Franz Mehring‎ > ‎Kunst und Kultur‎ > ‎

Franz Mehring 18940117 Dekadenz (Auszug)

Franz Mehring: Dekadenz

(Auszug)

17. Januar 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 514-516. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 230-232]

[…] Eine versinkende Welt, wie die herrschenden Klassen der kapitalistischen Gesellschaft, darf sich überhaupt nicht mehr den Luxus origineller Charaktere gestatten. Durch die Wucht solcher Charaktere wird sie um so schneller in den Abgrund gerissen, und einen Monarchen von eigenem Charakter kann sie nun schon gar nicht ertragen. Der Tragikomödie des Schiller-Preises1, die wir jüngst an dieser Stelle geschildert haben, sind die Tragikomödien der Schlossplatzverbreiterung, des Verdunpreises und des Kaiser-Wilhelm-Denkmals auf dem Fuße gefolgt. Wir haben nicht den entferntesten Anlass und nicht die geringste Neigung, für den Geschmack des Kaisers in allen diesen Fragen eine Lanze zu brechen. Ein guter Geschmack bildet sich überhaupt nur in strenger Kritik, und dies ist der Grund, weshalb Fürsten, selbst wenn sie sich viel mit der Kunst zu beschäftigen pflegen, selten auch nur einen passablen Geschmack zu besitzen pflegen. Dess zum Zeichen starren die Plätze und Straßen Berlins, Münchens und anderer Residenzstädte von Geschmacklosigkeiten der bauenden und bildenden Kunst. Aber gleichviel ob der Geschmack des Kaisers zu loben oder zu tadeln ist, jedenfalls ist es ein besonderer Geschmack, und dadurch, dass die bürgerlichen Instanzen, die ihn wirksam zu kritisieren veranlasst und sogar verpflichtet wären, angstbebend in ihren Wadenstrümpfen zusammenschauern und höchstens die Faust in der Tasche ballen, sobald es zum Klappen kommt, wird dieser besondere Geschmack auch ein besonderer Stachel, die innere Abwirtschaftung der herrschenden Klassen voranzutreiben. Klassen, die sich nicht einmal mehr einen König erziehen können, sollen sich doch nicht einbilden, das Proletariat leiten zu können.

Haben sie Gnade mit sich und mit uns", das war der letzte Trumpf, den der Oberbürgermeister Zelle darauf setzte, als der Magistrat von der Stadtverordnetenversammlung die einstweilen noch unabzählbaren Millionen verlangte, die aus den Taschen der städtischen Steuerzahler aufgebracht werden müssen, um die Verbreiterung des Schlossplatzes durchzuführen. Die Forderung war so ungeheuerlich, dass sich die Angstphilister des Roten Hauses wiederholt dagegen aufgelehnt hatten; aber Herr Zelle ist nicht der Mann, so leicht locker zu lassen, und als jüngst das Fegefeuer der fälligen Gemeindewahlen überstanden war, wobei nicht wenig mit dem Mannesmut geprahlt wurde, den die Stadtverordneten in der Frage der Schlossplatzverschönerung vor Königsthronen bewiesen haben sollten und scheinbar auch bewiesen hatten, fiel die nötige Zahl von Biedermännern alsbald um. Sie hatten Erbarmen mit sich und mit Herrn Zelle. Und während die dem Oberbürgermeister verschwägerte „Vossische Zeitung" diese parlamentarisch gar nicht zu kennzeichnende Verschleuderung von vielen Millionen als eine herrliche Kulturtat ausposaunte, bekämpfte dasselbe Blatt den Antrag der sozialdemokratischen Stadtverordneten, der den Achtstundentag bei den Arbeiten der städtischen Verwaltung einführen will, um die Beschäftigung von Arbeitern zu ermöglichen, die ohne ihre Schuld arbeitslos geworden sind, als eine tatsächliche Lohnerhöhung der gegenwärtig beschäftigten Arbeiter mit dem Satze: „In Zeiten einer schlechten Konjunktur die Löhne erhöhen, heißt eine Verschwendung treiben, die in keiner Weise zu rechtfertigen ist." In der Tat – nichtswürdigere Lohnschreiber als der freisinnige Klüngel von Berlin hat der Welfenfonds am Ende auch nicht gezüchtet.

Harmloser ist die Tragikomödie des Verdunpreises, der 1843 bei der tausendjährigen Jahresfeier des Vertrages von Verdun gestiftet wurde und alle fünf Jahre an das beste, in diesem Zeiträume erschienene Geschichtswerk verliehen werden soll. Irren wir nicht, so beläuft er sich, wie der Schiller-Preis, auf tausend Taler. Die betreffende, aus Mitgliedern der Akademie und Professoren der Universität zusammengesetzte Kommission hatte diesmal Sybels fünfbändiges Geschichtswerk über die Gründung des neudeutschen Reiches zur Krönung vorgeschlagen, aber der Kaiser hat seine Bestätigung versagt, obgleich Sybel als Direktor der Staatsarchive ein hoher Staatsbeamter ist. Man begreift die staubaufwirbelnde Wirkung dieses Schlages auf die akademischen Perücken. Da der Verdunpreis natürlich immer nur an gut borussische Historiker verliehen wird, so hat es kein sachliches Interesse, ob ihn der oder jener bekommt, aber es ist spaßhaft zu sehen, wie sich die Byzantiner krümmen und wie sie zischeln, nächstens würden wohl nur noch Werke über das neudeutsche Reich Wohlgefallen erregen, in denen Bismarcks Name gar nicht vorkäme. Für das Byzantinertum ist die Sache allerdings von höchster Bedeutung. Wenn die Wetterfahnen den Wind nicht einmal auf fünf Jahre vorausberechnen können, so gerät das ganze Geschäft auf eine höchst unsichere Basis. Vor fünf Jahren war Sybel ein so wohlgelittener Mann, dass er – entgegen allem sonstigen Brauche – die Archive bis auf das Jahr 1870 benutzen durfte; in grellem Gegensatz zu der von ihm selbst geübten Praxis, unabhängigen Historikern sogar die Akten des vorigen Jahrhunderts abzusperren. Und wie wohlgesinnt war erst sein Werk! Wie strich es alle die „Großen Männer" heraus, die das Deutsche Reich und damit einen Wendepunkt der Weltgeschichte „gemacht" hatten! Das alles ist nun mit einem Federstriche kassiert. Ja, die Wetterfahnen sind sehr verlegen. Aber dass dergleichen nur Wetterfahnen passiert, ist ein Gedanke, der ihnen nicht kommt und am Ende auch nicht kommen kann.

Endlich die Tragikomödie des Kaiser-Wilhelm-Denkmals, deren Kosten leider wieder zu vielen Millionen aus den Taschen der Steuerzahler gezahlt werden sollen. Nach dem Tode des Kaisers Wilhelm I. beschloss der damalige Reichstag, ihm ein Denkmal zu errichten, und wie es immer sonst um diesen Beschluss bestellt gewesen sein mag: wollte der Reichstag ein solches Denkmal errichten, so musste er sich auch das Recht sichern, bei der Art der Ausführung ein entscheidendes Wort mitzusprechen. Statt dessen ließ er sich auch hier von Position zu Position drängen, so dass ihm nur die Bewilligung der Kosten verblieb, während der Kaiser alles andere zu bestimmen hatte. Nun hat der vom Kaiser beauftragte Künstler, der ehedem geniale Reinhold Begas, der, seitdem er auf höfischen Bahnen wandelt, erschrecklich schnell heruntergekommen ist, ein Modell zu dem Denkmal ausgearbeitet, das zwar nur ein einziges, aber dafür seltenes Verdienst besitzt: das Verdienst nämlich, die denkbar verschiedensten Geschmacksrichtungen in dem einstimmigen Urteile zu vereinen, dass es ein wahres Monstrum von Geschmacklosigkeit sei. Es fragt sich jetzt, ob die Reichstagsmehrheit die Courage haben wird, ihrer Überzeugung zu folgen und die mehr als acht Millionen zu verweigern, die für die Ausführung dieses Denkmals gefordert werden. Ein erster kühner Anlauf, sie abzuschlagen, ist in der Budgetkommission auf halbem Wege eingestellt worden; man hat die Beschlussfassung „bis auf weiteres" vertagt. Das sieht bedenklich nach altbekanntem Umfall aus, doch wir wollen den Tag nicht vor dem Abend tadeln, und am Ende gibt es ein Maß von Demütigung, das aus Hasen beinahe noch so etwas wie Helden macht.

Endete diese Tragikomödie aber doch wie alle ihre Vorgängerinnen, so ließe sich wenigstens ein mildernder Umstand geltend machen. Schade um die sündhafte Verschwendung des schönen Geldes, aber wenn das Kaiser-Denkmal des Herrn Begas sich inmitten der deutschen Hauptstadt erheben sollte, so hätte die Dekadenz, in welche die deutschen Geschicke seit Begründung des neudeutschen Reiches geraten sind, einen in jeder Beziehung treffenden Ausdruck gefunden. […]

1 „Die Helden des Schillerpreises" (9. Januar 1894)

Kommentare