Franz Mehring 19080313 Karl Marx zum Gedächtnis

Franz Mehring: Karl Marx zum Gedächtnis

13. März 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 821-824. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 7-10]

Als wir vor fünf Jahren die zum 14. März fällige Nummer unseres Blattes dem Gedächtnis des zwanzigsten Todestags von Karl Marx widmeten, verfielen wir der ernsten Rüge staatsmännisch veranlagter Köpfe, weil wir zu ungewöhnlicher Zeit dem Genius gehuldigt hätten.1 Dieser Rüge werden wir heute vielleicht entgehen, da die Feier des fünfundzwanzigsten Todestags reglementsmäßiger ist; in der Tat hat auch dasselbe Organ, das uns dazumal einen herben Tadel erteilte, dieses Mal selbst einen Gedächtnisartikel zum 14. März veröffentlicht. Jedoch nun können wir an unserem Teil mit der schüchternen Kritik nicht zurückhalten: Lieber gar nicht als so!

Sicherlich – man kann in der Menschenverehrung zu viel tun. Wir denken dabei gar nicht einmal an Carlyle und ähnliche Geister; es ist uns schon zu viel, wenn Freiligrath, dem doch alle knechtische Gesinnung fremd war, zum hundertsten Geburtstag Schillers sang:

Dem Genius,

Der heiligen Flamme wunderbaren Lohen,

Die leuchten, wärmen, Blitze schleudern muss

Einsam herab vom Vorhaupt der Heroen, -

Ihm huld'gen wir!

Ihm heben opfernd wir die Schale!

Ihm flechten wir die vollste Schläfenzier,

Und sonnen uns und ruhn in seinem Strahle.

Ob nun in der Tat ein Fortschritt sein mag, dass uns dies Pathos, an dem sich doch einst viele tapfere Herzen erwärmt haben, ungenießbar geworden ist, das wollen wir nicht weitläufig untersuchen. Genug, dass es uns seltsam in die Ohren tönt! Aber wenn die Wahl so stünde, so würden wir freilich tausendmal lieber solch Pathos wählen als jene kleinmeisterliche Beschränktheit, die zu einem Gedächtnistag von Marx einige sauersüße Komplimente zu murmeln weiß, aber sie krönt mit dem Spruche tiefsinniger Weisheit, dass Marx auch nur ein Mensch gewesen sei, dass er manche Fehler gehabt, in seinen Urteilen manchmal geirrt und manches falsch vorausgesehen habe.

Ohne Zweifel soll man auch dem Genius gegenüber nicht die Kritik vergessen. Allein was wir schon vor fünf Jahren an dieser Stelle sagten, das können wir heute nur wiederholen: Alles, was bisher an dem Lebenswerk von Marx als überlebt und verfehlt nachgewiesen worden ist, das ist von denen nachgewiesen worden, die man „orthodoxe Marxisten", und zwar nicht im Sinne einer Schmeichelei, zu nennen pflegt. Die anderen haben nichts gekonnt, als um das eherne Bild von Marx, wie es in die Tafeln der Geschichte eingegraben ist, einen Kranz von Fragezeichen zu machen. Sie werfen das Kind aus dem Fenster und waschen ihre Hände im Bade mit dem beseligenden Bewusstsein: Was sind wir doch gescheiter als Marx, während wir das Bad aus dem Fenster schütten, aber das Kind hegen und pflegen.

Und wenn es nur das wäre! Jedoch wie kann man den Namen von Marx nur im Munde führen, wenn man durch die Tat bestreitet oder doch bestreiten möchte, was seines Lebens innerster Kern gewesen ist. Um nur an die brennendste Frage der Gegenwart anzuknüpfen, so soll es eine lächerliche „Heldenpose" sein, zu sagen, dass der Kampf um das allgemeine Wahlrecht für den preußischen Staat ein Klassenkampf sei. Als ob Marx niemals die lapidaren Sätze niedergeschrieben hätte: Die Emanzipation der Arbeiterklasse muss durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden; der Kampf für sie ist kein Kampf für neue Klassenvorrechte, sondern für die Vernichtung aller Klassenherrschaft. Die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter die Aneigner der Arbeitsmittel, das heißt der Lebensquellen, liegt der Knechtschaft in allen ihren Formen zugrunde: dem sozialen Elend, der geistigen Verkümmerung und der politischen Abhängigkeit. Die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse ist daher das große Ziel, dem jede politische Bewegung als Mittel dienen muss.2 So ist auch der Kampf der Arbeiterklasse um die Reform des preußischen Wahlrechtes nichts anderes als ein politisches Mittel des proletarischen Klassenkampfes. Wer das bestreitet, mag Recht oder Unrecht haben, aber er sei so ehrlich zu sagen, dass er den Schlachtruf verleugnet, den Marx vor mehr als vierzig Jahren der internationalen Arbeiterbewegung gegeben hat.

Und so heißt es auch nur den Namen von Marx im Munde führen, wenn auf einen Gedächtnisartikel zu seinem Todestage in denselben Spalten eine Reihe von Artikeln folgt, die seine Sprache preisgeben. Wir heben nur folgende Sätze hervor: „es ist geradezu absurd, in dem Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat den Schlüssel zum Verständnis unserer derzeitigen politischen Verhältnisse zu suchen. Der Gegensatz zwischen kapitalistischen Unternehmern und proletarischen Lohnarbeitern ist zweifellos ein mächtig wirkender Faktor in Fragen sozial- und wirtschaftspolitischer Natur. Aber wer nur diesen Gegensatz sieht, wer ihn für den allein maßgebenden oder auch nur für den hauptsächlich entscheidenden Faktor in unserer politischen Konstellation hält, der trottet mit Scheuklappen durch die politische Arena." Das ist eine Ansicht – wir können nicht sagen, wie andere auch, denn sie ist entschieden origineller, als sonst menschliche Ansichten zu sein pflegen –, allein es ist eine Ansicht, über die wir so wenig streiten, wie wir über die Ansicht streiten würden, dass, wer behaupte, 2x2 = 4, mit Scheuklappen durch die arithmetische Arena trotte. Denn von Marx haben wir allerdings gelernt, dass die preußische Junkerherrschaft wirklich nur ein Produkt des kapitalistisch-proletarischen Klassengegensatzes ist. Seit sechzig Jahren hat der deutschen Bourgeoisie niemals die Macht, aber immer der Wille gefehlt, die Herrschaft der Junker zu stürzen, weil sie diese erlauchte Klasse gebraucht als gemietete Landsknechte gegen das revolutionäre Proletariat.

Am 14. März vor fünfundzwanzig Jahren schrieb Engels an Liebknecht: „Trotzdem ich ihn (Marx [- F. M.]) heut Abend in seinem Bett ausgestreckt gesehn, die Leichenstarre im Gesicht, kann ich mir doch gar nicht denken, dass dieser geniale Kopf aufgehört haben soll, mit seinen gewaltigen Gedanken die proletarische Bewegung beider Welten zu befruchten. Was wir alle sind, wir sind es durch ihn; und was die heutige Bewegung ist, sie ist es durch seine theoretische und praktische Tätigkeit; ohne ihn säßen wir immer noch im Unrat der Konfusion."3 Diesen „Unrat der Konfusion" wollen wir uns nun aber doch nicht, ein Viertel Jahrhundert nach seinem Tode und gar unter seiner Firma, wieder ins Haus schleppen lassen. Jedem Menschen ist unbenommen, über Marx zu denken, wie er will, aber wer wider Marx ist, der soll nicht so tun, als ob er für Marx sei.

Um einen albernen Gemeinplatz ausnahmsweise einmal zu wiederholen, so war Marx kein Gott, auch kein Halbgott; er war nicht einmal unfehlbar wie der Papst. Aber er war ein Denker, der das Maß menschlicher Erkenntnis wesentlich vermehrt hat, und an diesem Fortschritt halten wir fest, nicht als an einem Endziel menschlicher Erkenntnis, aber als einem Schritte vorwärts, der nicht wieder zurückgetan werden darf. Auch uns soll der Tag gepriesen sein, an dem Marx überwunden sein wird, wie er die Hegel und Ricardo überwunden hat, aber ein Zurück von ihm, es sei auf wen immer, führt in den „Unrat der Konfusion", in den wir nicht marschieren.4

Am wenigsten, wenn diese tragikomischen Retiraden durch die „praktische Unfruchtbarkeit" des Marxismus beschönigt werden sollen, durch die Redensart, dass die deutsche Sozialdemokratie die mächtigste und zugleich die ohnmächtigste aller modernen Arbeiterparteien sei, dank ihrem starren Festhalten an den revolutionären Grundsätzen, wie sie Marx in den lapidaren Sätzen formuliert hat, die wir schon anführten. Wir sind sicherlich die letzten, die Erfolge unserer ausländischen Schwesterparteien zu unterschätzen, aber ihnen allen kann sich der zwölfjährige, sieggekrönte Feldzug gegen das Sozialistengesetz getrost zur Seite stellen, und was wäre aus diesem Feldzug geworden, wenn er nicht prinzipiell und taktisch nach den Grundsätzen von Marx geführt worden wäre? Jedoch wenn man auch von allen einzelnen Fällen absieht, so ist die angebliche Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie in Wirklichkeit der schlagendste Beweis für ihre Macht. Sie wird von den herrschenden Klassen in Deutschland so gefürchtet, dass diese jedes Mittel brutaler Gewalt anwenden, um der Arbeiterklasse selbst solche Waffen zu rauben, die die Bourgeoisie anderer Länder noch ohne Sorge in den Händen des Proletariats sieht. Die „praktischen Erfolge" jeder Arbeiterpartei, die anders als im rücksichtslosesten Klassenkampf errungen werden, sind immer und überall nur ein Beweis dafür, dass die herrschenden Klassen noch mit dem Proletariat auszukommen gedenken, und diese „praktischen Erfolge" verschwinden in dem Maße, je mehr die Kraft der Arbeiterklasse wächst und je unerschütterlicher ihr Wille wird, die Ketten der Lohnsklaverei für immer zu zerbrechen.

Karl Marx hat „praktische Erfolge" dieser Art nie erstrebt und auch nie gehabt. Er war noch ein Kind in der Wiege, als die Karlsbader Beschlüsse hereinbrachen, und er war ein Greis von sechzig Jahren, als das Sozialistengesetz hinwegfegte, was er in jahrzehntelanger mühsamer Arbeit geschaffen hatte. Was Engels einmal von den Anfängen der englischen Arbeiterbewegung sagt, das gilt auch für das Leben von Marx: Es war eine ununterbrochene Kette von Niederlagen, unterbrochen durch wenige Siege, aber wie er nie eine Sekunde gezögert hat auf den rauen und steilen Pfaden, die er emporstieg, so ist, seitdem das Grab seine sterbliche Hülle birgt, seine Gestalt nur immer gewaltiger emporgewachsen.

Nicht in dem Sinne einer abergläubischen Heldenverehrung, aber im Sinne des Wortes, das wie ein Grundakkord durch unsere klassische Literatur und Philosophie klingt, von Lessing bis auf Feuerbach: die edelste Beschäftigung des Menschen ist der Mensch, gedenken wir heute dieses großen Menschen, dessen Fahne zu tragen unsere Ehre und unser Glück ist.

1 Mehring veröffentlichte schon zum 20. Todestag von Karl Marx einen Gedenkartikel in der „Neuen Zeit", 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 705-710. Diesen Aufsatz übernahm er inhaltlich in seine Marx-Biographie (Bd. 3 der „Gesammelten Schriften", Berlin 1960, S. 232-238).

3 Engels an Wilhelm Liebknecht in Leipzig, 14. März 83. In: Ebenda, Bd. 35, S. 457.

4 Mehring lässt hier den qualitativen Unterschied zwischen der Überwindung Hegels und Ricardos durch Marx und Engels und der schöpferischen Weiterentwicklung des Marxismus außer Acht. Während der Schritt von Hegel zu Marx eine Veränderung in der Klassengrundlage der Erkenntnis darstellte, geht die schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus im Rahmen der Weltanschauung des Proletariats vor sich. In diesem Sinne kann also niemals der Tag eintreten, „an dem Marx überwunden sein wird".

Kommentare