Franz Mehring 19180504 Karl Marx

Franz Mehring: Karl Marx

4. Mai 1918

[Leipziger Volkszeitung Nr. 103, 4. Mai 1918. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 11-15]

Wie ein heller Sonnenstrahl, der durch düstere und scheinbar undurchdringliche Wolkenschichten bricht, so lenkt heute der hundertste Geburtstag von Karl Marx unseren Blick aus einer grauenvollen Gegenwart in eine hellere Zukunft, die kommen muss und kommen wird – trotz alledem und alledem. Auch Karl Marx ist ein Kämpfer gewesen, der alle Beschwerden und Leiden und Niederlagen eines vierzigjährigen Krieges bis auf die Hefen ausgekostet hat, ohne je zu verzagen. Sein ganzes Leben zeigt uns die bürgerliche Gesellschaft mit ihren mächtigen Mitteln im Kampfe gegen den einzelnen Mann. Sie hat ihn gehetzt und verfolgt, in Armut und bitterste Not und trostlose Verbannung, sie hat ihn in die dichtesten Nebel der Verleumdung gehüllt, sie hat es fertig gebracht, den größten Denker des Jahrhunderts für Jahrzehnte gänzlich aus dem Gesichtskreise der Nation zu verbannen, die ihn geboren hatte.

Erst seit kurzem wissen wir aus mancherlei unanfechtbaren und durchaus übereinstimmenden Zeugnissen, wie überwältigend schon die erste Erscheinung des jungen Marx in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die Zeitgenossen gewirkt hat. Keiner, der ihm damals genaht ist, auch der Abgeneigte und feindselig Gesinnte nicht, hat sich dem Eindruck entziehen können, dass hier eine mächtige und unvergleichliche Kraft auf den Kampfplatz trat. Dem blutjungen Studenten beugten sich hochbegabte Männer, die um ein Jahrzehnt älter waren und längst eine angesehene Stellung in der Republik der Geister erworben hatten.

Aber nicht lange, und die ersten glänzenden Offenbarungen des Geistes erweckten jenen unersättlichen Hass der bürgerlichen Gesellschaft gegen Marx, der heute, nach mehr als zwei Menschenaltern, noch nicht erloschen ist. Nach dem ersten Jahrzehnt seines öffentlichen Wirkens, als Marx seine zerstreuten Arbeiten zu sammeln versuchte, gelang ihm nicht, was dem ersten besten Tagesliteraten ohne alle Mühe zu gelingen pflegt: Der erste Schriftsteller der Nation musste die Ernte seiner Jugendjahre einer Vergessenheit überlassen, aus der sie erst lange nach seinem Tode wieder allmählich ans Licht gezogen worden ist.

Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken."1 Am offenen Grabe von Marx sprach so Friedrich Engels, sein unzertrennlicher Arbeits- und Kampfgefährte, und er sprach die Wahrheit, wenn er seinen Freund „den größten lebenden Denker" nannte. Selbst einem Manne wie Darwin, der ihm unter den Denkern des neunzehnten Jahrhunderts am ehesten die Palme streitig machen könnte, war Marx darin überlegen, dass er das Werk Darwins nach seiner ganzen geschichtlichen Bedeutung zu schätzen wusste, während Darwin nicht ebenso wusste, was Marx war und was er geleistet hat.

Indes mit Recht knüpfte Engels an Darwin an, als er die größten wissenschaftlichen Leistungen, die Marx vollbracht hat, in kurzen und starken Strichen skizzierte. Er sagte: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte: die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können; dass also die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben und aus der sie daher auch erklärt werden müssen – nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt."2 In der Tat, ein „einfacher" Gedanke, so „einfach", wie bahnbrechende Offenbarungen überhaupt zu sein pflegen.

Marx hat seine Entdeckung nie zu einem weitläufigen System ausgesponnen, sondern hat es immer mit dem englischen Sprichwort gehalten, dass der Pudding im Essen erprobt werden muss. Der „historische Materialismus" – um seine Theorie bei dem Namen zu nennen, der sich allmählich für sie eingebürgert hat – war ihm der Leitfaden bei seinen historischen Untersuchungen, und die Ergebnisse, die er auf diese Weise gewann, wirken überzeugender, als alle noch so fein gesponnenen Spintisierereien dicker Lehrbücher hätten wirken können.

Solche Lehrbücher sind in Mengen erschienen, um die Theorie von Marx zu widerlegen, aber diese Literatur ist noch schneller verwelkt, als sie unter dem befruchtenden Platzregen hoher Gönnerschaften aus dem Boden schoss: Ihr Haupttrick pflegte die allzu alberne Unterstellung zu sein, dass Marx seine Theorie nicht als die Darstellung eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses, sondern als ein alleinseligmachendes Dogma aufgestellt habe, dass es ihm nicht um eine Methode zu tun gewesen sei, das Wesen der Dinge zu erforschen, sondern um eine Schablone, in die er die Form der Dinge pressen konnte. Der Unsinn ist nachgerade selig in sich selbst verstorben, und der historische Materialismus, so wie Marx ihn begründet und verstanden hat, macht immer reißendere Fortschritte auf allen Gebieten der historischen Wissenschaften, wenn es auch bei den bürgerlichen Gelehrten noch immer nicht an „dem bissele Falschheit" fehlt. Die einen arbeiten, so gut sie es verstehen, nach der Methode von Marx, ergreifen aber jede passende oder auch unpassende Gelegenheit, ihn einen unwissenschaftlichen Kopf zu schelten, während die anderen ihn zwar als wissenschaftliche Größe anerkennen, aber durch allerlei „Verbesserungen", die sie an seiner Lehre anbringen, nur den alten Unrat der Konfusion wieder heraufbeschwören.

Ähnlich steht es mit der zweiten der großen wissenschaftlichen Entdeckungen, die Marx gemacht hat, und von denen jede einzelne schon für sich genügen würde, seinen Namen unsterblich zu machen. Marx hat nicht nur das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte entdeckt, sondern auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Die Werttheorie, die die wirklichen Denker der bürgerlichen Ökonomie, Adam Smith und Ricardo, aufgestellt hatten, spann er in seinem epochemachenden Werke über das Kapital fort als einen Faden, woran sich die Wert- und Mehrwertbildung verfolgen lässt als ein weltgeschichtlicher Prozess, der die kapitalistische in die sozialistische Gesellschaft umwälzen muss.

Anfangs öffentlich totgeschwiegen, aber heimlich um so eifriger geplündert, hat sich Marxens wissenschaftliches Hauptwerk in der Geschichte der politischen Ökonomie allmählich den überragenden Platz erobert, den es verdient, sosehr sich die „voraussetzungslose" Gelehrsamkeit, die an den deutschen Hochschulen das große Wort führt, vor dem geistigen Einfluss dieses Buches zu schützen sucht, indem sie jedem Lehrer die Pforten sperrt, der im Verdacht steht, sich zur Mehrwerttheorie von Marx zu bekennen.

Aber der Mann der Wissenschaft, so groß er sein mochte, war noch lange nicht der halbe Mann. Um noch einmal Engels zu zitieren, so war die Wissenschaft für Marx eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft.

Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Befreiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewusstsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewusstsein der Bedingungen seiner Emanzipation gegeben hatte – das war sein wirklicher Lebensberuf."3 Und in der Tat – sosehr die unvergleichliche Größe dieses Mannes darin bestand, dass sich in ihm Gedanke und Tat zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, sosehr hatte, wenn es die letzte Entscheidung galt, der revolutionäre Kämpfer in ihm den Vorrang über den wissenschaftlichen Denker. Lieber ließ er das wissenschaftliche Hauptwerk seines Lebens zu einem riesenhaften Torso werden, ehe er sich je dem Rufe versagte, der aus den Reihen des um seine Emanzipation ringenden Proletariats an seine Hilfe erging. Und sosehr die deutsche und die internationale Arbeiterklasse ihm den ehrfurchtsvollen Dank schuldet, den sie allen Denkern spendet, die die Kulturentwicklung der Menschheit gefördert haben, so darf sie im Hinblick auf seinen wirklichen Lebensruf, auf seines Wesens Wesenheit, mit besonderem Stolze sagen: Denn er war unser.

Seiner Geburt nach gehörte Karl Marx den bürgerlichen Klassen an. Allein sobald er zu seinen Jahren gekommen war und das Elend sah, das die aufkeimende kapitalistische Produktionsweise in seiner rheinischen Heimat über die arbeitenden Klassen zu verhängen begann, hat er sich dem Dienste dieser Klassen gelobt, und nie ist ein Hannibalschwur redlicher gehalten worden als das Gelübde, das er, ein halber Knabe noch, schon in seiner ersten Schrift mit den Worten ablegte, die ein altgriechischer Dichter den Prometheus sprechen lässt, lieber wolle er das mühseligste Los ertragen, als sich zum Bedienten der Götter erniedrigen. So ist ihm beschieden gewesen, die Sage vom Prometheus zu einer geschichtlichen Wirklichkeit zu machen: Ein Lichtbringer ohnegleichen ist er gewesen und dafür an den Felsen geschmiedet worden, wo ihm die Geier mit gierigen Schnäbeln den Leib zerhackten.

Aber nie hat er gewankt in der Treue, die er der arbeitenden Klasse gelobt hatte. Wie hart ihn oft das Elend bedrängte und wie sehr ihm die Qualen das Herz zerreißen mochten, unter denen seine zärtlich geliebte Frau und seine nicht minder zärtlich geliebten Kinder litten, immer blieb es bei seinem so derben wie stolzen Worte, dass man ein Ochse sein müsste, wenn man den Menschheitsqualen den Rücken kehren wollte, um für sein eigenes Wohl zu sorgen. Es ist unmöglich, in dem engen Rahmen dieses Aufsatzes die unermesslichen Dienste auch nur flüchtig anzudeuten, die Marx dem internationalen Proletariat geleistet hat, von den Tagen des Kommunistenbundes bis zu den Tagen der Internationalen, immer gleich geschickt und immer gleich willig, die richtigen Wege zu weisen, sei es nun einem dürftigen Häuflein oder einer gewaltigen Schar, die schon alle zivilisierten Nationen des Erdballs zu umspannen begann. Im Herzen der Arbeiterklasse leben diese Dienste unsterblich fort.

So groß wie Marx als Denker und Kämpfer war, so groß war er als Mensch. Man hat ihn „herzlos" gescholten, aber nur, weil er dem Proletariat helfen wollte durch entschlossene Tat und klaren Willen und nicht durch jenes Flennen sentimentalen Mitleids, das unter Umständen den satten Philister zu Tränen rührt, aber den Arbeitern auch nicht um die Breite eines Strohhalms weiterhilft.

Man hat ihn „hochmütig" gescholten, weil er hart und unbarmherzig sein konnte in der Kritik solcher „Reformen", die nur von dem „guten Willen" ihrer Urheber zeugten, aber die wirkliche Einsicht in das Wesen der Dinge vermissen ließen. In der Tat war Marx der bescheidenste der Menschen, der das Totschweigesystem, das seine Gegner gegen ihn anwandten, dadurch erleichterte, dass er seine Person immer hinter sein Werk zurücktreten ließ. Er hat nie beansprucht, ein unfehlbarer Götze zu sein, sondern wiederholte gern und oft das Wort des römischen Dichters, dass er ein Mensch und nichts Menschliches ihm fremd sei.

Deshalb wäre es nicht in seinem Sinne, wenn wir gegenüber seinem Werke auf die rast- und ruhelose Kritik verzichten wollten, die seine wirksamste Waffe gewesen ist. Aber wir sollen diese Kritik üben mit aller Ehrfurcht vor dem kostbaren Erbe, das er uns hinterlassen hat, mit der Gewissenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit, die immer der Leitstern seines Lebens gewesen. So fortzuarbeiten auf den unzerstörbaren Grundlagen, die er gelegt hat, ist die würdigste Huldigung, die wir unserem verewigten Meister an seinem hundertsten Geburtstage darbringen können.

Kommentare