische Randglossen", die vom 31. Juli datiert, also unmittelbar darnach geschrieben worden sind. Gleich in einer Fußnote zum Titel seines Aufsatzes sagte Marx: „Spezielle Gründe veranlassen mich zu der Erklärung, dass der vorstehende Artikel der erste ist, den ich dem ‚Vorwärts' habe zukommen lassen."1 Eine andere Fußnote gleich im Eingang seiner Darlegungen verrät seine an sich vollkommen berechtigte Erbitterung gegen Ruge; er rechnet diesem als „stilistischen und grammatikalischen Unsinn" an, was im schlimmsten Fall eine stilistische Flüchtigkeit, vielleicht aber auch nur ein Schreib- oder Druckfehler war; wenigstens hat sich der Druckfehlerteufel sofort gerächt, indem Marx in dieser Arbeit ein falsches „seiner" statt eines richtigen „ihrer" gebraucht, gleich nachdem er dem Gegner ein falsches „ihrer" aufgemutzt hatte. Aber auch inhaltlich scheint seine Polemik manchmal übers Ziel zu schießen, so namentlich in seinem historischen Urteil über den schlesischen Weberaufstand, den nach unserer heutigen Auffassung Ruge richtiger beurteilt hat, indem er ihn als reinen Hungeraufruhr auffasste, der die politische Entwicklung eher hindern als fördern müsse.2

Ruge schreibt darüber in dem schon zitierten Brief an Fleischer: „Aufstände wie die schlesischen befestigen nur das alte Philisterregiment und schieben eine allgemeine Bewegung hinaus bis zum jüngsten Tage der Eroberung. Ich habe die Hoffnungen des deutschen Kommunismus nie geteilt. Ein unpolitischer Kommunismus, und von einem solchen kann hier nur die Rede sein, ist ein totgeborenes Produkt. Die deutschen Handwerker, die das Eigentum so lange aufheben wollen, als es ihnen selbst daran fehlt, können den alten Verhältnissen noch viel weniger widerstehen, als dies früher die Burschenschaften konnten. Soll der Kommunismus es zu etwas bringen, so muss er in Verbindung mit einer politischen Bewegung auftreten." Scheint diese Meinung Ruges nicht ganz und gar mit der Ansicht zusammenzufallen, die Marx vertrat?

Der wirkliche Unterschied bestand darin, dass für Ruge die Politik, für Marx der Sozialismus die übergeordnete Instanz war. Für Ruge war die Politik der letzte Zweck, für Marx nur ein unentbehrliches Mittel. In dem kleinen Aufsatze rechnet Marx schon mit allen Arten des Staatssozialismus ab, die damals und seitdem aufgetaucht sind. Der Staat kann nicht Zustände aufheben, deren notwendiges Produkt er selber ist. Marx wendet sich scharf gegen den Utopismus, indem er sagt, dass sich der Sozialismus nicht ohne Revolution ausführen könne; er wendet sich nicht minder scharf gegen den Blanquismus, indem er ausführt, dass der politische Verstand den sozialen Instinkt belüge, wenn er durch kleine nutzlose Erneuten vorwärtszukommen glaube. Mit epigrammatischer Klarheit analysiert Marx das Wesen der Revolution: „Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stürzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch."3 Es war ein bedeutsamer Schritt vorwärts über die "nur politische Revolution", von der Marx noch in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" gesprochen hatte; ein bedeutsamer, aber auch ein logischer Schritt vorwärts, denn wenn die Gesellschaft dem Staat übergeordnet ist, so muss auch der Sozialismus der Politik übergeordnet sein.

Wie in diesem Punkt an die Abhandlung über die Judenfrage, so knüpft der Aufsatz in seinem Urteil über die deutschen Zustände an die Abhandlung über die Hegelsche Rechtsphilosophie an. Ohne Zweifel überschätzt Marx den schlesischen Hungeraufruhr in seiner sozialtypischen Bedeutung. Wenn er ihm einen überlegenen Charakter zuschreibt, einen so bewussten und theoretischen Charakter, wie kein einziger der englischen und französischen Aufstände gehabt habe, und zwar aus dem Grunde, weil die schlesischen Weber nicht nur die Maschinen, die Rivalen des Arbeiters, sondern auch die Kaufmannsbücher, die Titel des Eigentums, zerstört, weil sie sich nicht nur gegen den Industrieherrn als den sichtbaren, sondern auch gegen den Bankier als den versteckten Feind gekehrt hätten, so findet Marx in dem Aufstande Tendenzen, die nicht einmal als dunkle Instinkte in den Seelen der Weber lebendig gewesen sind. Aber freilich – Marx schreibt diesen grausam hingemordeten Proletariern eine herrliche Grabschrift, der gegenüber unser heutiges Urteil nicht sowohl richtiger als nüchterner und kleinlauter erscheint.

So auch begrüßt Marx die Schriften Weitlings mit lebhaftester Anerkennung; sein ganzes Interesse konzentriert sich auf die historische Entwicklung des Proletariats. Wenn er gegen Ruge hervorhebt, es sei gar nicht wahr, dass die deutsche Bourgeoisie die allgemeine Bedeutung des Weberaufstandes gänzlich verkenne, so täuscht ihn der geringe Widerstand dieser Bourgeoisie gegen soziale Tendenzen doch keinen Augenblick. Er sieht voraus, dass die Arbeiterbewegung die politischen Antipathien und Gegensätze innerhalb der herrschenden Klassen ersticken und die ganze Feindschaft der Politik gegen sich lenken werde, sobald sie eine entschiedene Macht erlangt habe. Marx deckt den tiefsten Unterschied zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Emanzipation auf, indem er jene als ein Produkt gesellschaftlichen Wohlbefindens, diese als ein Produkt gesellschaftlicher Not nachweist. Die Isolierung vom politischen Gemein-, vom Staatswesen ist die Ursache der bürgerlichen, die Isolierung vom menschlichen Wesen, vom wahren Gemeinwesen des Menschen, ist die Ursache der proletarischen Revolution. Wie die Isolierung von diesem Wesen unverhältnismäßig allseitiger, unerträglicher, fürchterlicher, widerspruchsvoller ist als die Isolierung vom politischen Gemeinwesen, so ist ihre Aufhebung, selbst als partielle Erscheinung, um so viel unendlicher, wie der Mensch unendlicher ist als der Staatsbürger und das menschliche Leben als das politische Leben.

Bemerkenswert an dem Aufsatz ist dann noch der verhältnismäßig ausführliche Abschnitt über die englischen Zustände. Er bezeugt die wunderbar schnelle Orientierungsgabe, womit sich Marx auf einem neuen Gebiete der Wissenschaft zurechtzufinden wusste. Zwar wenn er MacCulloch einen der besten und berühmtesten englischen Nationalökonomen, einen Schüler des zynischen Ricardo nennt, so hat er später nahezu umgekehrt geurteilt; er hat in Ricardo den hervorragendsten Vertreter der politischen Ökonomie erblickt, ihm wissenschaftliche Unbefangenheit und Wahrheitsliebe nachgerühmt und auf Ricardos Forschungen fortgebaut, während er in MacCulloch nur noch den verflachenden Nachbeter Ricardos, einen Chorführer im Tross der vulgärökonomischen Apologeten sah. Allein wie scharf und namentlich wie richtig greift Marx schon den faulen Kern dieser Apologetik heraus, wie treffend geißelte er schon die Hilflosigkeit der englischen Armengesetzgebung, die in ihren Workhouses die Wohltätigkeit sinnreich verflechte mit der Rache der Bourgeoisie an dem Elenden, der an ihre Wohltätigkeit appelliere, wie erschöpfend nennt er die englische Nationalökonomie die wissenschaftliche Widerspiegelung der ökonomischen Zustände in England!

Ruge war natürlich der Polemik der „Kritischen Randglossen" nicht gewachsen. Er suchte sich mit ein paar hilflosen Zeilen zu helfen, worin er sagte, dass die Bildung jedes Lesers ausreichen werde, um den Wurm der Marxschen Bildung ohne weitere Beihilfe zu entdecken. Auf die Sache selbst ging er mit keiner Silbe ein, wurde von nun an aber dem „Vorwärts!" spinnefeind.

2 Mehring schließt sich hier zu Unrecht der Rugeschen Auffassung an. Die neue Stufe in der Entwicklung der Arbeiterbewegung, die sich im Aufstand der schlesischen Weber abzuzeichnen begann, wurde an dem gesamteuropäischen Echo und an dem starken Einfluss des Aufstandes auf die entstehende deutsche Arbeiterbewegung deutlich.

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