Franz Mehring 19080300 Einleitung zu Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg

Franz Mehring: Einleitung zu Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg

März 1908

[Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Fr. Mehring, Berlin 1908, S. 5-15. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 44-53]

In der Vorbereitung zum zweiten. Abdruck dieser Schrift1 hat Friedrich Engels dargelegt, wann und unter welchen Umständen er sie verfasste. Sie ist unter dem weißen Schrecken von 1850 entstanden, und sie bezeugt auch an ihrem Teil ebenso die tiefe Einsicht wie den ungebeugten Mut, womit Marx und Engels den Schlägen der Gegenrevolution trotzten.

Während sich die deutschen und überhaupt die kontinentalen Flüchtlinge, die in London zusammengeströmt waren, halb in ohnmächtigen Hoffnungen berauschten und halb in ohnmächtigem Zorne verzehrten, suchten Marx und Engels die Selbstverständigung über die Kämpfe und Leiden der Zeit, die von Anbeginn ihrer gemeinsamen Tätigkeit wie ihr stärkster Antrieb so ihr höchstes Ziel gewesen war. In der kritischen Untersuchung der revolutionären und konterrevolutionären Kräfte erprobten sie zum ersten Male die ganze Schärfe der Waffe, die sie sich im historischen Materialismus geschmiedet hatten, und gaben die ersten Proben ihrer unvergleichlichen Fähigkeit, praktische Propaganda und wissenschaftliche Forschung unlöslich zu verschmelzen.

Im Anfange des Jahres 1850 waren sie noch nicht zu der Erkenntnis gelangt, dass die revolutionäre Flut unaufhaltsam verebbe, die durch die Pariser Februartage des Jahres 1848 entfesselt worden war. Sie riefen damals die „Neue Rheinische Zeitung" von neuem ins Leben, als politisch-ökonomische Monatsschrift, in der sie sich über den bisherigen Gang der Revolution klar zu werden suchten: Marx namentlich, indem er die französische Entwicklung vom Jahre 1848-1850, Engels namentlich, indem er die deutsche Reichsverfassungskampagne von 1849 einer kritischen Prüfung unterzog. Beide Arbeiten sind neu gedruckt worden; die von Marx als besondere, noch von Engels besorgte und eingeleitete Schrift, unter dem Titel „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850" (Berlin 1895, Verlag des Vorwärts); die von Engels in der Ausgabe, die ich aus dem literarischen Nachlass von Marx, Engels und Lassalle veranstaltet habe (Dritter Band, Stuttgart 1902, Verlag von J. H. W. Dietz Nachf.).

So bedeutend diese Arbeiten waren und so hoch sie von sachkundigen Urteilern sofort bei ihrem Erscheinen eingeschätzt wurden, so hatte das neue publizistische Unternehmen der beiden Freunde doch weder Glück noch Stern. Ein langes Leben hatten sie selbst freilich ihm nicht prophezeit, aber sie hatten auf eine ganz andere Todesart gehofft; am 19. Dezember 1849 meinte Marx, dass nach Erscheinen von drei, vielleicht vier Monatsheften der Weltbrand ausbrechen werde. Stattdessen erloschen aber die letzten Flammen der Revolution. Es kam manches zufällige Ungemach dazu; Krankheit von Marx hinderte das rechtzeitige Erscheinen der Hefte; auch war der Drucker in Hamburg nicht auf dem Posten. Im Mai 1850 schrieb Frau Marx an ihren und ihres Gatten Freund Weydemeyer: „Das einzige, was mein Mann wohl von denen verlangen konnte, die manchen Gedanken, manche Erhebung, manchen Halt von ihm hatten, war, bei seiner ,Revue' mehr geschäftliche Energie, mehr Teilnahme zu entwickeln. Das bin ich so stolz und kühn zu behaupten, das wenige war man ihm schuldig. Auch weiß ich nicht, ob mein Mann nicht mit vollem Recht 10 Sgr. an seinen Arbeiten verdient hat. Ich glaube, es war dabei niemand betrogen. Das schmerzt mich. Aber mein Mann denkt anders. Er hat noch nie, selbst in den schrecklichsten Momenten, die Sicherheit der Zukunft, selbst den heitersten Humor verloren."2 Der Schmerzensschrei der edlen Frau war berechtigt, aber auch die treuesten Freunde ihres Mannes mussten ihre Ohnmacht bekennen. Lassalle, der am Rhein sich um Abonnenten bemühte, schrieb nach London, man müsse wie ein Hamster alle Erdlöcher durchkriechen, um einen Demokraten zu finden, und Weydemeyer selbst, der von Frankfurt aus die Propaganda für die Revue unter den süddeutschen Parteigenossen betrieb, hatte bis zum Juni 1850 nur etwa 54 Gulden eingenommen.

Aber Marx und Engels verloren in der Tat die Sicherheit der Zukunft nicht. Nachdem das halbwegs regelmäßige Erscheinen der Revue schon mit dem vierten Hefte, im April 1850, aufgehört hatte, ließen sie im November 1850 noch ein Doppelheft erscheinen, worin sie nicht beweglich oder zornig darüber klagten, dass die Revolution erloschen sei, sondern wissenschaftlich untersuchten, weshalb sie hatte erlöschen müssen. In einem ökonomisch-politischen Überblicke, der ebenfalls im dritten Bande meiner Nachlassausgabe neu gedruckt worden ist, über die Zeit von Mai bis Oktober 1850, kamen sie zu dem Ergebnis: „Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein? Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese."3 In diesem letzten Doppelhefte der Revue erschien nun auch die Arbeit von Friedrich Engels über den deutschen Bauernkrieg, die „gegenüber der augenblicklichen Erschlaffung, die sich nach zwei Jahren des Kampfes fast überall zeigt, die ungefügen, aber kräftigen und zähen Gestalten"4 aus den Revolutionskämpfen des sechzehnten Jahrhunderts dem deutschen Volke wieder vorführen wollte. Man wird in ihr vergebens nach irgendeiner Spur der Entmutigung suchen; fern von allen Fanfaronaden, atmet sie doch ungebrochene und ungetrübte Kampflust.

Irgendwelche selbständige Quellenstudien hat Engels für seine Arbeit nicht gemacht, wie er selbst schon in einer Fußnote des ersten, dann aber auch in der Vorbemerkung des zweiten Abdrucks hervorhebt. In allem Tatsächlichen stützt er sich auf Zimmermanns Geschichte des Bauernkrieges, die auch heute noch, obgleich sie nicht nur, wie Engels im Jahre 1870 von ihr sagte, hier und da lückenhaft, sondern auch in manchen Einzelheiten veraltet sein mag, immer noch die beste Zusammenstellung des Tatsächlichen bietet; an der Darstellung revolutionärer Bewegungen haben die bürgerlichen Historiker je länger je mehr jeden Geschmack verloren. Es ist allein die historische Methode, die dieser Arbeit von Engels ihren eigentümlichen Wert gibt. Engels scheidet und verbindet den historischen Stoff, den Zimmermann gesammelt hat, nach den leitenden Gesichtspunkten des historischen Materialismus und kontrolliert die Richtigkeit seiner Auffassung durch eine Parallele zwischen den deutschen Revolutionen von 1525 und von 1848, ihre Gleichheiten und Ungleichheiten abwägend mit der sachlichen Ruhe des Forschers, die ihm wie Marx niemals abhanden kam, am Tage der Niederlage sowenig wie am Tage des Sieges.

So bedeutete die Schrift zur Zeit ihres Erscheinens einen entscheidenden Fortschritt in der historischen Erkenntnis des Reformationszeitalters, dessen Bild bis dahin in verschwimmenden Umrissen schwankte, verhüllt, wie es war, durch die Schleier der religiösen Ideologie. Indem Engels die ökonomischen Triebkräfte der Zeit enthüllte als die in letzter Instanz entscheidenden Hebel ihrer Entwicklung, sanken jene Schleier, und das bunt schimmernde Bild der durcheinander tobenden Interessen entwirrte sich, beleuchtet durch die neuen Produktivkräfte, die an verlebten Produktionsformen rüttelten. Entrissen der Gunst und dem Hass der Parteien, erschienen die Hutten, die Luther, die Müntzer nicht mehr in dem trügerischen Lichte von Männern, die die Geschichte machen, sondern als lebendige Gestalten in ihrem eigenen Licht, erkennbar bis auf jede Falte der Stirn und jede Furche der Wange, als die Vorkämpfer von Klassen, die in einer weltumwälzenden Zeit auf Tod und Leben miteinander rangen.

Zunächst ging die Schrift unter in den Strudeln der Gegenrevolution, und noch nahe an zehn Jahre nach ihrem Erscheinen konnte selbst ein Mann wie Lassalle mit Marx und Engels streiten über die historischen Fragen, die sie aus dem Grunde geschlichtet hatte. Jedoch nach zwanzig Jahren durfte Engels sie zum zweiten Male herausgeben, sei es auch nur mit dem Geständnis, dass sie zu seinem Leidwesen immer noch zeitgemäß sei.

Es geschah im Jahre 1870, am Vorabend des Deutsch-Französischen Krieges. Die Sieger über die deutsche Märzrevolution waren durch den unerbittlichen Gang der ökonomischen Entwickelung gezwungen worden, selbst ihre Erben zu werden; was der Revolution von unten nicht gelungen war, dank der Feigheit der deutschen Bourgeoisie, die nationale Einigung Deutschlands, das war nun durch die Revolution von oben begonnen worden. Allein was solche Revolutionen fertig bringen, ist immer nur ein Flick- und Stückwerk, und so war auch in der deutschen Arbeiterbewegung, die mit dem Jahre 1863 von neuem eingesetzt hatte, ein bitterer Streit entstanden, nicht über die Revolution von oben als solche, auch nicht über die völlige Unzulänglichkeit ihrer Ergebnisse, sondern darüber, ob sie als eine zunächst unwiderrufliche Tatsache anzuerkennen und auf dem von ihr geschaffenen Boden zu bekämpfen sei, oder ob sie wieder aus der Welt geschafft werden müsse durch eine Revolution von unten, die dann die nationale Einheit schaffen werde.5

Es war darüber im August des Jahres 1869 zu einer völligen Spaltung der jungen Arbeiterpartei in Deutschland gekommen, in die beiden Fraktionen der Lassalleaner und der Eisenacher, von denen die Lassalleaner den damaligen Norddeutschen Bund als historische Tatsache annahmen, ohne damit ihren sozialistischen Prinzipien irgend etwas zu vergeben, während die Eisenacher, ebenfalls unter strengster Beobachtung ihrer sozialistischen Prinzipien, doch enge Fühlung halten wollten mit der damaligen Volkspartei, die in Norddeutschland allerdings nur, außer etwa im Königreich Sachsen, einige zerstreute Anhänger musterte, aber stärker in den süddeutschen Staaten vertreten war, die bekanntlich in den Jahren 1866-1870 den zweifelhaften Vorzug genossen, europäische Mächte auf eigene Faust zu spielen. Diese Fühlung hatte jedoch für die Eisenacher Fraktion alsbald sehr peinliche Folgen. Die Fraktion war gerade einen Monat alt, als die Internationale ihren vierten Kongress in Basel abhielt und sich hier für das Recht der Gesellschaft entschied, den Grund und Boden in Gemeineigentum zu verwandeln.6

Darüber geriet die brave Volkspartei aus dem Häuschen und lärmte wie besessen gegen das „herrschsüchtige Knotentum" der Internationalen, die sie als Helfershelferin Bonapartes und Bismarcks denunzierte. So stand die Eisenacher Fraktion vor der Wahl, diese bürgerlichen Freunde oder ihre sozialistischen Prinzipien zu verleugnen. Jedes Ausweichen war umso weniger möglich, als die Lassalleaner sich sofort für die Baseler Beschlüsse erklärten und es von ihrem bisher vertretenen Standpunkt aus auch mit gutem Rechte konnten. Dennoch versuchte, zwar nicht die damals in Braunschweig sitzende Parteileitung der Eisenacher, die vielmehr eine offizielle Kundgebung zugunsten der Baseler Beschlüsse erlassen wollte, aber Liebknecht als Redakteur des Parteiorgans, des in Leipzig erscheinenden „Volksstaats", ein solches Ausweichen; er wollte, wie er nach Braunschweig schrieb, nicht vorzeitig mit der Volkspartei in Krakeel geraten und hielt es für ausreichend, wenn das Parteiorgan die Baseler Beschlüsse nur nicht verleugne.7 Allein, wenn solche Halbheit sonst gar nicht in Liebknechts Art lag, so machte er mit ihr besonders schlechte Erfahrungen. Die Lassalleaner spotteten nun, dass die Eisenacher sich nicht zum Kardinalsatze des wissenschaftlichen Kommunismus, nicht zur „Schule von Karl Marx" zu bekennen wagten, während die Biedermänner der Volkspartei auf einer ausdrücklichen Verleugnung der Baseler Beschlüsse bestanden. Natürlich kam Liebknecht alsbald zur Erkenntnis seines Irrtums, und schon im Januar 1870 schilderte er die Volkspartei vollkommen zutreffend als eine durch Zufall zusammen gewürfelte Gelegenheitspartei, die nichts weiter als poltern könne und den Norddeutschen Bund nimmermehr gefährden werde.

Unter dem frischen Eindruck solcher Vorgänge hat Engels seine Vorbemerkung zum zweiten Abdruck dieser Schrift verfasst. Die Eisenacher wollten im Gegensatze zu den Lassalleanern die eigentlichen Marxisten sein, und in der Tat standen Marx und Engels in den damaligen inneren Parteistreitigkeiten zu ihnen. Auf Liebknechts Wunsch hatte Engels den Abdruck seiner Arbeit über den deutschen Bauernkrieg im „Volksstaat" und dann auch ihre Herausgabe als besondere Schrift gestattet; deshalb sagt seine Vorbemerkung den Eisenachern aber doch ebenso derbe wenn nicht derbere Wahrheiten als den Lassalleanern. Es mag dahingestellt bleiben, ob es auf einzelne Führer der Lassalleaner gemünzt ist, wenn Engels ausführt, jeder Arbeiterführer, der sich auf das Lumpenproletariat stütze, beweise sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung; ähnliche Vorwürfe sind dazumal wohl in der Hitze des Kampfes, wenn auch ohne Grund, erhoben worden. Jedenfalls vertrat Engels unzweideutig den einseitigen Standpunkt der Eisenacher, wenn er meinte, an der „Haupt- und Staatsaktion" von 1866 interessierten die Arbeiter zwar einzelne Punkte – die entweder etwas weit hergeholt waren, wie die verlorene Unschuld der preußischen Krone, seitdem sie drei andere Kronen von Gottes Gnaden verschluckt habe, oder gerade von den Lassalleanern in erster Reihe betont wurden, wie die Erlangung des allgemeinen Stimmrechts –, allein an den gesellschaftlichen Verhältnissen Deutschlands hätte das Jahr 1866 „fast nichts" geändert.8 Um die Übertreibung in diesem Urteil richtig zu stellen, genügt es, an eine spätere Äußerung zu erinnern, worin Engels sagt, in den Jahren 1866-1870 seien die bürgerlichen Reformen, deren das damalige Deutschland bedurfte, wenn auch im Vergleich mit den westeuropäischen Kulturvölkern spät und unvollkommen, so doch „rasch und im ganzen in liberaler Weise" hergestellt worden.

Mitten in dieser Auseinandersetzung erklärte Engels aber schon, dass Nationalliberalismus und Volkspartei nur die entgegengesetzten Pole einer und derselben Borniertheit seien, was immerhin auch ein deutlicher Wink an die Adresse der Eisenacher war. Die außerordentliche Treffsicherheit dieser Prophezeiung bedarf heute, wo die kümmerlichen Reste der famosen Volkspartei in holder Gemeinschaft mit den Nationalliberalen im Joche der Blockpolitik keuchen, keines Beweises mehr. Ein nicht minder deutlicher Wink an die Adresse der Eisenacher waren dann die Schlusssätze in der Vorbemerkung von Engels. Er hebt in ihnen hervor, dass die Baseler Beschlüsse über das Gemeineigentum am Grund und Boden gerade für Deutschland höchst zeitgemäß gewesen seien, wo von dem Tage ab, an dem die Masse des ländlichen Proletariats ihre eigenen Interessen zu verstehen gelernt habe, eine bürokratische, feudale, reaktionäre oder bürgerliche Regierung unmöglich sein werde. Und es bedarf abermals keiner eingehenden Ausführung darüber, wie überaus zeitgemäß auch heute noch die Ausführungen sind, die Engels über diese Frage macht.

Eine beiläufige Äußerung in seiner Vorbemerkung macht dagegen noch eine kurze Erläuterung notwendig: Engels spricht davon, dass „die wunderbar schlechte Strategie der Preußen bei Sadowa über die, wunderbarerweise noch schlechtere, der Östreicher"9 gesiegt habe. Darin scheint, wenigstens soweit es auf die preußische Strategie ankommt, eine unschöne Tendenz der Schwarzmalerei zu liegen. Indessen braucht man sich nur die näheren Umstände zu vergegenwärtigen, wodurch dies Urteil veranlasst worden ist, um seine Berechtigung vollkommen anzuerkennen. Engels hatte bereits über die „Eleganz" der Siege gespottet, die die Preußen im deutsch-dänischen Kriege erfochten haben wollten, was natürlich auch auf den Neid der „Schwefelbande" in London geschoben wurde, während man heute selbst in dem preußischen Generalstabswerk über den Krieg von 1864 nachlesen kann, wie verpfuscht dieser Feldzug von preußischer Seite worden ist. Der alte Wrangel hat ihn als halb unzurechnungsfähiger Gamaschenknopf geführt.

Ebenso ruinierte nun auch der alte Wilhelm in eigener Person schon in der Anlage den Feldzug von 1866: durch seine glorreiche Politik, die der wütende Bismarck mit den Worten kennzeichnete, kaum habe man den alten Schimmel an dem Graben gespornt, so scheue er mit einem mächtigen Satze zurück. Auch darüber kann man jetzt aus der amtlichen Literatur über den Krieg von 1866 alle wünschenswerte Klarheit schöpfen. Moltke rettete dann allerdings die verfahrene Situation durch den kühnen Entschluss, die verlorene Zeit dadurch wieder einzubringen, dass er die preußischen Truppen nicht erst irgendwo rückwärts im Lande versammelte, sondern sie konzentrisch, zuletzt in zwei großen Gruppen, aus der Lausitz und aus Sachsen nach Böhmen führte. Allein dieser Pfad des Sieges ging haarscharf am Abgrunde einer zerschmetternden Niederlage vorüber, zu der es unzweifelhaft gekommen wäre, wenn die Strategie des alten Benedek wunderbarerweise nicht noch schlechter gewesen wäre als die Strategie des alten Wilhelm.

Konnte Engels seine Schrift noch zwanzig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen zeitgemäß nennen, so dürfen wir ihr diesen – in gewissem Sinne ja freilich leidigen – Vorzug noch vierzig Jahre nach ihrem zweiten Abdruck nicht bestreiten. Engels selbst hat sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt viel mit dem Gedanken beschäftigt, sie von neuem herauszugeben, in erweiterter und vertiefter Gestalt, und nur die Überlast anderer Arbeit hat ihn daran gehindert. Am 31. Dezember 1884 schrieb er an Sorge: „Meinen ‚Bauernkrieg' arbeite ich ganz um. Wird Angelpunkt der ganzen deutschen Geschichte. Das gibt auch Arbeit. Aber die Vorstudien sind so gut wie fertig."10

Dann schrieb er an mich, am 14. Juli 1893, indem er mich ermunterte, die Darstellung der friderizianischen Zeit, die ich in meinem Buch über Lessing gegeben hatte, auf die ganze preußische Geschichte auszudehnen: „… gemacht werden muss es ja doch einmal, ehe der Rumpelkasten zusammenbricht; die Auflösung der monarchisch-patriotischen Legenden ist, wenn auch nicht grade eine notwendige Voraussetzung der Beseitigung der die Klassenherrschaft deckenden Monarchie (da eine reine, bürgerliche Republik in Deutschland überholt ist, ehe sie zustande kam), aber doch einer der wirksamsten Hebel dazu.

Dann werden Sie auch mehr Raum und Gelegenheit haben, die preußische Lokalgeschichte als Stück der deutschen Gesamtmisere darzustellen. Es ist das der Punkt, wo ich von Ihrer Auffassung hier und da etwas abweiche, namentlich in der Auffassung der Vorbedingungen der Zersplitterung Deutschlands und des Fehlschlagens der deutschen bürgerlichen Revolution des 16. Jahrhunderts. Wenn ich dahin komme, die historische Einleitung zu meinem ,Bauernkrieg' neu zu bearbeiten, was, wie ich hoffe, nächsten Winter geschieht, dann werde ich die bezüglichen Punkte dort entwickeln können. Nicht dass ich die von Ihnen angegebnen für unrichtig hielte, aber ich stelle andre daneben und gruppiere etwas anders.

Beim Studium der deutschen Geschichte – die ja eine einzige fortlaufende Misere darstellt – habe ich immer gefunden, dass das Vergleichen der entsprechenden französischen Epochen erst den rechten Maßstab gibt, weil dort das grade Gegenteil von dem geschieht, was bei uns. Dort die Herstellung des Nationalstaats aus den zersplitterten Gliedern des Feudalstaats, grade als bei uns der Hauptverfall. Dort eine seltne objektive Logik in dem ganzen Verlauf des Prozesses, bei uns öde und stets ödere Zerfahrenheit. Dort repräsentiert der englische Eroberer im Mittelalter in seiner Einmischung zugunsten der provenzalischen Nationalität gegen die nordfranzösische die fremde Einmischung; die Engländerkriege stellen sozusagen den 30-jährigen Krieg vor, der aber mit der Vertreibung der ausländischen Einmischung und der Unterwerfung des Südens unter den Norden endigt. Dann kommt der Kampf der Zentralmacht mit dem sich auf ausländische Besitzungen stützenden burgundischen Vasallen, der die Rolle von Brandenburg-Preußen spielt, der aber mit dem Sieg der Zentralmacht endigt und die Herstellung des Nationalstaats endgültig macht. Und grade in dem Moment bricht bei uns der Nationalstaat vollständig zusammen (soweit man das ,deutsche Königtum' innerhalb des Heiligen Römischen Reichs einen Nationalstaat nennen kann), und die Plünderung deutsches Gebiets auf großem Maßstab fängt an. Es ist ein im höchsten Grad für den Deutschen beschämender Vergleich, aber eben darum umso lehrreicher, und seitdem unsre Arbeiter Deutschland wieder in die erste Reihe der geschichtlichen Bewegung gestellt haben, können wir die Schmach der Vergangenheit etwas leichter schlucken.

Ganz besonders bezeichnend für die deutsche Entwicklung ist noch, dass die beiden Teilstaaten, die schließlich ganz Deutschland unter sich geteilt, beides keine rein deutschen, sondern Kolonien auf erobertem slawischem Gebiet sind: Österreich eine bayrische, Brandenburg eine sächsische Kolonie, und dass sie, sich Macht in Deutschland verschafft haben nur dadurch, dass sie sich auf fremden, undeutschen Besitz stützten: Österreich auf Ungarn (von Böhmen nicht zu sprechen), Brandenburg auf Preußen. An der am meisten bedrohten Westgrenze fand so was nicht statt, an der Nordgrenze überließ man den Dänen, Deutschland gegen die Dänen zu schützen, und im Süden war so wenig zu schützen, dass die Grenzwächter, die Schweizer, sich sogar selbst von Deutschland losreißen konnten!"11

Und noch wenige Monate vor seinem Tode, am 21. Mai 1895, schrieb Engels an Kautsky in einer Kritik von dessen „Vorläufern des Sozialismus": „Ich habe aus dem Buch sehr viel gelernt; für meine Neubearbeitung des ,Bauernkriegs' ist es eine unentbehrliche Vorarbeit. Die Hauptfehler scheinen mir zwei: 1. Sehr mangelhafte Untersuchung der Entwicklung und Rolle der ganz außerhalb der feudalen Gliederung stehenden, deklassierten, fast pariamäßig gestellten Elemente, die unvermeidlich mit jeder Stadtbildung aufkommen mussten und die unterste, rechtlose Schicht jeder Stadtbevölkerung im Mittelalter bilden, los von Markgenossenschaft, feudaler Abhängigkeit und Zunftverband. Das ist schwer, aber es ist die Hauptbasis, denn allmählich, mit Auflösung der Feudalbande, wird dies das Vorproletariat, das 1789 in den Pariser Faubourgs die Revolution machte, absorbiert alle Auswürflinge der feudalen und zünftigen Gesellschaft. Du sprichst von Proletariern, der Ausdruck schielt, und ziehst die Weber hinein, deren Wichtigkeit Du ganz richtig schilderst – aber erst seitdem es deklassierte, nichtzünftige Weberknechte gab, und nur soweit es deren gab, kannst Du diese zu Deinem Proletariat rechnen. Hier ist noch viel nachzuholen.

2. Hast Du die Weltmarktstellung – soweit davon die Rede sein kann, die internationale ökonomische Stellung Deutschlands Ende des XV. Jahrhunderts nicht voll erfasst. Diese Stellung erklärt allein, weshalb die bürgerlich-plebejische Bewegung in religiöser Form, die in England, den Niederlanden, Böhmen erlag, im 16. Jahrhundert in Deutschland einen gewissen Erfolg haben konnte: den Erfolg ihrer religiösen Verkleidung, während der Erfolg des bürgerlichen Inhalts dem folgenden Jahrhundert und den Ländern der inzwischen entstandnen neuen Weltmarktsrichtung vorbehalten blieb: Holland und England. Das ist ein langes Thema, das ich beim ‚Bauernkrieg' in extenso darzustellen hoffe – wär' ich erst dabei!"12

Es hat nicht dazu kommen sollen, was wir um so mehr beklagen dürfen, je fruchtbarer und vielseitiger die Gesichtspunkte sind, die Engels für diese neue Gestaltung seiner alten Schrift ins Auge gefasst hatte.

Deshalb dürfen wir freilich nicht gering schätzen, was wir an dieser Schrift besitzen. Sie wiederum herauszugeben und den Arbeitern zugänglich zu machen ist nicht nur eine Pflicht schuldiger Pietät gegen den um die Arbeitersache so hochverdienten Verfasser. Die Schrift ist vielmehr heute noch eine Waffe kräftiger Propaganda, geeignet wie keine andere, dem modernen Proletarier die deutsche Revolution in dem historischen Kern ihres Wesens lebendig zu machen, nicht nur seine historischen Kenntnisse zu erweitern, sondern auch das richtige Verständnis der Aufgaben zu schärfen, die sein heutiger Emanzipationskampf zu lösen hat.

In manchen Partien ist sie durch die Darstellungen überholt, die Kautsky in seinem „Thomas More" und seinen „Vorläufern des Sozialismus" vom Zeitalter der Reformation gegeben hat; vieles, was Engels nur andeutet, ist bei Kautsky feiner und reicher ausgeführt, und wer, angeregt durch die vorliegende Schrift, nun auch zu jenen Büchern Kautskys greift, wird doppelten Gewinn davontragen. Aber wie sie zuerst die großen Grundzüge der deutschen Bauernrevolution klargelegt hat, so bleibt sie unübertroffen als erste Einführung in das gründliche Verständnis einer denkwürdigen und für jeden deutschen Arbeiter dreimal denkwürdigen Zeit

2 Jenny Marx an Joseph Weydemeyer in Frankfurt a. M., 20. Mai [1850]. In: Ebenda, Bd. 27, S. 609/610. 45

5 In diesem und in den folgenden Abschnitten kommt Mehrings unrichtige Einschätzung der Situation in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck. Nicht die Gründung der Eisenacher Partei, sondern die opportunistische Theorie und Taktik Lassalles und das Sektierertum der Lassalleaner, die Bismarcks Revolution von oben unterstützten, hatte die Spaltung in die junge deutsche Arbeiterbewegung getragen.

6 Der Baseler Kongress der I. Internationale fand vom 5. bis 11. September 1869 statt. Der Beschluss über die Grund- und Bodenfrage ist abgedruckt in: Die I. Internationale in Deutschland (1864-1872). Dokumente und Materialien, Berlin 1964, S. 427.

7 Mehring reduziert hier die Haltung der Eisenacher Partei zu den Baseler Beschlüssen zu sehr auf Liebknechts „diplomatisieren" und übersieht, dass neben der Parteileitung in Braunschweig auch August Bebel die Baseler Beschlüsse bereits auf seiner Agitationsreise durch Süddeutschland im November 1869 gegen die Angriffe der Volkspartei verteidigt hatte. Auch der Parteikongress der Eisenacher, der im Juni 1870 in Stuttgart stattfand, unterstützte die von Bebel vorgeschlagene Resolution im Sinne der Baseler Beschlüsse der I. Internationale.

10 Engels an Friedrich Adolph Sorge in Hoboken, 31. Dez. 1884. In: Ebenda, Bd. 36, S. 264.

11 Engels an Franz Mehring in Berlin, 14. Juli 93. In: Ebenda, Bd. 39, S. 98-100.

12 Engels an Karl Kautsky in Stuttgart, 21. Mai 95. In: Ebenda, S. 482/483.

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