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Franz Mehring 18941017 Berliner Theater (Der Theaterleiter Otto Brahm)

Franz Mehring: Berliner Theater

Der Theaterleiter Otto Brahm

17. Oktober 1894

[Die Neue Zeit, 13. Jg. 1894/95, Erster Band, S. 118-120. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 233-235]

Es war meine Absicht, heute an dieser Stelle über ein neues Lustspiel von Ludwig Fulda zu berichten, das gestern im Deutschen Theater aufgeführt worden ist. Indessen ich dachte, und Herr Brahm krachte: ich muss mich darauf beschränken, zu erzählen, weshalb ich den Bericht nicht schreiben kann. Obgleich ich rechtzeitig in höflichster Form als Berichterstatter der „Neuen Zeit" die Direktion des Deutschen Theaters ersucht hatte, mir gegen Zahlung des Kassenpreises zwei Plätze in den ersten sechs oder acht Reihen des Parketts zu reservieren, beliebte es Herrn Brahm, mich auf die vierzehnte oder gar sechzehnte Reihe zu relegieren; ich sollte, wie Herr Brahm als Kritiker zu sagen pflegte, „aus den vorderen Reihen des Saales in des Waldes tiefste Gründe wandern, nach einer Art von Stallupönen strafversetzt werden", wo es mir aus räumlichen Gründen unmöglich gewesen wäre, Gang und Darstellung des Stückes mit derjenigen Genauigkeit zu verfolgen, welche die erste Voraussetzung einer sachlichen Kritik ist. Der Kritiker Brahm war gewohnt, sich in solchen Fällen damit zu helfen, dass er Stück und Darsteller beurteilte, ohne sie gesehen zu haben. Aber da ich für diese Handhabung der Kritik nicht genial genug veranlagt bin, so muss ich auf eine Besprechung von Fuldas Lustspiel verzichten.

Die Sache hat ihre zwei Seiten, von denen ich die eine inzwischen schon erledigt habe. Herr Brahm gestattete sich diesen Affront gegen den Kritiker der „Neuen Zeit" in dem biedermännischen Tröste: weit davon ist gut vorm Schuss. In der „Neuen Zeit" konnte eine Sühne der mir zugefügten Unbill vor der Öffentlichkeit erst in etwa zehn Tagen erfolgen, und bis dahin mochte längst Gras über den kleinen Zwischenfall gewachsen sein. Um diese Rechnung des Herrn Brahm zu vereiteln, beanspruchte ich Liebknechts kollegialen Beistand, der mir auch in freundlicher Weise gewährt wurde: in der heutigen Nummer des „Vorwärts" verhandelt Brahm wider Brahm, d. h., ich habe einfach die niederschmetternden Worte sittlicher Entrüstung abdrucken lassen, mit denen der Kritiker Brahm vor vier Jahren genau dieselben Praktiken geißelte, die der Theaterdirektor Brahm jetzt gegen mich ausübt. Es wäre zu grausam, wenn ich Herrn Brahm in der „Neuen Zeit" noch einmal diese Spießruten laufen ließe; wer sich dafür etwa noch interessiert, sei auf den heutigen „Vorwärts" verwiesen.1 Nur über die andere Seite der Sache möchte ich mir noch einige Worte erlauben, über die mildernden Umstände, die Herr Brahm für sich geltend machen kann und die ich gestern noch nicht kannte, als ich meine Erklärung für den „Vorwärts" niederschrieb.

Aus den heutigen Morgenblättern ersehe ich nämlich, was es mit Fuldas neuem Lustspiel eigentlich auf sich hat. Um meinerseits ganz unparteiisch zu sein, zitiere ich Herrn Paul Schienther, der seinerseits mit ungeschminkter Parteilichkeit sein kritisches Richtschwert zu Ehren und Gunsten seines Freundes Brahm schwingt. Et schreibt über das Problem von Fuldas Lustspiel: „Eine ernsthafte Lebensangelegenheit, die Scheidung einer Ehe, wird als komisches Motiv durchgeführt, die übliche Lustspielblamage besteht darin, dass eine Frau, die ihrem Mann davongelaufen ist, zuletzt von diesem Manne im Stiche gelassen wird. Der übliche blamierte Lustspielnarr ist diesmal eine Närrin, und zwar eine Modenärrin, und zwar eine geistige Modenärrin: eine in ihrem schwachen Gehirn von Ideen Schopenhauers, Nietzsches, Ibsens verwirrte Frau." Danach begreife ich freilich, weshalb Herr Brahm mich nicht gern in der Premiere dieses Stückes sehen wollte. Vor Jahren habe ich mit ihm einen etwas hitzigen Streit gehabt, weil ich den Dekokt2 aus Ibsen, Nietzsche und Schopenhauer, womit er und seine naturalistische Gefolgschaft überhaupt die kranke Gesellschaft heilen will, für eine „Modenarrheit" erklärte. Herr Brahm sprang damals wegen dieser banausischen Auffassung nicht sauber mit mir um. Und so mag es ihm freilich eine bittere, sehr bittere Empfindung sein, dass er jetzt, nicht aus besserer sozialistischer Überzeugung, sondern gebeugt von der eisernen Faust des Kapitalismus sein Allheilmittel vor derselben kranken Gesellschaft, die er als Doktor Eisenbart mit ihm kurieren wollte, als „Modenarrheit" verspotten lassen muss.

Um ein Muss handelt es sich dabei allerdings. Kein Mensch mit gesunden Sinnen stranguliert sich aus freien Stücken, und ich habe erst vor wenigen Wochen an dieser Stelle das Bemühen des Herrn Brahm anerkannt, ein klassisches Repertoire mit vortrefflichen Schauspielkräften durchzuhalten. Aber ich musste auch feststellen, dass er vor leeren Bänken spiele, und ich fügte hinzu, dass er in einigen Monaten bankrott sein werde, wenn ihm der Allerweltsmann Fulda nicht mit einem gefälligen Nichts à la „Talisman" aus der Patsche hülfe.3 Nun ist der Allerweltsmann Fulda erschienen, und es scheint fast, als ob er Herrn Brahm aus der Patsche helfen würde; wenigstens berichten die heutigen Morgenblätter einen großen Erfolg des Lustspiels. Aber mit welchen Mitteln, um welchen Preis ist der finanzielle Sieg errungen! Nicht einmal mit einem gefälligen Nichts, sondern mit einer Verhöhnung der „Modenarrheit", aus der heraus Herr Brahm die kranke Bühne und die kranke Gesellschaft heilen wollte. Man muss nur lesen, was er früher – siehe beispielsweise „Freie Bühne", Erster Jahrgang, S. 715 – über die „bestehenden Theater", über die „Geschäfts- und Luxusbühnen, deren einziger Beherrscher das Geld" sei, über die „Oberherrschaft der Kasse mit all ihren Folgen: rücksichtsloses Exploitieren des Erfolges, Versinken ins Banale, Kultus des Äußerlichen", als literarischer Reformer geschrieben hat, um zu begreifen, wie behaglich er sich heute in seiner Haut als Bühnenleiter fühlen muss. Ich liebe den Nietzscheanismus wahrhaftig nicht, aber wenn das wahr sein sollte, was Herr Schienther als Quintessenz des neuen Lustspiels von Fulda angibt, dann scheint mir diese Verspottung Ibsens, Nietzsches und Schopenhauers allerdings sehr „äußerlich" und „banal" zu sein – und wir werden ja sehen, ob Herr Brahm den Erfolg des Stücks „rücksichtslos exploitiert" oder nicht.

Von sozialistischer Seite ist der literarische Naturalismus nicht immer übereinstimmend beurteilt worden. Viele Mitglieder der Partei, und namentlich ältere, verwarfen ihn in Bausch und Bogen; viele andere, und namentlich jüngere, brachten ihm lebhafte Sympathie entgegen. Das eine wie das andere war erklärlich, und keines von beiden war ein Unglück. In der Tat hat der Naturalismus zwei Seelen in seiner Brust. Er verdient freundliche Förderung, soweit er sich aus der unsäglichen Nichtigkeit herauszuarbeiten sucht, worin die bürgerliche Literatur versunken ist; er verdient scharfe Kritik, soweit er sich feige an den großen Gegensätzen der Zeit herumdrücken will. Niemand verlangt vom Dichter oder Künstler, dass er nach dem Programm einer politischen Partei bilden oder dichten soll, aber noch hat kein Dichter oder Künstler Unsterbliches geschaffen, der nicht die gesellschaftlichen Kämpfe seiner Zeit empfand und verstand. Die angebliche Erhabenheit über diese Kämpfe, die der Naturalismus je länger je mehr herauskehrt, lässt ihn nur um so tiefer in den Sumpf zurückplumpsen, dem er entfliehen möchte. Wer das nach allen bisherigen Proben noch nicht erkannt hat, der kann es an dem Lose des Herrn Brahm erkennen, der vom Reformator der deutschen Bühne in glücklich sechs Wochen auf die gewöhnlichsten Kniffe und Pfiffe der kapitalistischen Theaterdirektoren herabgekommen ist.

1 Mehring schrieb im „Vorwärts" vom 18. Oktober 1894 – unter der Überschrift „Der Fall Brahm. Beleuchtet von Otto Brahm dem Älteren" – nach der Schilderung des Sachverhalts:

Was mich veranlasst, diesen ,Fall Brahm' im ,Vorwärts' zu veröffentlichen, ist der Umstand, dass Herr Brahm das ,Berliner Volksblatt', den heutigen ,Vorwärts', als eine besonders zuständige Instanz für die Beurteilung derartiger Vorkommnisse anerkennt. Im Herbst des Jahres 1890 widerfuhr ihm – angeblich oder wirklich – von einem hiesigen Theaterdirektor genau dieselbe Unbill, die er mir zugefügt hat. Ich lasse ihn nun selbst sprechen, mit Auslassung einiger überflüssiger Schimpfereien, … sonst wörtlich nach der ,Freien Bühne', 1. Jahrgang, S. 995 …" (Es folgen die Auslassungen Brahms, die mit dem Aufruf enden: „Noch einmal, hier ist die Korruption, hier der Ring: heran denn, ihr Sittenrichter von rechts und links, ,Kreuz-Zeitung' und ,Reichsbote' und ,Volksblatt'." – H. K.) Mehring fährt fort:

Es wäre unbillig, wenn der ,Vorwärts' als Erbe des ,Volksblattes' sich diesem erschütternden Appelle versagen wollte; inwieweit er sonst die Ansicht des Kritikers Brahm von der Solidarität der sozialdemokratischen Presse gegenüber der von dem Direktor Brahm einem ihrer Organe zugefügten Unverschämtheit teilt, das zu entscheiden, ist seine, nicht meine Sache. Bemerken will ich nur noch, dass meine Bewunderung für die wunderschönen Theorien des Kritikers Brahm sich keineswegs auf die praktischen Auswege erstreckt, die er zu finden wusste, wenn er von Theatern ausgesperrt wurde: er schrieb dann frischweg Kritiken über Stücke und Schauspieler, die er nie gesehen hatte. Die Leser der ,Neuen Zeit' werden nichts über Fuldas neues Lustspiel erfahren (es handelt sich um „Kameraden" – H. K.), und ich will nur hoffen, dass sie sich in dies schreckliche Malheur mit leidlichem Humor finden werden."

2 Dekokt – Absud.

3 Siehe Franz Mehring: „Berliner Theater", (17. September 1894)

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