Franz Mehring 19180000 Eine Episode des Marxismus

Franz Mehring: Eine Episode des Marxismus

1918

[Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 8. Jg., Leipzig 1919, S. 308-313. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 16-23]

Die Biographie von Karl Marx, die ich vor einigen Monaten veröffentlicht habe, hat in der Lesewelt eine sehr günstige Aufnahme gefunden, und auch die Kritik, soweit ich sie gelesen habe, ist glimpflich genug mit ihr verfahren. Insoweit habe ich nicht den geringsten Anlass zu einer Antikritik, doch möchte ich mir einige erläuternde Bemerkungen zu einem Punkt von allgemeinem Interesse erlauben, der gerade von sozialistischer Seite gegen mich ins Feld geführt worden ist.

Es soll hier nicht weitläufig untersucht werden, ob und inwieweit es mit der Armseligkeit, Dürftigkeit und Farblosigkeit des deutschen Lebens seit den Tagen des Dreißigjährigen Krieges bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein zusammenhängt, dass die Deutschen auf dem Gebiete der Biographie nie besondere Lorbeeren geerntet haben. Ich will hier nicht die herzbrechenden Klagen wiederholen, die Carlyle in der Geschichte des preußischen Königs Friedrich über die Unfähigkeit der Deutschen erhebt, ihren Größen literarische Denkmale zu errichten, aber selbst Treitschke bekannte noch vor wenigen Jahrzehnten, dass die deutsche Literatur auffallend arm an guten Biographien sei. Das hat sich seitdem gebessert, doch ist das erwachende biographische Interesse wesentlich Männern der Tat, Feldherren, Staatsmännern, großen Industriellen usw., zugute gekommen; die schönste deutsche Biographie ist vielleicht das Lebensbild, das Max Lehmann von Scharnhorst entworfen hat.

Am schlimmsten stand und steht es noch immer mit den Biographien der großen deutschen Denker. Nicht als ob über sie nicht Tausende und aber Tausende von Büchern erschienen sind und erscheinen; darin hat Schillers Wort immer noch seine Geltung: Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun. Aber je gründlicher die Lehre eines namhaften Denkers ausgeschlachtet wird, umso kümmerlicher pflegt es um die Darstellung seines Lebens zu stehen. Das bekannteste Beispiel dieser Art ist Kant, von dem wir immer noch nicht eine genügende Biographie besitzen. Wenn ich gut unterrichtet bin, wird Karl Vorländer demnächst die allzu lange gestundete Schuld einlösen, aber immerhin sind 115 Jahre seit Kants Tode verflossen, ehe eine so selbstverständliche Pflicht erfüllt wurde. Man will wohl gar dies Missverhältnis dadurch entschuldigen oder selbst verklären, dass man fragt, was denn die gemeine Wirklichkeit der Dinge mit der erhabenen Gedankenwelt zu tun habe, worin die Philosophen lebten und webten. Als ob je ein noch so großer Denker gelebt hätte, dessen geistige Leistungen nicht mehr oder minder von seiner Umwelt beeinflusst worden wären! Wenn Kant sich zu rühmen pflegte, er habe, wenn jemand an seine Tür klopfte, mit ruhigem Gewissen Herein! rufen können, da er immer gewiss gewesen sei, dass kein Gläubiger draußen gestanden habe, so kann man diesen klassischen Ausdruck eines entsetzlichen Philistertums doch nicht als einen über alle irdische Dinge erhabenen Weisheitsspruch begrüßen. Wären ein paar tausend Bände weniger über Kants Philosophie und statt ihrer eine lesbare Biographie des Mannes erschienen, so wäre es für seinen Nachruhm und die Wirksamkeit seiner Gedanken nur vorteilhaft gewesen. Ähnlich bei vielen anderen Philosophen, von denen Fichte auf der richtigen Spur war, als er sagte: Was einer für eine Philosophie bekennt, hängt davon ab, was er für ein Mensch ist.

Zweck jeder Biographie ist, den Menschen, den sie schildert – soweit es mit den Mitteln literarischer Darstellung möglich ist –, der Nachwelt wieder so lebendig zu machen, wie er sich ehedem unter seinen Zeitgenossen bewegt hat. Dazu gehört natürlich nicht nur die Schilderung seines öffentlichen Wirkens, sondern dazu gehören auch seine persönlichen und privaten Verhältnisse, innerhalb deren er gelebt hat, samt allem Kleinkram, der sich daran hängen mag. Jedoch nur auf das öffentliche Wirken beschränkt, so liegt die Sache bei Marx so, dass er zugleich ein Mann der Tat und ein Mann des Gedankens war, dass Politik und Wissenschaft in ihm so innig verschmolzen, dass sich eins vom anderen gar nicht trennen lässt. Nur so viel darf man sagen, dass der revolutionäre Kämpfer das Urelement seines Wesens war und die wissenschaftliche Forschung dessen schärfste und unwiderstehlichste Waffe. So sagt Engels in seiner Grabrede auf Marx, der Mann der Wissenschaft, so Großes er geleistet habe, sei noch lange nicht der halbe Mann gewesen. Vor allem sei Marx Revolutionär gewesen; und sein wirklicher Lebensberuf habe darin bestanden, mitzuwirken am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und damit an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewusstsein seiner eigenen Lage und der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben habe. Konnte Marx praktisch im Interesse des Proletariats handeln, so schob er seine wissenschaftliche Arbeit willig beiseite, so dass er trotz seiner beispiellosen Arbeitskraft und Arbeitslust sein wissenschaftliches Werk nur als einen riesenhaften Torso hinterlassen hat.

Ohne die stete Wechselwirkung zwischen Politik und Wissenschaft zu berücksichtigen, muss jedes Lebensbild, das von Marx entworfen wird, zum Zerrbilde werden, und in diesem Kernpunkt danebengehauen zu haben ist der Vorwurf, den die „Neue Zeit" gegen mein Buch erhebt.1 Sie entwirft zunächst ein Bild von der erbaulichen Konfusion, „der bunten Reihe der seltsamsten Widersprüche", die in der „deutschen Parteimehrheit" über Marx herrscht, ein Bild, dessen Richtigkeit zu bestreiten ich nicht berufen bin, wenn ich es auch nicht zu bewundern vermag. Die „Neue Zeit" findet diesen Zustand jedoch „durchaus begreiflich"; sei er doch nur ein Beweis für die Kraft, womit Marxens Geist sich als revolutionäres Ferment „in unserem geistigen Ringen" durchsetze, so dass wir noch immer keinen festen Abstand zu ihm und damit auch keine eigentliche historische Perspektive zu gewinnen vermöchten. Dieser Gärungsprozess sei auch keineswegs schon abgeschlossen; auf einzelnen Gebieten marxistischer Theoretik habe er vielmehr erst eingesetzt. Indessen sei eine baldige Klärung, wenn sie auch vorläufig nur auf einzelnen Teilgebieten möglich sein könne, doch ganz wünschenswert. Deshalb habe man meiner Biographie mit ungeduldiger Erwartung entgegengesehen, aber diese Erwartung sei getäuscht worden.

Mehring schildert in seinem Werke nur den Lebenslauf unseres Altmeisters als Politiker, revolutionärer Kämpfer und Journalist. Die wissenschaftliche Bedeutung Marxens tritt völlig in den Hintergrund. Zwar wird verschiedentlich diese Bedeutung erwähnt, aber sie zeigt sich gewissermaßen nur am fernen Horizont als effektvolle Sternschnuppe; zu einer klaren Veranschaulichung und Begründung gelangt sie nicht." Dieser Behauptung gegenüber kann ich nur kurz darauf verweisen, wovon sich jeder Leser schon durch einfaches Anblättern meines Buches überzeugen kann, dass ich die politische Entwicklung Marxens in stetem Zusammenhange mit seiner wissenschaftlichen Entwicklung geschildert habe, dass ich die Doktorschrift, die Aufsätze in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern", die „Heilige Familie", die Streitschrift gegen Proudhon, die Schrift von 1859 ebenso ausführlich, wenn nicht noch ausführlicher besprochen habe als die Artikel in der „Rheinischen Zeitung", dem „Vorwärts!", der „Neuen Rheinischen Zeitung" oder die Streitschrift gegen Vogt.

Aber ich soll es ja selbst zugegeben haben, dass ich „im wesentlichen" mich auf den politischen Lebenslauf Marxens beschränkt habe. Das ist mir nicht im Traum eingefallen. Ich habe im Vorwort die Nachsicht des Lesers dafür erbeten, dass ich bei den Grenzen, die meinem Buche gesteckt waren, mich vielfach kürzer hätte fassen müssen, als meinen Wünschen entsprochen hätte, und dass unter diesem äußeren Zwange besonders die Analyse der wissenschaftlichen Schriften gelitten hätte. Für sachkundige Kritiker glaubte ich dadurch deutlich genug angedeutet zu haben, was ich darunter verstand, nämlich Probleme, wie sie zumeist erst aus den nachgelassenen Schriften von Marx aufgetaucht sind: die Kontroverse mit Rodbertus über die Grundrente, die Prüfung der „supradelikaten" Untersuchungen Ricardos und der Ricardianer über den Mehrwert und ähnliches. Ich verkenne weder das Interesse und die Wichtigkeit dieser Probleme, noch bestreite ich die Notwendigkeit ihrer Erörterung in einer drei- oder vierbändigen, für gelehrte Kreise bestimmten Biographie, aber in dem verhältnismäßig engen Rahmen einer in erster Reihe für Arbeiterkreise bestimmten Darstellung mussten sie zurücktreten hinter die Schilderung der epochemachenden Tätigkeit, die Marx für die Internationale entwickelt hat.

Was die „Neue Zeit" von mir verlangt, ist die Rückkehr zu der alten üblen Methode, große Denker zu traktieren, die ich eben zu kennzeichnen versucht habe und die Fichte einmal mit den Worten streift, dass der deutsche Leser, ehe er ein Buch lese, erst ein Buch über dieses Buch lesen wolle. Was Marx in seiner konkreten Art klar und kurz gesagt hat, soll sein Biograph in langstieligen Erörterungen breittreten. So hat Marx stets abgelehnt, die Theorie des Klassenkampfs entdeckt zu haben; was er als sein geistiges Eigentum an dieser Theorie beanspruchte, war nur der Nachweis, dass die Existenz der Klassen an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden sei, dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe und dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde. Das zitiere ich wörtlich, werde nun aber getadelt, ich hätte die marxistische Klassenkampftheorie auf einer knappen halben Druckseite abgetan; ich hätte darlegen müssen, wie sich die Theorie des Klassenkampfes durch David Hume, Adam Ferguson und Gott weiß wen entwickelt hätte. Aber wozu diese gelehrten und keineswegs unbekannten Weitläufigkeiten in einer Marx-Biographie, wenn Marx selbst erklärt, dass er die Theorie so übernommen habe, wie sie von den französischen Historikern der vierziger Jahre vertreten worden sei, und dann seinen eigenen Beitrag zu ihr in erschöpfender Weise angibt?

Noch herberen Tadel erfahre ich wegen der für einen „sozialistischen Historiker recht sonderbaren Tatsache", dass ich die materialistische Geschichtsauffassung nur „flüchtig" berührt haben soll. Das heißt: genau so „flüchtig" wie Marx selbst, dessen Ausführungen darüber ich abermals wörtlich wiedergegeben habe, namentlich auch – so oft sie auch schon nachgedruckt worden ist – die klassische Stelle aus der Vorrede von der Schrift von 1859. Mein Verbrechen besteht darin, dass ich nicht meinen eigenen Senf dazu gegeben habe. Als ob es eine besondere Kunst wäre, einige Seiten oder auch Druckbogen mehr oder minder geistreicher Bemerkungen über den historischen Materialismus zusammen zu raspeln! Ich habe mich schon vor bald dreißig Jahren auf diesem Gebiete versucht, in einer Abhandlung, die von zwei namhaften Seiten als musterhaft erklärt wurde; von Friedrich Engels, der mir bestätigte, dass ich die Sache so verstünde, wie er und Marx sie gemeint hätten2, und von Herrn Werner Sombart, der feierlich versicherte, ich hätte klassisch nachgewiesen, wie der historische Materialismus nicht aufgefasst werden dürfe. Seitdem halte ich mich zu den Leuten, die die historisch-materialistische Methode in ihren Schriften zu handhaben versuchen, nicht aber zu denen, die nur in Ewigkeit darüber zu orakeln nicht müde werden. Darin folge ich dem Vorbilde, das Marx gegeben hat, und bin gewiss, in seinem Geiste zu handeln.

Hätte ich einen triftigen Anlass zu der Vermutung, dass die Kritik der „Neuen Zeit" von persönlichem Übelwollen diktiert sei, so würde ich bei der sachlichen Hinfälligkeit ihrer Einwände kein Wort darüber verlieren. Aber ein solcher Anlass liegt nicht vor: die „Neue Zeit" lobt auch manches an meinem Buche. Ihre Tendenz, den Marxismus als wogendes Nebelmeer zu schildern, aus dem kaum die Kuppen der Berge erkennbar hervortreten, ist durchaus ehrlich und hat ihre besonderen Gründe. Robert Wilbrandt nennt sie treffend das Abschieben des Marxismus auf das tote Gleis der theoretischen Nationalökonomie.*

Die Schrift Wilbrandts ist etwa gleichzeitig mit meiner Biographie erschienen, und sie erfüllt in gewissem Sinne die Ansprüche, deren Nichtbeachtung die „Neue Zeit" mir vorwirft. Von ihren 153 Seiten widmet sie nur 11 dem Leben Marxens, dagegen seinem historischen Materialismus 16, seiner Theorie des Klassenkampfes 25 usw. Glücklicherweise ist Wilbrandt aber kein abstrus-tiefsinniger Begriffshaspler, sondern ein Schriftsteller von einem Temperament, wie es sich bei deutschen Gelehrten nicht allzu häufig findet; er schreibt so frisch und munter, dass man ihm gern folgt, auch wenn und soweit man ihm widersprechen muss. Einen solchen Widerspruch muss ein Marxist oft genug erheben, was sich schon aus der Verschiedenheit der Standpunkte ergibt. Wilbrandt will der bürgerlichen Lesewelt die überragende Größe des Mannes verständlich machen, aber bei aller Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit dieses Bemühens, woran kein Zweifel gestattet ist, steht er doch selbst auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft und muss deshalb seine bestimmten Vorbehalte gegen Marx machen.

Er wirft ihm namentlich vor, der Arbeiterklasse kein praktisches System des Sozialismus gegeben zu haben. Die Schuld daran sieht er in der Theorie des Klassenkampfs, die Marx aufgestellt habe und die Wilbrandt übrigens trotz seiner 25 Seiten gar nicht mitteilt. Durch den proletarischen Klassenkampf habe Marx den Begriff des Sozialismus eingeengt und verkürzt, und zwar in dreifacher Beziehung. Erstens habe das Proletariat bei dem Unterfangen, aus eigener Kraft die bürgerliche in die sozialistische Gesellschaft umzuwälzen, zu viel auf die eigenen Hörner genommen; über kurz oder lang trete der Zeitpunkt ein, wo es sich nach Bündnissen mit anderen Parteien oder der Regierung umsehen müsse (Revisionismus) und dann das reine Prinzip preisgebe. Damit hänge die „Vaterlandslosigkeit" zusammen, die der Arbeiterklasse die Herzen entfremdet habe und schließlich gar nicht zu ihrem Wesen gehöre, wie der Ausbruch des Weltkrieges gezeigt habe. Endlich enge der Klassenkampf den Sozialismus auf die Politik ein und verschmähe die praktisch aufbauende Arbeit, wofür sich Wilbrandt namentlich auf das englische Beispiel bezieht (Bau- und Siedlungsgenossenschaften, Gartenstädte, Berufsvereine, auch auf die „Pioniere von Rochdale"3 altehrwürdigen Gedenkens und ähnliches mehr).

Will man einmal auf diesen Gedankengang eingehen – denn der Klassenkampf gehört zum modernen Proletariat wie die Seele zum Leibe; er hat existiert, solange es ein solches Proletariat gibt, und es gehört keine besondere Prophetengabe dazu, vorherzusagen, dass er nach dem Weltkriege in bisher nie geahnter Heftigkeit auflodern wird –, so nennt Wilbrandt die „dritte gewaltsame Einengung" wohl nur deshalb den „wundesten Punkt" des Systems, weil er selbst auf diesem Gebiete mit Vorliebe tätig ist. Dass der proletarische Klassenkampf alle praktischen Versuche, die Qualen der bürgerlichen Gesellschaft zu lindern, auch wo sie nicht allein die arbeitenden Klassen treffen, stets gefördert hat, ist ja allgemein bekannt. Ebenso wenig ist der proletarische Klassenkampf je an den periodischen Anfällen von „Revisionismus" gescheitert. In dem zweiten Punkt kann sich Wilbrandt freilich auf den Zusammenbruch der Internationalen beim Ausbruch des Weltkrieges berufen, aber hier, wo seine Position verhältnismäßig am stärksten ist, ist seine Beweisführung am schwächsten. Er operiert mit so altbewährten Zitaten, wie: Ans Vaterland, ans teure, schließ' dich an usw., und er verschmäht selbst nicht die Räubergeschichte des Herrn Spargo, wonach Marx während der Pariser Kommune durch Lothar Bucher über Bismarcks Pläne unterrichtet worden sei und sie brühwarm den Communards mitgeteilt habe, um diese zum Kampf gegen Preußen anzuleiten. Wenn dann Wilbrandt wieder, um Marx zu entschuldigen, angibt, dass dieser ein glühender Anwalt des deutschen Einheitsgedankens gewesen sein „solle", so hat Marx doch wirklich klar und oft genug seine Stellung zu diesem Gedanken ausgesprochen, so dass man nicht auf Gerüchte darüber angewiesen ist. Im übrigen ist die Internationale beim Ausbruch des Weltkrieges nicht zum ersten, sondern zum zweiten Male zusammengebrochen; aber wenn sie nach ihrem ersten Verschwinden 17 Jahre gebraucht hat, um sich wieder aufzurichten, so hat es diesmal kaum 4 Jahre gebraucht, um ihre Vorhut in der russischen Revolution wiedererstehen zu lassen, gewaltiger und riesenhafter als jemals früher.

Gleichwohl behauptet Wilbrandt nicht, dass Marx „politisch" völlig abgetan sei. „Marx sinkt politisch. Wissenschaftlich und menschlich steigt er empor." Er sei als Erzieher auf dem Wege vom Proletariat aufs Katheder, zu seinem ursprünglichsten Beruf. „Nach dem Tode Professor für Professoren und – man erschrecke! – auch für Studenten, wird er auf diesem Umwege auch politisch wirken, ja vielleicht mit noch größerem Erfolg. Denn welcher von unseren Staatsmännern hat die Arbeiterfrage verstanden? Welcher die Sozialdemokratie? Das Studium des Kerns dieser Dinge, im ‚Kapital', wird auch zu der Persönlichkeit führen und zeigen: ein Mann! Sein Vorbild, die revolutionäre Kühnheit, wie nur wenige ganz Wahrhaftige sie haben, wird eine neue Jugend nicht verderben. Solche Männer brauchen wir." Wozu nur zu bemerken wäre: siehe die Lex Arons4!

Recht hat Wilbrandt aber darin, dass den Marxisten, die den Praktiker Marx verleugnen und nicht gleich den ganzen „Altmeister" zum alten Eisen werfen wollen, nichts übrig bleibt, als den Marxismus aufs tote Gleis der theoretischen Nationalökonomie zu schieben. Wilbrandt beruft sich namentlich auf die „treffende Beobachtung" Max Adlers: „Das kennzeichnet heute in augenfälligster Weise jeden marxistischen Politiker, dass er sich in erster Linie als Theoretiker fühlt, dass seine prinzipielle Stellung zu den Aufgaben der Politik vor allem die der theoretischen Kritik ist." Nur sollte Wilbrandt diese „treffende Beobachtung" nicht auf die "übrigen Marxisten" ausdehnen. Sie gilt nicht einmal für den kleinen Kreis der, wie Wilbrandt sie nennt, „Wiener-Jung-Marxisten"; Gustav Eckstein, der zu ihnen gehörte, hat sich in seiner letzten, erst nach seinem Tode erschienenen Schrift sehr wenig mit der Theorie abgegeben; sein letztes Wort ist vielmehr: Klassenkampf des Proletariats. Nur in der „deutschen Parteimehrheit" und, wie es scheint, auch in der österreichischen Sozialdemokratie tritt die „augenfälligste" Erscheinung Max Adlers hervor; die brigen Marxisten" halten an dem ganzen Marx fest, der eben vom Scheitel bis zur Sohle, in Theorie wie in Praxis in der russischen Revolution lebendiger wirkt als je.

Doch es mag genug sein, diese Episode des Marxismus flüchtig zu signalisieren. Eine Zukunft hat sie nicht und kann sie nicht haben. Es lohnt sich, von ihr nur Notiz zu nehmen, um der Verwirrung zu steuern, die sie zeitweise freilich anrichten kann.

1 Gemeint ist Heinrich Cunow: Mehrings Marx-Biographie. In: Die Neue Zeit, 36. Jg. 1917/18, Zweiter Band, S. 292-297.

2 Mehring meint hier seine „Lessing-Legende". Engels schrieb darüber an Mehring am 14. Juli 1893 (siehe Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 96-100).

* R. Wilbrandt, Karl Marx, Versuch einer Einführung. Leipzig und Berlin, Teubner, 1918. 135 S. (Mk. 1,25.)

3 Unter diesem Namen errichteten 1844 englische Arbeiter in Rochdale einen Konsumverein, der für die Genossenschaftsbewegung der Arbeiterklasse große Bedeutung erhielt. Die eigenen Produktionsstätten, die die Arbeiter dort errichteten, konnten sich unter den kapitalistischen Bedingungen nicht durchsetzen.

4 Reaktionäres preußisches Gesetz aus dem Jahre 1898, das die Universitätsprofessoren und -dozenten unter strengere Staatsaufsicht stellte und gegen das Einströmen sozialistischer Ideen und Überzeugungen in die Studentenschaft gerichtet war.

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