Franz Mehring 19050804 Friedrich Engels

Franz Mehring: Friedrich Engels1

4. August 1905

[Ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 178, 4. August 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 41-43]

Morgen werden es zehn Jahre, seitdem Friedrich Engels gestorben ist. Was die deutsche, was die internationale Arbeiterklasse an ihm verloren hat, das hat fast jeder Tag dieser zehn Jahre von neuem bezeugt. Liebknecht erzählt in seiner kleinen Broschüre, die er Karl Marx zum Gedächtnis schrieb2, mit welcher Ungeduld er zur Zeit des Deutsch-Französischen Krieges, als die Karte Europas revidiert wurde und der kontinentale Kapitalismus sich jene politischen Grundlagen schuf, auf denen wir heute noch stehen, die Briefe von Marx aus London erwartete, um aus ihnen neues Licht über die politische und welthistorische Situation zu empfangen. Wir befinden uns in einer ähnlichen politischen Lage, freilich auf riesenhaft erweiterter Stufenleiter. Jetzt handelt es sich um das Schicksal der gesamten kapitalistischen Welt. Im fernen Osten hat sich ein Staat zum Träger der kapitalistischen Produktionsweise emporgeschwungen, von dem Marx noch im „Kapital" schreiben konnte: „Japan, mit seiner rein feudalen Organisation des Grundeigentums und seiner entwickelten Kleinbauernwirtschaft, liefert ein viel treueres Bild des europäischen Mittelalters als unsere sämtlichen, meist von bürgerlichen Vorurteilen diktierten Geschichtsbücher."3 In Russland ist die Revolution, die Marx und Engels mit der Ruhe des Wissenschaftlers und dem Ungestüm des Revolutionärs vorausgesagt und herbeigesehnt haben, endlich zum allgemeinen Durchbruch gekommen, und sie wird den russischen Despotismus in ihren läuternden Flammen verzehren. Die politische Bedeutung der Vereinigten Staaten von Amerika, vor zehn Jahren noch herzlich gering, ist jetzt ein überragender Machtfaktor in den internationalen Beziehungen geworden. Kurzum: die Welt hat sich in den zehn Jahren, die seit Engels' Tode verflossen sind, von Grund aus geändert, und die gründlichsten Änderungen stehen uns augenscheinlich erst noch bevor. Wer bedauerte da nicht, dass in einer derartigen welthistorischen Situation uns nicht mehr der Rat und die Weisheit eines Mannes zur Verfügung stehen, der wie keiner nach dem Tode von Marx den Menschen und den Dingen auf den Grund schaute!

Es ist schon so, und diese wenigen Zeilen beweisen es von neuem: Wer von Friedrich Engels reden will, muss auch von Karl Marx reden und umgekehrt. Das Schicksal und die Bedeutung der beiden Männer sind zu eng miteinander verknüpft. Man hat in den Kreisen der bürgerlichen Ökonomie Engels häufig als den populären Interpreten der Anschauungen von Marx hingestellt, wobei dann Engels glücklich in die Lage des katholischen Priesters kommt, der als begnadeter Vermittler den Verkehr zwischen Gott und den Menschen bewerkstelligt. Nichts ist falscher als das. Engels war eine geistig völlig selbständige Natur, ein souveräner König im Reiche der Wissenschaften. Die materialistische Geschichtstheorie hatte er völlig unabhängig von Marx entdeckt, das Kommunistische Manifest, gewissermaßen die Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus, ist ihr gemeinsames Werk, und in spätern Jahren gestaltete sich die Arbeitsteilung der beiden Waffenbrüder derart, dass Marx sich der theoretischen Fundamentierung der sozialistischen Weltanschauung unterzog, während Engels die Auseinandersetzung mit bürgerlichen Gegnern oder auch mit sozialisierenden Querköpfen auf seine Kappe nahm. So kam es, dass die meisten Schriften von Engels Polemiken sind und als solche Gelegenheitsschriften. Aber gerade darin bewährte er sich als ein echter Prinz aus Genieland, dass seine polemischen Gelegenheitsschriften keineswegs mit der Veranlassung der Polemik in Vergessenheit gerieten. Wer kennt jetzt noch – um gleich die bedeutendste Gelegenheitsschrift von Engels zu nennen – die näheren Umstände, die zur Abfassung des „Anti-Dühring" führten? Herr Dühring selber lebt heute noch in einem kleinen Dorfe bei Potsdam, einsam und vergessen, und sein größter Ruhm, der seinen Namen noch lange erhalten wird, besteht darin, dass ihn Engels einst der Gegnerschaft würdigte. Engels' Streitschrift ist inzwischen neben dem „Kapital" als die hervorragendste Leistung des wissenschaftlichen Sozialismus anerkannt worden, zur Zeit ihres Erscheinens aber stieß sie in Parteikreisen auf mannigfachen Widerspruch. Und zwar, woran heute zu erinnern angenehm und nützlich ist, wegen des angeschlagenen „Tones". Vahlteich erklärte auf dem Parteitage von 1877, dieser „Ton" führe zu einer Geschmacksverirrung und Engels mache die geistige Speise des „Vorwärts" ungenießbar. Die Redaktion des „Vorwärts" glaubte auf diese Vorwürfe nur mit der Entschuldigung antworten zu können, dass ihr nicht genügend Kräfte zur Verfügung stünden, um die Arbeit von Engels gehörig durchzusehen. Schon diese Vorgänge beweisen, wie windig es damals noch mit der theoretischen Vertiefung innerhalb der Partei stand, und wer die anderen Polemiken liest, die Engels in den siebziger Jahren für die deutsche Parteipresse schrieb, so vor allem seine Artikel gegen Mülberger über die Wohnungsfrage, dem wird sich dieser Eindruck nur noch verstärken. Diese Gelegenheitsartikel und Streitschriften brauchte die Partei damals, als ihr, wie Marx einmal sagte, die Elemente des Sozialismus noch nicht einmal hauttief saßen, wie das liebe Brot. Freilich waren diese Gelegenheitsschriften auch besonderer Art. Wie ein Athlet das gesamte Muskelspiel seines durchgebildeten Körpers in Bewegung setzt, wenn er auch nur einen leichten Gegenstand zur Hand nimmt, eben weil die überquellende Kraft zu jeder Pore hinausdrängt, so setzt auch Friedrich Engels bei Behandlung der scheinbar kleinsten Dinge das prachtvolle Muskelspiel seiner gesamten geistigen Kräfte in Gang, er zeigt uns den Gegenstand von allen seinen Seiten und lässt darüber die reichen Lichter seines Geistes blitzen, die in die fernsten historischen Zusammenhänge leuchten und gerade dadurch dem Gegenstande Farbe und Leben geben. Als prächtigstes Beispiel für diese Kunst der Darstellung kann wohl die Artikelserie gelten, die Engels im Jahre 1876 im damaligen „Volksstaat" unter dem Titel „Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag" veröffentlichte.

Von den beiden Freunden war Marx ohne Frage die reichere Natur, aber trotzdem stand ihm Engels als selbständiger und ebenbürtiger Mitarbeiter zur Seite. Ein Freundschaftsverhältnis verband die beiden, wie es in gleicher Treue und Aufrichtigkeit in der Geschichte der Wissenschaften noch nicht da war. Beide Männer hatten sich auch von dem letzten Rest jenes Philistertums frei gemacht, das für deutsche Gelehrte und Dichter so typisch ist, dem selbst ein Hegel noch seinen Tribut zollte und das auch das mythische Freundschaftsverhältnis zwischen Schiller und Goethe oft genug verbitterte. Sie waren freie, kräftige, revolutionäre Vollmenschen, deren Sinne und Nerven im Sturmwinde der Revolution gestählt waren und denen nichts so lächerlich dünkte als die gravitätische Wichtigtuerei gewisser „Staatsmänner".

Mit Engels sank der letzte große Vertreter einer Periode ins Grab, deren Kennzeichen ihre universelle Internationalität bildete und deren organisatorischer Ausdruck die Internationale Arbeiterassoziation war. Seither hat sich die Arbeiterbewegung jedes Landes notwendigerweise im nationalen Rahmen entwickelt, ohne natürlich deshalb ihrer internationalen Pflichten auch nur einen Augenblick zu vergessen. Aber es scheint doch zuweilen, als ob mit der Beschränkung der Basis auch eine Beschränkung des geistigen Blickes und der theoretischen Schulung Hand in Hand gehe. Gerade in solchen Augenblicken erfrischt es, die Augen aufzuheben zu einer so wuchtigen Gestalt, wie Friedrich Engels war, dessen Geist mit ruhiger, siegender Klarheit uns das Ziel weist, dem die internationale Sozialdemokratie bereits im rüstigen Vormarsch entgegeneilt.

1 Die Autorschaft Franz Mehrings für diesen Artikel ist nicht völlig sicher.

2 Gemeint ist Wilhelm Liebknecht: Karl Marx zum Gedächtnis. Ein Lebensabriss und Erinnerungen, Nürnberg 1896. In: Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels, Berlin 1970.

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