Franz Mehring 18951009 Einiges über den jungen Engels

Franz Mehring: Einiges über den jungen Engels1

9. Oktober 1895

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 65-69. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 30-36]

In der nachgelassenen Arbeit unseres Altmeisters Engels2, welche die „Neue Zeit" eben veröffentlicht hat, wird Herr Werner Sombart rühmlich erwähnt als der erste deutsche Universitätsprofessor, der eine unbefangene Stellung zu den Arbeiten von Marx einnehme. Es trifft sich, dass Herr Sombart gleichzeitig in einem bürgerlichen Wochenblatte einen historisch würdigenden Nachruf auf Engels zu veröffentlichen beginnt. Dieser Aufsatz zeichnet sich gleichfalls durch die Unbefangenheit aus, womit Herr Sombart den großen Vorkämpfern des revolutionären Sozialismus gerecht zu werden sucht. Gerade aber weil es sich lohnt, mit Herrn Sombart sachlich zu diskutieren, möchten wir einige Punkte seines Nekrologs, in denen er uns den wirklichen Sachverhalt mehr oder weniger verkannt zu haben scheint, etwas näher beleuchten.

In dem, was er über die gegenseitigen Beziehungen zwischen Marx und Engels in ihren Anfängen sagt, trifft er unseres Erachtens mehrfach das Richtige. Unstreitig ist auf ökonomischem Gebiete Engels anfangs der Gebende und Marx der Nehmende gewesen; von den ökonomischen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus hat Engels nicht alle, aber viele und wichtige zuerst gelegt. Dagegen war, wie Sombart meint, Engels seinem Freunde in der Fähigkeit des abstrakten, besonders mathematisch gerichteten Denkens nicht gewachsen. Soweit damit gesagt sein soll, dass Marx von beiden der philosophisch vielleicht begabtere und gewiss geschultere Kopf war, lässt sich nicht viel dagegen sagen. Eben dies hat auch wohl Engels gemeint, wenn er in einer von Sombart zitierten Äußerung sagte: „Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle."3 Den ökonomischen Sätzen, die Engels zuerst aufgestellt hat, hat Marx oft die „schließliche scharfe Fassung" gegeben. Aber trotz einer allgemeinen Ähnlichkeit fehlt dem Bilde, das Sombart von dem jungen Freundespaar entwirft, doch ein entscheidender Strich, nämlich die philosophische Anlage und Bildung, die Engels wenn nicht in demselben Maße wie Marx, so doch in hohem Maße besaß. Sie führte ihn gleichzeitig mit Marx, sei es auch auf anderen Pfaden, zu dem historischen Materialismus, zu dem Engels auf einseitig ökonomischem Wege niemals gelangt wäre. Diesen Punkt übersieht Sombart und gelangt demgemäß zu Urteilen über die ersten Arbeiten von Engels, die einigermaßen anfechtbar sind: anfechtbar nicht wegen tendenziöser Entstellung, aber wegen sachlich unzutreffender Auffassung.

Wir müssen darauf verzichten, näher darzulegen, was wir an Sombarts Urteilen über die frühesten Arbeiten von Engels auszusetzen hätten, über die Beiträge zu den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" und der „Heiligen Familie". Rücksichten auf den uns zugemessenen Raum hindern uns daran, denn um richtig zu würdigen, was mit diesen Arbeiten historisch getan war, müssten wir sehr weit ausholen, und das schenken wir uns um so lieber, als wir die historischen Zusammenhänge, um die es sich dabei handelt, demnächst an anderer Stelle ausführlich schildern werden. Sombart lässt den philosophischen Standpunkt ganz außer acht, von dem Engels ausging, sei es weil er selbst ihn nicht kennt, sei es in der gerechten Besorgnis, dass für bürgerliche Leser, die auf philosophischem Gebiet höchstens Nietzsches geistreiche oder geistreichelnde Kapriolen verstehen, Bruno Bauer, Feuerbach und so weiter doch böhmische Dörfer sein würden. Dabei kommt Engels aber sehr zu kurz. Übersieht man seinen philosophischen Standpunkt, so mag Sombart mit einem gewissen Rechte den ersten Aufsatz, den Engels zur Kritik der bürgerlichen Ökonomie veröffentlichte4, „ein reichlich konfuses Werklein" nennen; fasst man aber alle historischen Voraussetzungen dieser Arbeit zusammen, dann wird sie zu der „genialen Skizze"5, die Marx in ihr sah. Ganz ähnlich steht es mit der „Heiligen Familie", die Sombart ziemlich von oben herab im Vorbeigehen erwähnt. Gewiss: wer heute, und mag er ein noch so gebildeter und unterrichteter Mann sein, das Buch aufschlägt ohne die genaue Kenntnis des Höhestandes, den die ökonomische, politische, philosophische Diskussion um die Mitte der vierziger Jahre in England, Frankreich und Deutschland erreicht hatte, der glaubt in ein seit Menschengedenken nicht bewohntes Zimmer zu treten, von dessen Wänden dichte Spinnweben herunterhängen. Wer aber jene Kenntnis besitzt, der wird das Buch von der ersten bis zur letzten Seite mit dem gespanntesten Interesse lesen, ausgenommen etwa einige Längen in seiner zweiten Hälfte, die vermutlich durch die Notwendigkeit verschuldet sind, dass die Verfasser den Umfang von zwanzig Bogen überschreiten mussten, wenn sie das Werk der deutschen Zensur entreißen wollten.

Doch, wie gesagt, wir wollen hierauf nicht weiter eingehen und können uns für unseren Zweck auch an dem genügen lassen, was Sombart über die bedeutendste Jugendarbeit von Engels, die „Lage der arbeitenden Klasse in England", zu sagen hat. In ihr, meint er, sei die hervorragende und eigenartige Begabung des Verfassers erst hervorgetreten; kein Geringerer als Bruno Hildebrand, einer der Begründer der deutschen „historischen Schule" der Nationalökonomie, habe sie einer ausführlichen Widerlegung für wert gehalten. Indessen, wenn Hildebrands Nachweis, dass man die Dinge auch noch durch eine andere Brille ansehen könne, als Engels gewählt habe, sehr nützlich gewesen sein möge, so könne er doch der eigentümlichen Bedeutung der „Lage" keinen Eintrag tun. Diese Bedeutung liege in der historischen Auffassung wirtschaftlicher und sozialer Erscheinungen. Was uns heutzutage das tägliche Brot sei, das sei damals etwas Bedeutsames gewesen: die Dinge im Flusse der geschichtlichen Entwicklung zu sehen. Zwar sei Engels kein „historischer Kopf" gewesen, eher das Gegenteil davon. Der „historische Kopf" habe einen Abscheu vor jeder Verallgemeinerung, vor jedem Versuche, Regelmäßigkeit, Gesetzmäßigkeit in der Geschichte zu entdecken, er liebe das Individuelle, Konkrete, Persönliche, Absonderliche, er lebe von der Ausnahme. Dagegen liebe Engels die Verallgemeinerung; was er suche und was er vielleicht allzu rasch zu finden wähne, seien Gesetze, Entwicklungstendenzen. Und ihnen auf die Spur zu kommen, habe er entschieden die Befähigung. Engels bringe eine hinreichend theoretische Veranlagung und Schulung mit, um zu wissen, was er wolle, und das sollten sich die „Empiriker" und „Historiker in unserer Wissenschaft" gesagt sein lassen. Schließlich hebt Sombart noch hervor, dass Engels, indem er den nahen Sturz der bestehenden Ordnung als unvermeidliches Ergebnis der aus dem Kapitalismus selbst hervor gewachsenen Arbeiterbewegung betrachte, einen der Grundgedanken des späteren marxistischen Sozialismus angedeutet habe. Mehr aber könne er, Sombart, von dem positiven Teile der sozialistischen Evolutionstheorie in dem Buche nicht finden. Engels schildere im Wesentlichen das Elend nach, wie es rühre und empöre, wie es zu revolutionären Taten entflamme und dadurch Geschichte mache. Aber die „Keime einer höheren Gesellschaftsform" entdecke er in ihm noch nicht.

In diesem Punkte irrt Sombart nun aber vollständig. Engels entdeckt allerdings in dem Elend der arbeitenden Klassen die „Keime einer höheren Gesellschaftsform". Diesen bahnbrechenden Gedanken, der den wissenschaftlichen Kommunismus grundsätzlich schied von dem großbürgerlichen Utopismus wie von dem kleinbürgerlichen Sozialismus wie auch von dem naturwüchsigen Arbeiterkommunismus, haben Marx und Engels gleichzeitig gefasst, als sie noch völlig unabhängig voneinander waren: Er bildet gewissermaßen das Leitmotiv in ihren Aufsätzen für die „Deutsch-Französischen Jahrbücher". Marx erläutert ihn hier an der deutschen, Engels an der englischen Geschichte. Um den Beweis für Engels zu führen, genügt es schon, folgende Sätze zu zitieren: „… nur die Arbeiter, die Parias Englands, die Armen sind wirklich respektabel, trotz all ihrer Rohheit und all ihrer Demoralisation. Von ihnen geht die Rettung Englands aus, in ihnen liegt noch bildsamer Stoff; sie haben keine Bildung, aber auch keine Vorurteile, sie haben noch Kraft aufzuwenden für eine große nationale Tat – sie haben noch eine Zukunft. Die Aristokratie – und diese schließt heutzutage auch die Mittelklassen ein – hat sich erschöpft; was sie von Gedankengehalt aufzuwenden hatte, ist bis in die letzten Konsequenzen verarbeitet und praktisch gemacht, und ihr Reich geht mit großen Schritten seinem Ende entgegen."6 In der „Heiligen Familie" wird derselbe Gedanke von Marx wie von Engels schon viel entwickelter und klarer vertreten. Engels hat ihn dann aber zuerst in der „Lage" an einem großen historischen Entwicklungsprozesse ebenso einleuchtend wie scharfsinnig begründet. Es ist die vielleicht glänzendste Seite dieses an glänzenden Seiten so reichen Buches, und es ist schwer zu verstehen, wie Sombart gerade diese Seite so ganz hat übersehen können.

Der Geburtshelfer jenes Gedankens war aber bei Engels nicht weniger als bei Marx die deutsche Philosophie, der Humanismus Feuerbachs und die Dialektik Hegels. Wir müssen darauf zurückkommen, dass sich ohne diesen Schlüssel niemals verstehen lässt, was Engels und auch Marx in ihren Anfängen geleistet haben. Im Allgemeinen ist es ja ganz richtig, wenn Sombart meint, die Bedeutung der „Lage" bestehe darin, die wirtschaftlichen und sozialen Erscheinungen im Flusse der geschichtlichen Entwicklung zu sehen. Aber mit dieser Allgemeinheit ist noch sehr wenig gesagt, wie Sombart selbst gleich durch seine Definition des „historischen Kopfes" zeigt. Gewiss: wäre Engels nicht keineswegs bloß „eher", sondern sogar in schroffster Ausschließlichkeit das Gegenteil eines solchen „historischen Kopfes" gewesen, der das Absonderliche liebt und von der Ausnahme lebt, so würde er auf historischem Gebiete nichts geleistet haben. Näher kommt Sombart dem richtigen Sachverhalte, wenn er sagt, Engels habe eine hinreichend theoretische Veranlagung und Schulung für seine historischen Arbeiten mitgebracht. Indessen auch mit dieser Allgemeinheit ist noch nicht viel gesagt, und der entscheidende Gesichtspunkt ist kein anderer als die Tatsache, dass Engels die dialektische Methode der deutschen Philosophie auf den ökonomischen Entwicklungsprozess anwandte, was „uns", nämlich der deutschen Universitätsökonomie, längst noch nicht zum „täglichen Brot" geworden ist. Diese Tatsache unterscheidet Engels von den „historischen Köpfen" im Sinne Sombarts und auch von der „historischen Schule" der deutschen Nationalökonomie, deren „ausführliche Widerlegung" eine so ausbündige Ehre für den Verfasser der „Lage" gewesen sein soll. Noch emphatischer als Sombart drückt sich Herkner über diesen Punkt mit der komischen Hyperbel aus, Hildebrand habe durch seine Polemik gegen Engels „die sozialistischen Theorien vom fachökonomischen Standpunkt für universitätsfähig" erklärt. Man denke nur!

Die „historische Schule" der deutschen Nationalökonomie war ihrem Ursprünge nach ein Verlegenheitsmanöver, durch das sich die deutsche Universitätsökonomie aus dem Schussbereich der praktischen Tageskämpfe rettete. In den vierziger Jahren wurde die feudale Weltanschauung, der die offizielle Welt noch zum großen Teile anhing, heftig berannt von der kapitalistischen Weltanschauung, und dieser trat schon die sozialistische Weltanschauung hart auf die Fersen. In so drangvoll fürchterliche Enge gekeilt, flüchtete die deutsche Universitätsökonomie hinter einen in seiner Art mächtigen Scherbenberg von historischen Notizen und Notizchen und tauschte aus diesem sicheren Hinterhalte bald liebende, bald zürnende Blicke bald mit dem Feudalismus, bald mit dem Kapitalismus, bald mit dem Sozialismus. Wie bei dieser heroischen Retirade die Klassiker der bürgerlichen Ökonomie „historisch" verungenieret wurden, hat erst kürzlich Schüller in einer trefflichen Schrift gezeigt, die in diesen Blättern schon von anderer Seite angezeigt worden ist. Haupt der „historischen Schule" und Meister der „historischen Methode" war Wilhelm Roscher, und es ist bekannt, wie „historisch" sich dieser in seiner Art schwer gelehrte Mann fünfzig Jahre lang um alle ökonomischen Probleme herumgeredet hat, die während seines Lebens in Deutschland zur praktischen Entscheidung drängten und ihn vor ein klares Ja oder Nein stellten. Dieser „historischen Schule" entstammen die „historischen Köpfe", welche die großen Gesetze der historischen Entwicklung leugnen, weil deren Regelmäßigkeit hier oder da durch eine „absonderliche Ausnahme" – bestätigt wird.

So aber war auch die „historische Methode", womit Hildebrand seine „ausführliche Widerlegung" der „Lage" begründete. Sombart hat davon eine richtige Empfindung; er deutet an, dass die Lanze, die Hildebrand gegen Engels eingelegt habe, doch eigentlich in die Luft gefahren sei. Aber er deutet es nur an und spricht dann doch wieder davon, dass Hildebrand die historische Entwicklung nur durch eine andere Brille ansehe als Engels. Dies Bild trifft nicht zu. In einem richtigen Bilde stellt sich das Verhältnis vielmehr so dar, dass Hildebrand das klare Licht, welches Engels über die historische Entwicklung verbreitet hatte, durch eine dicke Staubwolke historischer Notizchen zu verfinstern sich bemühte. Engels hatte in der „Lage" nachgewiesen, dass die historische Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts ihren Schwerpunkt in der großen Industrie habe, dass diese Industrie eine immer schwindende Zahl von Kapitalisten allmächtig mache, eine immer wachsende Masse von Arbeitern gewaltsam entmensche. Er hatte aber auch nachgewiesen, dass kraft einer historischen Dialektik, deren Gesetze er im einzelnen an den Zuständen der englischen Großindustrie aufzeigte, die aufsteigende Bewegung der Kapitalisten umschlage in eine absteigende, die absteigende Bewegung der arbeitenden Klasse in eine aufsteigende, dass die politische Herrschaft auf die Dauer dem Proletariat zufallen müsse und dass damit der Anfang einer neuen Gesellschaft geschaffen sei, in der die große Industrie statt wie bisher ein Fluch vielmehr ein Segen der Menschheit sein werde. Was hat nun Hildebrand hiergegen einzuwenden?

Er schleppt einen Wust historischer und statistischer Notizen herbei, aus denen hervorgehen soll, dass die arbeitenden Klassen Englands in früheren Jahrhunderten noch übler daran gewesen seien als im neunzehnten Jahrhundert, dass die englischen Handwerker, Matrosen, Dienstboten besser daran seien als die Arbeiter in den Fabriken, im Acker- und Bergbau, deren Lage Engels allein schildere, dass – in der kurhessischen Provinz Oberhessen das handwerksmäßige Proletariat noch mehr zu leiden habe als das großindustrielle Proletariat in England, und ein paar ähnliche Einwände mehr. Gesetzt nun, Hildebrand hätte wirklich erwiesen, was zu erweisen er sich bemüht, was wäre damit gegen Engels bewiesen? Wie auf der Hand liegt: rein gar nichts. Hildebrand geht um alle entscheidenden Fragen herum, die Engels aufgeworfen hat, ganz nach der „historischen Methode" der „historischen Schule", und erklärt Engels für einen Phantasten, weil er in der kurhessischen Provinz Oberhessen nicht findet, was Engels auf dem Weltmarkt gefunden hat.

Seitdem haben fünfzig Jahre praktischer Erfahrungen entschieden, wer der „historische Kopf" gewesen ist, Engels oder Hildebrand. Ja, wir können die deutsche Universitätsökonomie für Engels und gegen Hildebrand in die Schranken rufen. Will man einen Augenblick in der Redeweise Herkners sprechen, so hat Hildebrand nicht die sozialistischen Theorien universitätsfähig gemacht – zu ihrem Glücke nicht! –, wohl aber hat die „Lage" von Engels die deutsche Universitätsökonomie wissenschaftsfähig gemacht, mag es auch dreißig und vierzig Jahre gewährt haben, bis sie der hartköpfigen Schülerin einige historisch-ökonomische Dialektik einzupauken vermochte. Die besten Arbeiten der deutschen Universitätsökonomie – und darunter auch Arbeiten Herkners und Sombarts – sind bekanntlich weit mehr nach dem Muster der „Lage" als nach der „historischen Methode" Hildebrands gearbeitet. Und gerade die Vorzüge von Sombarts Nachruf auf Engels haben uns veranlasst, ihn in einigen Punkten zu ergänzen, in denen et uns noch nicht erschöpfend zu sein scheint.

1 Siehe auch Mehrings Artikel „Einiges zur Parteigeschichte". In: Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Erster Band, S. 545-548.

4 Gemeint ist Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie. In: Ebenda, Bd. 1, S. 499-524. Diese frühe Arbeit von Engels erschien 1844 in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern".

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