Franz Mehring 19070403 Neue Beiträge zu Biographien von Karl Marx und Friedrich Engels I-III

Franz Mehring: Neue Beiträge zu Biographien von Karl Marx und Friedrich Engels1

(April 1907)

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 15-21. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 77-86]

I

In der Vorrede des Sorgeschen Briefwechsels, der im vorigen Herbst erschien und an dieser Stelle von mir ausführlich besprochen worden ist, findet sich folgende Nachschrift: „Der erst kürzlich erschlossene literarische Nachlass von Joseph Weydemeyer, Hermann Meyer und Sigfrid Meyer enthält zahlreiche Briefe von Marx, Engels, Freiligrath und anderen aus den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine Veröffentlichung dieser Sachen ist ebenfalls in Aussicht genommen."

Mit dieser Veröffentlichung hat sich unser alter Freund Sorge in seinen letzten Lebenstagen eifrig beschäftigt. Als ich ihn im Mai vorigen Jahres besuchte, zeigte er mir das damals noch ungeordnete Material und war so freundlich, meine Hilfe für die Herausgabe zu beanspruchen, namentlich mit Rücksicht darauf, dass mir in Berlin ein ungleich reichhaltigeres Material für die Erläuterung der Briefe zur Verfügung stände als ihm in New York. Es wurde zwischen uns verabredet, dass er die Briefe ordnen und entziffern, dann eine Reinschrift besorgen und diese mir mit seinen Anmerkungen zustellen werde, worauf ich sie dann, an der Hand des mir zugänglichen Materials, druckfertig machen sollte.

Anfang August sandte er mir das Manuskript der Briefe selbst, mit Erneuerung der mir schon mündlich erteilten Vollmacht, jedoch mit dem für den alten Herrn charakteristischen Hinzufügen, ja nicht eine Stelle zu streichen, worin Marx sich ein wenig unwillig über ihn, Sorge, im Anfang ihrer Bekanntschaft geäußert hatte. Am 13. August vorigen Jahres schrieb Sorge mir dann: „Die Briefe aus Weydemeyers Nachlass werden Sie nun in den Händen haben, und heute übersende ich Ihnen Titel, eine kleine Vorrede und Anmerkungen zu den Briefen. Sie haben damit alles in den Händen und können damit nach Belieben schalten und walten – das heißt, meiner eigenen Mitwirkung werden Sie schwerlich noch bedürfen. Sie sehen, dass ich zuletzt selbst den größten Teil der Sachen noch abschreiben musste – daher die Verzögerung, aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass Sie die ganze Sache ungehindert und ohne jede Rücksendung zum Abschluss bringen können. Streichen Sie, was Sie für unpassend erachten, und fügen Sie hinzu – bei den Anmerkungen, was Ihnen (im Lichte Ihrer Nachlassarbeiten) geeignet erscheint." Der Titel des Buches sollte lauten: „Aus dem Nachlass von Joseph Weydemeyer und anderen", und in der Vorrede gab Sorge nähere Auskunft über die Herkunft der Briefe.

Nach einem Hinweis auf das, was in meiner Nachlassausgabe (II, S. 333 und 364 ff., sowie IV. 58 f.) über Weydemeyer mitgeteilt worden ist, schreibt Sorge in dieser Vorrede: "Joseph Weydemeyer hielt in der nach 1849 hereinbrechenden Reaktionszeit noch zwei Jahre aus, musste aber 1851 Deutschland verlassen und siedelte in die Vereinigten Staaten über, wo er eine rege und fruchtbare Tätigkeit entfaltete und sich unschätzbare Verdienste erwarb um die Organisation der Arbeiter und um die Verbreitung ökonomischer Kenntnisse auf der Grundlage des Kommunistischen Manifestes. Er wurde dabei eifrig unterstützt von seinem Freunde und Schüler Hermann Meyer, beteiligte sich journalistisch an der New-Yorker ,Reform', an der ,New-England-Zeitung' (Boston), an der ,Turnerzeitung' und anderen Blättern und hielt Vorträge über nationalökonomische Fragen. Zuletzt schlug er seinen Wohnsitz in St. Louis auf, nahm zuerst als Hauptmann einer Kompagnie und später als Oberst eines Regiments ehrenvollen Anteil an dem Kriege gegen den rebellischen Süden und wurde nach Beendigung des Krieges zum höchsten Finanzbeamten der Stadt St. Louis erwählt. Schon im Herbst des Jahres 1866 raffte der Tod den allgemein geschätzten Mann hinweg. Seine tapfere, ihm strebensverwandte Frau, eine geborene Lüning, überlebte ihn um viele Jahre. Sein Sohn Otto nahm in den siebziger Jahren lebhaften Anteil an der Agitation der Internationalen und soll jetzt in Mexiko leben. Seine Tochter Laura verehelichte sich mit Max Livingston, der nebst seinem Bruder Julius in früheren Jahren Mitglied des Kommunistenklubs in New York war und ebenfalls regen Anteil an der Agitation der Internationalen in den Vereinigten Staaten genommen hat. In den Besitz von Max Livingston gelangte nun nach dem Tode von Frau Weydemeyer der Nachlass von Joseph Weydemeyer, und nach dem Ableben von Hermann Meyer und Max Josef Becker (von Hanne) auch deren Nachlass sowie ein Teil dessen, was Sigfrid Meyer hinterlassen hatte. Schon vor einer Reihe von Jahren äußerte Max Livingston die Absicht, mir den gesamten erwähnten Nachlass zu übergeben, wurde aber durch körperliche Leiden daran verhindert und starb am 16. Februar dieses Jahres. Julius Livingston führte nun die Absicht seines Bruders aus und übersandte mir die literarische Hinterlassenschaft, bestehend aus unzähligen Zeitungsausschnitten und – leider nicht vollständigen – Exemplaren der ,Revolution' und der ,Reform' und aus ungefähr tausend Briefen. Dies alles für etwaigen Gebrauch zu ordnen, hätte es jüngerer Kräfte bedurft. Es überstieg meine Kräfte und meine Zeit, und deshalb beschränkte ich mich auf die Suche nach Goldkörnern in dem handschriftlichen Nachlass, wovon eine nicht unbeträchtliche Anzahl hiermit der Öffentlichkeit übergeben wird. Fr. Mehring sage ich herzlichen Dank für sachverständigen Rat und Beistand, Frau J. Romm für bereitwillige Hilfe beim Entziffern und Kopieren. Die Leser werden Julius Livingston wohl Dank wissen für die Aushändigung des großenteils sehr wertvollen Nachlasses." So weit Sorges Vorrede.

Als ich sie erhielt, war ich gerade neben meinen laufenden Parteiarbeiten mit der Revision des Sorgeschen Briefwechsels beschäftigt, die den Genossen Dietz, Kautsky und mir oblag und von uns nach Möglichkeit beschleunigt wurde, da uns Sorges schwankender Gesundheitszustand große und, wie sich leider bald herausstellen sollte, gerechte Besorgnisse einflößte. Als wir damit fertig waren, benachrichtigte ich Sorge und schrieb zugleich, dass ich mich nun sofort an Weydemeyers Nachlass machen würde. Indessen erhielt ich eine vom 21. September datierte, schon mit zitternder Hand geschriebene Karte: „Lieber Freund! Besten Dank für die Nachricht von der Schlussrevision. Ich bin krank. F.A.S." Damit geriet die Sache zunächst ins Stocken, denn ich musste nunmehr von der nochmaligen Verhandlung absehen, die ich nach eingehendem Studium des Weydemeyerschen Nachlasses wegen dessen Herausgabe für notwendig hielt.

II

In runder Zahl hat Sorge hundert Briefe zusammengestellt. Ungefähr vier Fünftel davon stammen aus der Zeit von 1849 bis 1853, aus den Tagen der ärgsten Flüchtlingsmisere, ungefähr ein Fünftel datiert aus den ersten sechziger Jahren, aus den Anfängen der Internationalen Arbeiterassoziation.

Es sind darunter „Goldkörner", wie Sorge mit Recht sagt, und vielleicht ist keiner der Briefe ohne jedes Interesse. Aber nicht alle, und nicht einmal die Mehrzahl, sind von so großem Werte, dass ihr wörtlicher Abdruck sich empfiehlt. Sorge hat das vielleicht nicht in vollem Umfange erkannt, was bei seinem hohen Alter und der kurzen Zeit, die er auf die Prüfung der Briefe verwenden konnte, ja auch durchaus erklärlich ist; auch war ihm in New York die einschlägige Literatur nicht so zugänglich, dass er hätte erkennen können, wie viel von dem Inhalt dieser Briefe schon anderweitig bekannt ist. Ebendeshalb wünschte er, dass ich sein Manuskript einer kritischen Nachprüfung unterzöge, und ich glaube, das ehrende Vertrauen, das er mir dadurch erwies, nicht zu verletzen, wenn ich seine Arbeit unverstümmelt dem Parteiarchiv als eine wertvolle Bereicherung überweise, öffentlich aber zunächst aus den Briefen und seinen Anmerkungen nur verwerte, was sich als neue Beiträge zur Biographie von Marx und Engels darstellt.

Es kommt noch ein entscheidender Gesichtspunkt dazu, dem sich Sorge, gerade wegen der hohen Verehrung, die er für Marx und Engels hegte, am wenigsten verschlossen haben würde, wenn seine letzte Krankheit nicht die Möglichkeit einer rechtzeitigen Verständigung abgeschnitten hätte. Vier Fünftel der Briefe stammen, wie ich schon sagte, aus der Zeit der ärgsten Flüchtlingsmisere, und gegenüber Weydemeyer, einem ihrer ältesten und vertrautesten Waffengefährten, nahmen Marx und Engels durchaus kein Blatt vor den Mund. In diesem weit überwiegenden Teile der Briefe geht es mit heiligen Donnerwettern daher über Ungerechte und auch Gerechte, und es lässt sich mit aller unter solchen Umständen überhaupt erreichbaren Bestimmtheit sagen, dass Marx und Engels den unveränderten Abdruck dieser Briefe nicht einmal fünf Jahre nach ihrer Abfassung gebilligt haben, geschweige denn, dass sie ihn heute billigen würden.

Bereits im Jahre 1859, in der Schrift gegen Vogt, schrieb Marx: „Die Antwort auf Vogt zwang mich hier und da eine partie honteuse [ein schandbares Kapitel] der Emigrationsgeschichte aufzudecken. Ich mache hierin nur von dem Recht der ,Notwehr' Gebrauch. Übrigens kann der Emigration, einige wenige Personen ausgenommen, nichts vorgeworfen werden als Illusionen, die durch die Zeitverhältnisse mehr oder weniger berechtigt waren, und Narrheiten, die aus den außerordentlichen Umständen, worin sie sich unerwartet gestellt fand, notwendig hervor wuchsen. Ich spreche hier natürlich nur von den ersten Jahren der Emigration. Ein Vergleich der Geschichte der Regierungen und der bürgerlichen Gesellschaft, etwa von 1849 bis 1859, mit der gleichzeitigen Geschichte der Emigration wäre die glänzendste Apologie, die für letztere geschrieben werden könnte."2 Demselben Willich, der in den Briefen an Weydemeyer fast am schlimmsten davonkommt, will Marx in dem Vogt-Pamphlete die „Tüchtigkeit" nicht bestreiten, also schon 1859 nicht, ehe Willich sich noch in dem amerikanischen Sezessionskriege große Verdienste erworben hatte. Als Marx dann im Jahre 1875 die „Enthüllungen über den Kölner Kommunistenprozess" in zweiter Auflage herausgab, schwankte er, ob er den Abschnitt über die Flüchtlingsstreitigkeiten nicht streichen solle, ließ ihn dann zwar stehen, jedoch nur um ein historisches Dokument nicht zu verstümmeln, während er zugleich die Haltung seiner damaligen Gegner in entlastendem Sinne erklärte. Ebenso hat Engels sich stets mit schonender Zurückhaltung über die Flüchtlingsstreitigkeiten ausgelassen, wenn er in späterer Zeit darauf zu sprechen kam. Gewiss sagt Sorge in einer seiner Anmerkungen mit Recht, man dürfe diese Kämpfe nicht einfach als Flüchtlingsdummheiten belächeln; tatsächlich hätten sich auch in ihnen die Geburtswehen des proletarischen Emanzipationskampfes vollzogen. Allein, soweit sie diese historische Bedeutung hatten, liegen sie in den Schriften von Marx und Engels längst offen vor, und wenn alle dokumentarischen Zeugnisse einer geschichtlichen Entwicklung in die Archive gehören, so gehören nicht alle in die Öffentlichkeit. Sorge wäre der letzte gewesen, sich bei gründlicherer Sichtung des von ihm gesammelten Materials, als ihm in seinem leidenden Zustande möglich war, dieser Erkenntnis zu verschließen.

Frau Sorge hat als seine Erbin in seinem Sinne zu handeln geglaubt, indem sie mir gestattete, sein Manuskript, das ich meinerseits aus anderem, mir zugänglichem Material noch mannigfach ergänzen konnte, nur in der Beschränkung zu veröffentlichen, die durch die eben angedeuteten Rücksichten geboten ist.

III

Der erste Brief der Sammlung ist von Frau Marx an Weydemeyer gerichtet; er rührt aus dem März 1848 her, als Marx und seine Familie aus Brüssel vertrieben, aber in Paris von der provisorischen Regierung der französischen Republik ehrenvoll aufgenommen worden waren. Citoyenne und Vagabonde unterzeichnet sich die Briefschreiberin: Weydemeyer, der gemeinsam mit seinem Schwager Lüning das „Westfälische Dampfboot" herausgab, soll in diesem darauf aufmerksam machen, dass der deutsche Arbeiterklub in Paris (Marx, Engels, Wolff, Schapper, Bauer) nichts gemein habe mit der demokratischen Assoziation (Börnstein, Bornstedt, Herwegh), die damals den abenteuerlichen Einfall nach Baden vorbereitete.3

Der zweite Brief fällt um mehr als ein Jahr später: Aus Bingen den 31. Mai erließen die Redakteure der eben verbotenen „Neuen Rheinischen Zeitung" eine Erklärung, worin sie "Jede Gemeinsamkeit mit dem zu Köln unter dem Namen ,Westdeutsche Zeitung' erscheinenden Blättchen von sich"4 abweisen. Weydemeyer, der inzwischen nach Frankfurt a. M. übergesiedelt war, um hier, wieder mit seinem Schwager Lüning, die „Neue Deutsche Zeitung" herauszugeben, soll die Aufnahme dieser Erklärung in das „Frankfurter Journal" veranlassen, nötigenfalls gegen Bezahlung als Inserat.

Am 13. Juli 1849 schrieb Marx selbst aus Paris, wo er mit seiner Familie sans le sou, ohne einen Pfennig, lebte; seine Mittel waren erschöpft, nachdem er 7 000 Taler der „Neuen Rheinischen Zeitung" geopfert hatte; „… schon der letzte Schmuck meiner Frau [ist] ins Pfandhaus gewandert"5. Marx suchte ein paar hundert Taler, um die erste Auflage der Schrift gegen Proudhon aufzukaufen und eine zweite Auflage zu veranstalten, die große Aussichten auf Absatz habe. Der Plan zerschlug sich, wie auch der andere Plan, Broschüren in Deutschland zu veröffentlichen, zuerst die Aufsätze über Lohnarbeit und Kapital, die in der „Neuen Rheinischen Zeitung" erschienen waren. Auch Engels schrieb um einen Verleger an Weydemeyer, am 25. August 1849 aus Lausanne: für „eine heitre Geschichte des ganzen pfälzisch-badischen Ulks"6, die dann bekanntlich später an anderer Stelle erschienen ist7.

Am 19. Dezember schrieb Marx aus London, 4 Andersonstreet, Kingsroad, Chelsea. Er war endlich dazu gelangt, die „Neue Rheinische Zeitung" als Revue zu erneuern. Freilich hoffte er noch, dass nach Erscheinen von drei, vielleicht zwei Monatsheften der Weltbrand intervenieren werde. Weydemeyer soll aus Süddeutschland für die Revue schreiben, auch an ihrem Vertrieb mithelfen, denn außer der buchhändlerischen Zirkulation war die Absicht, sie unter den Parteigenossen durch Abonnementslisten zu verbreiten. In gleichem Sinne bat Schramm, der Gerant der Revue, dass Weydemeyer „sich für Frankfurt an die Spitze der Bewegung für die Revue stellen" möge. Weydemeyer tat sein möglichstes, aber die revolutionäre Flut war in unaufhaltsamem Ebben. Dazu hinderte Krankheit von Marx das rechtzeitige Erscheinen der Hefte; auch der Drucker in Hamburg war nicht auf dem Posten. Dazwischen liefen Streitigkeiten zwischen den Londoner Flüchtlingskomitees; Briefe von Engels an Weydemeyer forderten auch hier Rat und Hilfe, nicht ohne Erfolg. Doch was Weydemeyer tun konnte, erwies sich als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Er hatte sich 100 Exemplare der Revue zum Vertrieb senden lassen, doch konnte er nur einen verhältnismäßig geringen Teil davon absetzen. Seine Einnahme belief sich bis Juni 1850 auf etwa 54 Gulden; „ich trete die Leute zwar genug, aber trotz aller Mahnungen beeilt sich niemand mit dem Zahlen".

So kehrte die bitterste Not im Hause Marx ein. Sie sprach in erschütternder Weise aus einem Briefe, den Frau Marx am 20. Mai 1850 an Weydemeyer richtete. Er sei hier wörtlich mitgeteilt, um seines biographischen und nicht weniger um seines literarischen Wertes willen, als ein Spiegelbild der seltenen Frau, der auch das quälendste Leid nie den stolzen Mut brach und nicht einmal die anmutige Heiterkeit der Seele entstellte.

Der Brief lautet:

Lieber Herr Weydemeyer!

Bald ist ein Jahr verflossen, seit ich bei Ihnen und Ihrer lieben Frau eine so freundliche, herzliche Aufnahme fand, seit ich mich in Ihrem Hause so wohl und heimisch fühlte, und in der ganzen langen Zeit habe ich kein Lebenszeichen von mir gegeben; ich schwieg, als Ihre Frau mir so freundlich schrieb, ich blieb selbst stumm, als wir die Kunde von der Geburt Ihres Kindes erhielten. Dies Verstummen hat mich oft selbst gedrückt, aber ich war meistens unfähig zu schreiben, und selbst heute noch wird es mir schwer, sehr schwer.

Allein die Verhältnisse zwingen mir die Feder in die Hand – ich bitte Sie, uns die von der ,Revue? eingegangenen oder eingehenden Gelder sobald als möglich zu schicken. Wir haben sie sehr, sehr nötig. Es kann uns sicher niemand nachsagen, dass wir je viel Wesens von dem gemacht haben, was wir seit Jahren geopfert und ertragen haben, das Publikum ist wenig oder fast nie mit unsern persönlichen Angelegenheiten behelligt worden, mein Mann ist in diesen Dingen sehr empfindlich, und er opfert lieber das Letzte auf, als dass er sich zu demokratischen Betteleien, wie die großen offiziellen Männer, hergeben sollte. Was er aber wohl von seinen Freunden, namentlich in Köln, erwarten konnte, war eine tätige, energische Teilnahme für seine ,Revue'. Diese Teilnahme konnte er vor allem da erwarten, wo seine Opfer für die ,Neue Rheinische Zeitung' bekannt waren. Stattdessen ist aber das Geschäft durch nachlässige, unordentliche Betreibung gänzlich ruiniert worden, und man weiß nicht, ob die Verschleppung des Buchhändlers oder die der Geschäftsführer und Bekannten in Köln, oder ob das ganze Benehmen der Demokratie überhaupt am schädlichsten waren.

Mein Mann ist hier fast erdrückt worden von den kleinlichsten Sorgen des bürgerlichen Lebens, und zwar in einer so empörenden Form, dass die ganze Energie, das ganze ruhige, klare, stille Selbstbewusstsein seines Wesens nötig waren, um ihn in diesen täglichen, stündlichen Kämpfen aufrechtzuerhalten. Sie wissen, lieber Herr Weydemeyer, welche Opfer mein Mann der Zeit[ung] brachte, Tausende steckte er bar hinein, das Eigentum der Zeitung übernahm er, beschwatzt durch die demokratischen Biedermänner, die sonst selbst für die Schulden hätten haften müssen, zu einer Zeit, wo schon wenig Aussicht mehr zur Durchführung da war. Um die politische Ehre des Blatts, um die bürgerliche Ehre der Kölner Bekannten zu retten, ließ er sich alle Lasten aufbürden, seine Maschine gab er hin, alle Einnahmen gab er hin, ja beim Fortgehn borgte er 300 Reichstaler, um die Miete für das neu gemietete Lokal, um die rückständigen Honorare für Redakteure etc. zu zahlen – und er war gewaltsam vertrieben.

Sie wissen, dass wir von allem nichts für uns übrig behalten, ich kam nach Frankfurt, um mein Silber zu versetzen, das Letzte, was wir hatten; in Köln ließ ich meine Möbel verkaufen, weil ich Gefahr lief, Wäsche und alles mit Beschlag belegt zu sehen. Mein Mann ging beim Anbrechen der unglücklichen Epoche der Konterrevolution nach Paris, ich folgte ihm mit meinen drei Kindern. Kaum in Paris eingewohnt, wird er vertrieben, mir selbst und meinen Kindern wird der längere Aufenthalt versagt. Ich folge ihm wieder übers Meer. Nach einem Monat wird unser 4tes Kind geboren. Sie müssten London und die hiesigen Verhältnisse kennen, um zu wissen, was es heißt, 3 Kinder und die Geburt eines 4ten. Miete allein mussten wir monatlich 42 Taler bezahlen. Alles dieses waren wir imstande, aus eignem aufgenommenem Vermögen zu bestreiten. Aber unsre kleinen Ressourcen erschöpften sich, als die ,Revue' erschien. Trotz Übereinkunft trafen die Gelder nicht ein und erst in einzelnen kleinen Summen, so dass wir in die schrecklichsten Lagen gerieten.

Ich werde Ihnen nur Einen Tag aus diesem Leben schildern, so wie er war, und Sie werden sehen, dass vielleicht wenig Flüchtlinge ähnliches durchgemacht haben. Da die Ammen hier unerschwinglich sind, entschloss ich mich, trotz beständiger schrecklicher Schmerzen in der Brust und im Rücken, mein Kind selbst zu nähren. Der arme kleine Engel trank aber mir so viel Sorgen und stillen Kummer ab, dass er beständig kränkelte, Tag und Nacht in heftigen Schmerzen lag. Seit er auf der Welt ist, hat er noch keine Nacht geschlafen, höchstens 2 bis 3 Stunden. In der letzten Zeit kamen nun noch heftige Krämpfe hinzu, so dass das Kind beständig zwischen Tod und elendem Leben schwankte. In diesen Schmerzen sog er so stark, dass meine Brust wund ward und aufbrach; oft strömte das Blut in sein kleines bebendes Mündchen. So saß ich eines Tages da, als plötzlich unsre Hauswirtin, der wir im Lauf des Winters über 250 Reichstaler gezahlt, und mit der wir kontraktlich übereingekommen waren, das spätere Geld nicht ihr, sondern ihrem Landlord auszuzahlen, der sie früher hatte pfänden lassen, eintrat und den Kontrakt leugnete, die 5 S, die wir ihr noch schuldeten, forderte, und als wir sie nicht gleich hatten (Nauts Brief kam zu spät), traten zwei Pfänder ins Haus, legten all meine kleine Habe mit Beschlag, Betten, Wäsche, Kleider, alles, selbst die Wiege meines armen Kindes, die bessren Spielsachen der Mädchen, die in heißen Tränen dastanden. In 2 Stunden drohten sie alles zu nehmen – ich lag dann auf der flachen Erde mit meinen frierenden Kindern, meiner wehen Brust. Schramm, unser Freund, eilt in die Stadt, um Hülfe zu schaffen. Er steigt in ein Kabriolett, die Pferde gehn durch, er springt aus dem Wagen und wird uns blutend ins Haus gebracht, wo ich mit meinen armen zitternden Kindern jammerte.

Den Tag drauf mussten wir aus dem Hause, es war kalt und regnicht und trüb, mein Mann sucht uns eine Wohnung, niemand will uns nehmen, wenn er von 4 Kindern spricht. Endlich hilft uns ein Freund, wir bezahlen und ich verkaufe rasch alle meine Betten, um die vom Skandal der Pfändung ängstlich gemachten Apotheker, Bäcker, Fleischer, Milchmann zu bezahlen, die plötzlich mit ihren Rechnungen auf mich losgestürmt kommen. Die verkauften Betten werden vor die Tür gebracht, auf eine Karre geladen – was geschieht? – Es war spät nach Sonnenuntergang geworden, das englische Gesetz verbietet das, der Wirt dringt mit Konstablern vor, behauptet, es könnten von seinen Sachen dabei sein, wir wollten durchgehn in ein fremdes Land. In weniger als 5 Minuten stehen mehr als 2 bis dreihundert Menschen gaffend vor unsrer Tür, der ganze Mob von Chelsea. Die Betten kommen zurück, erst am anderen Morgen nach Sonnenaufgang durften sie dem Käufer übergeben werden; als wir nun so durch den Verkauf unserer sämtlichen Habseligkeiten instand gesetzt waren, jeden Heller zu zahlen, zog ich mit meinen kleinen Lieblingen in unsre jetzigen kleinen 2 Stübchen im Deutschen Hotel, 1 Leicester Street, Leicester Square, wo wir für 5? – die Woche menschliche Aufnahme fanden.

Verzeihen Sie, lieber Freund, dass ich so breit und weitläufig selbst nur Einen Tag unsres hiesigen Lebens Ihnen geschildert; es ist unbescheiden, ich weiß es, aber mein Herz strömte heut Abend in meine zitternden Hände, und ich musste einmal mein Herz ausschütten vor Einem unsrer ältesten, besten und treusten Freunde. Glauben Sie nicht, dass mich diese kleinlichen Leiden gebeugt haben, ich weiß nur zu gut, wie unser Kämpfen kein isoliertes ist und wie ich namentlich noch zu den auserwählt Glücklichen, Begünstigten gehöre, da mein teurer Mann, die Stütze meines Lebens, noch an meiner Seite steht. Allein was mich wirklich bis ins Innerste vernichtet, mein Herz bluten macht, das ist, dass mein Mann so viel Kleinliches durchzumachen hat, dass ihm mit so wenig zu helfen gewesen wäre, und dass er, der so vielen gern und freudig half, hier so hilflos stand. Aber, wie gesagt, glauben Sie nicht, lieber Herr Weydemeyer, dass wir an irgend jemand Ansprüche machen, wenn wir von irgend jemand Vorschüsse erhalten, so ist mein Mann noch imstande, durch sein Vermögen sie zu erstatten. Das einzige, was mein Mann wohl von denen verlangen konnte, die manchen Gedanken, manche Erhebung, manchen Halt von ihm hatten, war, bei seiner ,Revue' mehr geschäftliche Energie, mehr Teilnahme zu entwickeln. Das bin ich so stolz und kühn zu behaupten, das wenige war man ihm schuldig. Auch weiß ich nicht, ob mein Mann nicht mit vollem Recht 10 Sgr. an seinen Arbeiten verdient hat. Ich glaube, es war dabei niemand betrogen. Das schmerzt mich. Aber mein Mann denkt anders. Er hat noch nie, selbst in den schrecklichsten Momenten, die Sicherheit der Zukunft, selbst den heitersten Humor verloren und war ganz zufrieden, wenn er mich heiter sah und unsere lieblichen Kinder um ihr liebes Mütterchen herum schmeichelten. Er weiß nicht, dass ich Ihnen, lieber Herr Weydemeyer, so weitläufig über unsere Lage geschrieben, machen Sie daher auch keinen Gebrauch von diesen Zeilen. Er weiß nur, dass ich Sie in seinem Namen gebeten habe, die Vertreibung und Übersendung der Gelder soviel als irgend möglich zu beschleunigen. Ich weiß, dass Sie von diesen Zeilen nur den Gebrauch machen, den Ihnen Ihre taktvolle, diskrete Freundschaft für uns eingibt.

Leben Sie wohl, lieber Freund. Ihrer lieben Frau sagen Sie das Herzlichste von mir, und Ihren kleinen Engel küssen Sie von einer Mutter, die manche Träne auf ihren Säugling nieder tröpfeln ließ. Sollte Ihre Frau selbst stillen, so teilen Sie ihr nichts mit von diesem Brief. Ich weiß, wie jede Aufregung angreifend ist und den kleinen Würmchen schadet. Unsere drei ältesten Kinder gedeihen prächtig, trotz alledem und alledem. Die Mädchen sind hübsch, blühend, heiter und guter Dinge, und unser dicker Junge ist ein Ausbund von komischem Humor und der drolligsten Einfälle voll. Der kleine Kobold singt den ganzen Tag komische Lieder mit ungeheurem Pathos und einer Riesenstimme, und wenn er die Worte aus Freiligraths Marseillaise:

,O Juni, komm und bring uns Taten,

Nach frischen Taten lechzt das Herz'

mit furchtbarer Stimme erschallen lässt, dröhnt das ganze Haus. Vielleicht ist es der weltgeschichtliche Beruf dieses Monats, wie seiner beiden unglücklichen Vorgänger, den Riesenkampf zu eröffnen, bei dem wir uns alle wieder die Hand reichen werden. Leben Sie wohl8

1 Siehe auch Franz Mehring: Aus Briefen von Engels an Marx. In: Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 545-548. Mehring kommentierte in dieser Veröffentlichung einige Briefe von Engels an Marx aus dem Jahre 1845. Die entsprechenden Briefe sind in Marx/Engels: Werke, Bd. 27, veröffentlicht.

2 Mehring irrt sich hier im Datum. Die Schrift gegen Vogt wurde 1860 geschrieben. Karl Marx: Herr Vogt. In: Ebenda, Bd. 14, S. 386.

3 Siehe Jenny Marx an Joseph Weydemeyer in Hamm, [16. März 1848]. In: Ebenda, Bd. 27, S. 604.

5 Marx an Joseph Weydemeyer in Frankfurt a. M., 13. Juli [1849]. In: Ebenda, Bd. 27, S. 500.

6 Engels an Joseph Weydemeyer in Frankfurt a. M., 25. August 49. In: Ebenda, S.511.

7 Gemeint ist Engels' Arbeit „Die deutsche Reichsverfassungskampagne", die 1850 im Ersten, Zweiten und Dritten Heft der „Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue", erschien. In: Ebenda, Bd. 7, S. 109-197.

8 Jenny Marx an Joseph Weydemeyer in Frankfurt a. M., 20. Mai [1850]. In: Ebenda, Bd. 27, S. 607-610. - Die Artikelserie wurde fortgesetzt mit heute allgemein bekannten Briefen. In: Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 53-59, 98-103, 160-168, 180-187, 222-228.

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