Franz Mehring 19050204 Ein neues Werk von Karl Marx

Franz Mehring: Ein neues Werk von Karl Marx1

4. Februar 1905

[gez.: fm. Leipziger Volkszeitung Nr. 29, 4. Februar 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 24-29]

Man muss etwas sein, um etwas zu machen. GOETHE

Während die bürgerliche Gelehrsamkeit mit Karl Marx längst „fertig" ist und jeder strebsame Privatdozent seine hoffnungsvolle Karriere damit beginnt, auf irgendeinem dürren Sandflecken, den er als Marxens Grab zu titulieren beliebt, einen schwungvollen Indianertanz aufzuführen, wird der große Denker erst recht lebendig – für das Leben wie für die Wissenschaft, die allerdings beide mit der bürgerlichen Gelehrsamkeit nichts zu tun haben. Eben jetzt beginnt ein neues Werk von ihm zu erscheinen, das die akademische Weisheit gerade auf dem Gebiete schlägt, wo sie wenigstens ihre Krämertalente bewähren könnte, nämlich auf dem Gebiete der klassischen bürgerlichen Ökonomie.

Ein professoraler Biograph Lessings beklagt in komischem Unverstand an seinem Helden, dass es diesem versagt gewesen sei, eine gelehrte Arbeit „rein und rund" abzuschließen. Das ist nun aber das allgemeine Schicksal der unermüdlichen Wahrheitssucher, die sich selbst niemals genug tun können, die durch jede neue Erkenntnis nur zu tieferem Graben angespornt werden, die kein abgeschlossenes System herstellen, weil sie sich nicht dazu überwinden können, mit ihren Nachtmützen und Schlafrockfetzen die Lücken des Weltenbaues zu stopfen. Marx hat vierzig Jahre unermüdlich an der Kritik des kapitalistischen Zeitalters gearbeitet, aber was er selbst von dieser Kritik veröffentlicht hat, trägt durchaus den „fragmentarischen" Charakter, den auch Lessings Lebenswerk aufzeigt. Jedoch geht von solchen „Fragmenten" allemal eine historische Wirkung aus, wie sie ewig unerreichbar ist für Hunderte und aber Hunderte der „reinen und runden" Systeme, die jahraus, jahrein für die Zwecke universitärer Stallfütterung geliefert werden.

Einen „fragmentarischen" Charakter trägt auch das neueste Werk von Karl Marx, dessen ersten Band Genosse Kautsky vor einigen Wochen aus dem Nachlasse unseres großen Meisters herausgegeben hat.*2 Es ist geschöpft aus einem von Marx in der Zeit vom August 1861 bis Juni 1863 niedergeschriebenen Entwurfe, der 1472 Quartseiten in 23 Heften umfasst. Diesen Entwurf hat Marx später aufgegeben zugunsten des Plans, wie er ihn im ersten Bande des Kapitals dargelegt und auszuführen begonnen hat. Weiter gelangte er leider nicht, und es blieb seinem großen Mitkämpfer Engels vorbehalten, aus seinem literarischen Nachlass und so auch aus jenem ursprünglichen Entwürfe den zweiten und dritten Band des „Kapitals" herzustellen. Allein auch Engels starb, ehe er den vierten Band, der die Geschichte der Theorie behandeln sollte, ausarbeiten konnte, und nun ist diese Aufgabe an Kautsky gelangt, dem sie die Erben von Marx übertragen haben, wie ihn auch Engels schon dafür vorgesehen hatte.

Jedoch hat Kautsky aus Gründen, die ihm ebenso zur Ehre wie der Sache zum Nutzen gereichen, darauf verzichtet, nach dem Plane von Engels weiterzuarbeiten. Den Hauptkörper jenes ersten handschriftlichen Entwurfs, den Marx im Anfange der sechziger Jahre niederschrieb, bilden die Theorien über den Mehrwert, eine ausführliche kritische Geschichte der Mehrwertstheorie, die den Kernpunkt der politischen Ökonomie bildet; sie wollte Engels als vierten Band des „Kapitals" herausgeben, nach Beseitigung der zahlreichen Stellen, die er bereits im zweiten und dritten Bande erledigt hatte. Allein, als Kautsky nach diesem von Engels vorgezeichneten Plane zu arbeiten begann, zeigte sich alsbald, dass die meisten der schon erledigten Stellen zu eng mit dem Ganzen verwoben waren, um einfach gestrichen werden zu können. Sollten sie beseitigt werden, so hätten wichtige Partien des Buches völlig umgearbeitet werden müssen. Blieben aber alle diese Ausführungen stehen, so konnte es sich nicht mehr um einen vierten Band des „Kapitals", um eine Fortsetzung der drei ersten Bände, handeln, sondern nur um ein diesen drei Bänden parallel laufendes Werk.

Hierfür hat sich Kautsky entschieden, und seine Entscheidung erheischt umso lebhaftere Anerkennung, je verlockender der andere Weg für den – an und für sich durchaus nicht unberechtigten – wissenschaftlichen Ehrgeiz des Herausgebers war. Zudem – wenn er das weniger verlockende Teil erwählte, so erwählte er deshalb keineswegs das weniger schwierige Teil; einen unverfälschten Marx in durchsichtiger und übersichtlicher Form aus dem vorhandenen Material herzustellen war weitläufiger, als die selbständige Bearbeitung dieses Materials gewesen wäre. Was dem Herausgeber vorlag, war ein Konzept, das zwar nach einem bestimmten Plane entworfen, aber doch so niedergeschrieben war, wie dem Verfasser gerade die Gedanken kamen, mit Ideengängen, die begonnen, aber nicht beendet waren, in einer Darstellung, die sich oft genug in entlegene Nebenuntersuchungen verlor, dabei das Ganze in einem Zuge abgefasst, fast ohne jede Unterabteilung, und geschrieben in den bekannten Hieroglyphen von Marx – genug, hieraus ein abgeschlossenes Werk zu machen war eine so mühsame wie verantwortliche Aufgabe, für deren glückliche Lösung Kautsky den lebhaftesten Dank verdient.

Für die Sache aber war der von ihm eingeschlagene Weg zweifellos der zweckmäßigste. Gewiss hat jetzt das Buch einen „fragmentarischen" Charakter, aber wir befinden uns dafür mitten in der Gedankenwerkstatt von Karl Marx, und wir sehen gewissermaßen die gewaltigen Werkstücke, die er mit gewaltiger Kraft handhaben musste, noch unbehauen und ungemörtelt um uns liegen. Was dem ersten Bande seines „Kapitals" bei unbefangenem Lesen vielleicht am meisten im Wege gestanden hat, das sind gleich die ersten Kapitel über den Wert gewesen, die vielfach als spintisierende Spekulation des Verfassers aufgefasst worden sind und von den Lesern, die ohne tiefere Vorbildung an das Werk herantraten, auch so aufgefasst werden konnten. Hier haben die Gegner und die so genannten Widerleger denn auch immer von neuem eingesetzt; sie haben immer die Melodie variiert, die – nachdem das Werk vergebens totzuschweigen versucht worden war – im Anfange der siebziger Jahre zuerst angeschlagen wurde: „Ja, das ‚Kapital' ist ein Werk aus einem Gusse, und wenn man die Voraussetzungen des Verfassers annimmt, muss man ihm bis zur letzten Zeile folgen. Aber eben die Voraussetzung, die Werttheorie, ist falsch, und wenn man sie beseitigt hat, wie sie denn spielend beseitigt werden kann, so stürzt das ganze Gebäude zusammen." In diesem Ton ist es von Sybel bis auf Wenckstern gegangen, und wenn dadurch auch weiter kein großes Unheil entstanden ist, so ließ diese künstliche Windmacherei doch immer noch die Universitätsmühlen klappern.

Damit ist es nun vorbei. Wenn das von Kautsky herausgegebene Werk keine Fortsetzung des „Kapitals" von Marx ist, so ist es in gewissem Sinne die Einleitung dazu: der historisch-theoretische Unterbau seiner Wert- und Mehrwerttheorie. In seinem ersten Entwürfe, aus dem Kautsky geschöpft hat, hat Marx seine Leser offenbar denselben Weg gehen lassen wollen, den er selbst gegangen ist, oder er hat, was noch richtiger sein mag, sich nur mit sich selbst verständigen, den geistigen Prozess, durch den er zum innersten Verständnis des modernen Kapitalismus gelangt war, sich in allen Gliedern und Zwischengliedern vergegenwärtigen wollen. In der Tat hatte er auch mit der Schrift, die er im Jahre 1859 „Zur Kritik der politischen Ökonomie" herausgab, diesen Weg zu beschreiten angefangen.

Wenn er sich dann entschloss, im ersten Bande des „Kapitals" zunächst darzustellen, was er Neues zu sagen hatte, und die historische Entwicklung der Wert- und Mehrwerttheorie erst an den Schluss zu stellen, so war dies zweifellos der richtigere und im Interesse des proletarischen Emanzipationskampfes glücklichere Weg, über den wir heute um so froher sein können, dass Marx ihn beschritten hat, als wir sonst vielleicht nicht einmal den ersten Band des „Kapitals" in der klassischen Vollendung besäßen, worin er eine so epochemachende Wirkung gemacht hat. Allein nunmehr, wo diese Wirkung durch das Aufgebot der gesamten Sophistik, über die sämtliche Universitäten der Welt verfügen, nicht mehr beseitigt werden kann, haben wir das lebhafteste Interesse daran, in jedem einzelnen Stadium den Weg kennen zu lernen, worauf Marx zu dem Gipfel gelangt ist, von dem sich das innere Räderwerk des kapitalistischen Mechanismus in sonnenheller Klarheit überblicken lässt.

Dieser Weg war das kritische Studium der klassischen bürgerlichen Ökonomie, die in England ihre Heimstätte und in Adam Smith, Ricardo und Malthus ihre namhaftesten Vertreter gehabt hat. Der erste Band, den Kautsky eben herausgibt, beschäftigt sich nach einer einleitenden Studie über die Physiokraten namentlich mit Adam Smith, während der zweite sich nach Kautskys Ankündigung mit Ricardo, der dritte mit Malthus und der Auflösung der Ricardoschen Schule beschäftigen wird.

Schon dieser erste Band ist überaus reich an wertvollen Aufschlüssen über die Geschichte der klassischen bürgerlichen Ökonomie, an kleinen Kabinettstücken jener historisch-dialektischen Methode, in denen Marx ein unübertroffener Meister war; wir verweisen nur auf die erschöpfende Charakteristik, die er auf wenigen Seiten von der physiokratischen Schule gibt. Eingehender zergliedert er das berühmte Werk Adam Smiths, namentlich in seinen Begriffen von Wert und Mehrwert, von produktiver und unproduktiver Arbeit. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass hier zum ersten Male – trotz der unermesslichen Literatur, die über das Werk Adam Smiths existiert – mit gerechter Waage gemessen wird, was der Verfasser an historisch-fortschrittlicher Erkenntnis wirklich geleistet hat und worin er noch mangelhaft, verwirrt und namentlich zwieschlächtig geblieben ist.

Alles in allem ist es doch eine Ehrenrettung des großen Denkers gegenüber „den Deutschen zweiten Ranges und ganz speziell den schulmeisterlichen Kompilatoren und Kompendienschreibern, auch den schön schreibenden Dilettanten", über die Marx gleich eine höchst ergötzliche Heerschau hält, namentlich soweit sie den Begriff der produktiven Arbeit, den Adam Smith für die kapitalistische Gesellschaft, wenn auch noch nicht ohne Schranken, als kapitalistisch produzierende Arbeit definiert hatte, im apologetischen Interesse der kapitalistischen Gesellschaft umgelogen und verfälscht haben.

Mit dieser Gesellschaft geht Marx allerdings nicht sehr zart um, und sie hätte, wenn sie noch lebte, einige Ursache, über seinen „schlechten" Ton zu klagen.

Wir vermögen uns deshalb auch nicht der Hoffnung Kautskys anzuschließen, dass dies neue Werk von Marx nicht nur in sozialistischen, sondern auch in bürgerlichen Kreisen das Studium der klassischen Ökonomie neu beleben werde. Er hat zwar ganz recht darin, dass die so genannte historische Schule mit ihrem verzagten Verzicht auf alle tiefere Einsicht, mit ihrem theoretischen Nihilismus so ziemlich abgewirtschaftet habe, und es ist auch an und für sich richtig, dass sich „alle denkenden Elemente der bürgerlichen Ökonomie" nicht bei der österreichischen Schule beruhigen können, da die Aufgabe einer ökonomischen Theorie die Erklärung des ganzen gesellschaftlichen Produktionsprozesses – dies Wort in weitestem Sinne genommen – und nicht die Erklärung des physischen Verhaltens des einzelnen Menschen zu den ihn umgebenden Dingen sei. Aber das „Denken" der bürgerlichen Elemente ist doch zuerst darauf gerichtet, wie die Notwendigkeit und Unerschütterlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu begründen sei, und wir glauben daher nicht, dass sie sich an der Hand von Marx in ein kritisches Studium der Adam Smith und Ricardo vertiefen werden. Uns erscheint es wahrscheinlicher, dass sich die theoretischen Bedürfnisse der kapitalistischen Schönfärber künftighin auf dem Wege befriedigen werden, den schöngeistige Dilettanten und schulmeisterliche Kompilatoren vom Schlage der Sombart schon eingeschlagen haben, nämlich Marx selbst nunmehr so einzuschlachten, wie sie ehedem Adam Smith und Ricardo eingeschlachtet haben. Dabei wird ihnen aber das neueste Werk von Marx, wie wir schon andeuteten, sehr in die Quere kommen, und so zweifeln wir daran, dass es in bürgerlichen Kreisen große Wirkung tun wird.

Dagegen müssen wir seine Wirkung auf sozialistische Kreise höher einschätzen, als Kautsky tut. Er meint, es werde die im zweiten und dritten Bande des „Kapitals" gewonnenen Einsichten befestigen und vertiefen. Wir glauben jedoch, dass es überhaupt die ganze ökonomische Lebensarbeit von Marx in ein helleres und stärkeres Licht setzen, ihre allmähliche Entwicklung bis in die feinsten Verästelungen und Verzweigungen durchsichtig machen wird. Es ist nicht nur ein Parallelwerk, sondern auch ein Kommentar des „Kapitals" in allen seinen Teilen, mit dem es so doch innerlich verbunden bleibt und von dem es immer einen Strahl unsterblichen Glanzes empfangen wird.

Nach der Absicht Kautskys sollen die beiden letzten Bände des Werkes in den beiden nächsten Jahren erscheinen. Hoffentlich ist es ihm möglich, seine Absicht auszuführen und bald das große Verdienst zu krönen, das er sich durch diese Herausgebertätigkeit um die wissenschaftliche Literatur des modernen Sozialismus erwirbt.

1 Siehe dazu auch den Leitartikel in der „Leipziger Volkszeitung" vom 9. Juli 1907. Unter der Überschrift „Zum Gedächtnis" würdigte Mehring anlässlich des 40. Jahrestages des Erscheinens des „Kapitals" die Hauptwerke von Karl Marx und Adam Smith. – Siehe auch „In memoriam". In: Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Zweiter Band, S. 545-549.

* Theorien über den Mehrwert. Aus dem nachgelassenen Manuskript „Zur Kritik der politischen Ökonomie" von Karl Marx. Herausgegeben von Karl Kautsky. I. Die Anfänge der Theorie vom Mehrwert bis Adam Smith. Stuttgart 1905. Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. 430 Seiten.

2 Gemeint ist Karl Marx: Theorien über den Mehrwert (viertes Buch des „Kapitals"). In: Marx/Engels: Werke, Bd. 26, Erster Teil; Bd. 26, Zweiter Teil; Bd. 26, Dritter Teil. Die Kautskysche Ausgabe erschien unter dem Titel: Theorien über den Mehrwert. Aus dem nachgelassenen Manuskript „Zur Kritik der politischen Ökonomie" von Karl Marx. Herausgegeben von Karl Kautsky, Stuttgart 1905. Kautsky unterzog das Werk einer willkürlichen Bearbeitung, wobei er wichtige Leitsätze des Marxismus revidierte. Er durchbrach die logische Anordnung des Materials und nahm entstellende Kürzungen vor. Dadurch wurde dem Revisionismus Vorschub geleistet.

Die „Theorien über den Mehrwert" stellen ein in sich geschlossenes Werk dar; die erste ausdrückliche Erwähnung eines vierten Buches des „Kapitals" finden wir im Brief von Marx an Engels vom 31. Juli 1865 (in: Marx/Engels: Werke, Bd. 31, S. 132).

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