Franz Mehring 19050726 Friedrich Engels

Franz Mehring: Friedrich Engels

Juli 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 553-555. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 37-40]

Am 5. August dieses Jahres vollenden sich zehn Jahre, seitdem Friedrich Engels für immer die Augen geschlossen hat, nicht sowohl am Schlusse, als auf der Höhe eines glücklichen und reichen Lebens. Ihm war vergönnt, jung zu bleiben bis ins biblische Alter hinein, und ins Greisenalter fiel der Schwerpunkt seiner historischen Wirksamkeit, wie bei Lassalle ins Jugend- und bei Marx ins Mannesalter.

Freilich wäre es falsch, daraus zu schließen, dass Engels ein langsam reifender Geist gewesen sei. Er war vielmehr ein frühreifer Kopf, wie Lassalle und auch Marx. Ja, in noch jüngerem Lebensalter als diese schrieb er ein epochemachendes Werk, ein Buch von bleibender Bedeutung, die erste große Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus. Er zählte erst vierundzwanzig Jahre, als er die Schrift über die Lage der arbeitenden Klasse in England verfasste. Ein so glänzender Eintritt in die Wissenschaft, in so jungen Jahren, ist immer ein sehr seltener Erfolg, ist ein umso untrüglicherer Beweis des Geistes und der Kraft, als sich die stete Entwicklung eines halben Jahrhunderts daran geknüpft hat. Der Greis hat nur vollendet, was der Jüngling versprochen hatte.

Als Engels seinen bahnbrechenden Erstling verfasste, war er bereits mit Karl Marx bekannt. Sie hatten nicht nur Briefe miteinander gewechselt, sondern auch einige Tage persönlich verkehrt und den Plan einer gemeinsamen Schrift entworfen, die später unter dem Titel „Die Heilige Familie" erschienen ist. Allein, auf das Buch über die Lage der englischen Arbeiterklasse hat Marx keinen Einfluss geübt, in keinem Sinne; es trug ihm vielmehr vieles entgegen, was ihm noch fremd war. Aber schon wenige Jahre später, als sie gemeinsam das Kommunistische Manifest verfassten, stand Engels in zweiter Reihe, wie er selbst immer mit allem Nachdruck betont hat. Und so als der fähigste zwar und der treueste, aber doch immer nur als der Helfer seines Freundes kämpft er die Revolutionsjahre durch und verschwindet dann fast für ein Menschenalter – bis auf spärliche Lebenszeichen – von der öffentlichen Bühne. Darauf tritt er, ein fast sechzigjähriger Mann, mit seiner zweiten großen Schrift hervor, die wieder bahnbrechend in die Geschichte des wissenschaftlichen Sozialismus eingreift1, und indem er die Waffen aufnimmt, die der müden Hand des sterbenden Freundes entgleiten, ist er noch eine lange Reihe von Jahren der erste Mann der internationalen Arbeiterbewegung.

Was ihm Morgen und Mittag versagt hatten, das hat ihm der Abend in reicher Fülle gegeben. Wie Engels selbst meinte: in überreicher Fülle, wenn er auch wohl zugab, dass ihm sein Schicksal manches schuldig geblieben sei. In der Tat – seine Freundschaft mit Karl Marx ist das große Glück, aber auch das geheime Leid seines Lebens gewesen. Er hat ihr manches opfern müssen, was zu opfern selbst dem tapferen Manne schwer fällt, aber es ehrt ihn mehr, als die größte Geistestat ihn ehren könnte, dass er nicht leidigen und verdrossenen Mutes, sondern in freier Hingebung dem größeren Genius huldigte. Da er wusste, was die Kraft eines Marx für die Arbeiterschaft bedeutete, so wusste er sich zu bescheiden, und wenn manches nicht unbeträchtliche Talent an dem Genius zerschellte, an dem es neidisch aufbegehrte, so ist Engels – und ähnliches gilt von Lassalle – eben dadurch der Pair2 des Meisters geworden, dass er ihm ohne jede Spur von Eifersucht zur Seite trat.

Es hieße müßigen Träumen nachhängen, wenn man darüber spintisieren wollte, was aus Engels oder aus Marx geworden wäre, wenn sie nicht miteinander zusammengetroffen wären. Sie mussten sich finden, so wie sie nun einmal waren, und nur so viel mag den dankbaren Erben ihres gemeinsamen Lebenswerkes gestattet sein, auch den Sterblichen gerecht zu werden an dem, was unsterblich ist. Hell und heiter scheint das Leben dahinzufliegen, das Engels geführt hat, verglichen mit den Stürmen, die das Leben eines Lassalle und eines Marx zerwühlt haben, allein ohne Strudel, ja Wirbel ist es nicht gewesen, und was ihm das Schicksal auf eine Weise erspart hat, das mag es wohl auf andere Weise desto unbarmherziger eingetrieben haben. Sogar dem Toten hat es jähen Wechsel nicht erspart; nur dass der Lebende mit der gelassenen Ruhe des Weisen diesen Wechsel voraussah: Engels pflegte in seinen letzten Jahren zu sagen, dass die Anerkennung, die ihm, wie er meinte, überschwänglich entgegengebracht würde, sich schon ins richtige Gleichgewicht setzen werde, sobald er nicht mehr unter den Lebenden weile.

Das ist denn auch geschehen, und heute ist die Gefahr viel größer, ihn zu unter- als ihn zu überschätzen. Denn mächtiger und wuchtiger hebt sich Karl Marx empor, trotz oder auch wegen des Liliputanergeschlechts, das an dem Fußgestell seines Monuments in hilfloser Eitelkeit empor klettern möchte, um ihm den Lorbeer vom Haupte zu reißen. So scheint er auch weit über Engels hinauszuwachsen. Jedoch Marx kann nicht steigen, ohne dass Engels mit ihm steigt. Denn Engels war niemals bloß sein Ausleger und sein Helfer, wie Marx deren bei seinen Lebzeiten und nach seinem Tode manchen gefunden hat, sondern sein selbständiger Mitarbeiter, ein ihm nicht gleicher, aber doch ihm ebenbürtiger Geist, und man darf – um einen in mancher Beziehung nahe liegenden Vergleich zu ziehen – die historische Bedeutung Lessings nicht verkennen, weil Leibniz ein universellerer Kopf gewesen ist.

Doch wenn man von Engels nicht sprechen kann, ohne von Marx zu sprechen, und von beiden nicht, ohne ein leise wägendes Wort ihrer Freundschaft zu widmen, so war es am wenigsten die Art von Engels, über das zu greinen, was ihm das Schicksal etwa versagt hatte. „… die Geschichte wird das alles schließlich in Ordnung bringen", meinte er wohl, „und bis dahin ist man glücklich um die Ecke und weiß nichts mehr von nichts."3 Ungleich näher als die Sorge um seinen Nachruhm ging ihm die Freude darüber, zu sehen, wie herrlich die Ernte seines Lebens in die Halme schoss. Nur der eine Tropfen Wermut fiel ihm in diesen Freudenbecher, dass Marx nicht mehr neben ihm stehe, um desselben Anblicks froh zu werden.4 So ist sein reiches Leben denn auch ein glückliches Leben gewesen; spurlos gingen die Jahre und die Jahrzehnte an ihm vorüber, und nach einem kurzen Krankenlager, über dessen Qualen ihn sein heiteres Temperament hinweg führte, raffte ein leichter Tod den Fünfundsiebzigjährigen dahin.

Auch wir mögen heute klagen, dass er nicht mehr neben uns steht, um des Anblicks froh zu werden, den die Revolution bietet, wie sie herrlich in die Halme schießt. Sicherlich nicht allem, was sich seit zehn Jahren in der internationalen und namentlich auch in der deutschen Sozialdemokratie abgespielt hat, hätte Engels seinen Beifall gespendet. Und wenn es wahr ist, dass kein Mensch unersetzlich sei, so ist es doch nicht minder wahr, dass sein durchdringender Blick und sein weiser Rat der modernen Arbeiterbewegung manchen Umweg erspart hätte, wenn ihm ein längeres Leben beschieden gewesen wäre. Aber über alles andere, über manches Kleine und Kleinliche würde ihn das weltgeschichtliche Schauspiel des revolutionären Russlands erheben, das gewaltige Auflodern der Flammen, deren Funken geschürt zu haben nicht zu den letzten Verdiensten gehört, die Engels und Marx sich um die internationale Arbeiterbewegung erworben haben.

Als Revolutionäre, die sie vom Scheitel bis zur Zehe, die sie all ihr Lebtag waren, haben sie im Sturze des zarischen Despotismus stets eine große Wende der proletarischen Revolution gesehen. Zum Kriege gegen dies von Blut und Schmutz triefende Regiment riefen sie schon in der „Neuen Rheinischen Zeitung", und ihm den Stoß ins Herz zu führen war eine Aufgabe, die sie nie aus den Augen verloren haben. An ihrem Geiste und an ihren Lehren hat sich die Kerntruppe der russischen Revolution genährt, und der Morgensonnenschein, der im Osten sich verbreitet, sendet seine Grüße zum Friedhofshügel in der englischen Metropole, wo der Revolutionär Marx schlummert, und über die Wogen des Meeres, in denen die Asche des Revolutionärs Engels zerstäubt ist.

Immer strahlte ihr Geist am hellsten, war ihr Gedanke am schärfsten und ihr Wort am kühnsten, wenn das alternde Europa unter dem ehernen Tritte der Revolution ächzte. So ist ihr Andenken lebendig unter denen, für die sie gelebt, gekämpft und Unsterbliches geschaffen haben; jeder Gedenktag ihrer Geburt und ihres Todes frischt es noch lebendiger auf, aber als lebten sie noch unter uns, so hören wir den metallenen Klang ihrer Stimme, wenn ein neues revolutionäres Zeitalter heraufdämmert über die zu Tode keuchende Misere der Welt, die nur Unterdrücker und Unterdrückte kennt.

2 Pair - Angehöriger des politisch bevorrechteten Hochadels im alten Frankreich.

3 Engels an Franz Mehring in Berlin, 14. Juli 93. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 39, S. 96.

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