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Franz Mehring 18910800 Der Kapitalismus und die Kunst

Franz Mehring: Der Kapitalismus und die Kunst

August 1891

[Die Neue Zeit, 9. Jg. 1890/91, Zweiter Band, S. 649-653, 686-690. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 169-180]

I

Seit einigen Monaten ist in der deutschen Hauptstadt eine internationale Kunstausstellung eröffnet worden. Den äußeren Anlass bot das fünfzigjährige Bestehen des „Vereins Berliner Künstler". Dieser Verein ist eine höchst loyale Genossenschaft, und wie er vor einigen Jahren bei der denkbar unpassendsten Gelegenheit das schriftliche Bekenntnis seiner ehrbaren Gesinnungen in die Hände eines preußischen Staatsanwalts niederlegte, so hat selbst sein Jubeljahr nicht so weit mildernd auf die Strenge seiner Grundsätze einzuwirken vermocht, dass er den Wunsch von Arbeitervereinen um erleichterte Eintrittsbedingungen gewährte. Möglich auch, dass er wohlwollenden Sinnes den Arbeitern nur eine herbe Enttäuschung zu ersparen beabsichtigte. Denn falls dieselben etwa des Glaubens leben sollten, dass sie auch zu der Welt gehören, die einer künstlerischen Darstellung lohnt, so würde diese internationale Kunstausstellung sie eines anderen belehren. Unter den vier- bis fünftausend Nummern derselben mag auf je tausend nicht viel mehr als eine kommen, die dem klassenbewussten Arbeiter jene Luft entgegenweht, in welcher er denkt und fühlt, lebt und leidet, kämpft und strebt.

Bei so bewandten Umständen könnte es sich fragen, ob es notwendig oder auch nur schicklich sei, dass die „Neue Zeit" über diese Ausstellung berichtet. Und sicherlich wäre die Frage zu verneinen, wenn es sich um die landläufigen Berichte der bürgerlichen Presse handeln sollte, in denen ein paar hundert der „bedeutendsten" Nummern aufgezählt zu werden pflegen, jede mit einem „kunstkritischen Urteile" versehen, das der Philister dann am Bier- oder Teetische behaglich breittreten kann. Dergleichen Berichte sind schon in der bürgerlichen Presse, so weit sie es mit ihrer Aufgabe noch einigermaßen ernst nimmt, das überflüssigste Ding von der Welt, sintemalen es mit dem „kunstkritischen Urteile" so seine eigene Bewandtnis hat. Die bürgerliche Weltanschauung hat gar keine festen Maßstäbe dieses Urteils, wovon sich schon äußerlich jeder leicht überzeugen kann, der auch nur in den hervorragendsten Organen der bürgerlichen Presse das bunte Durcheinander der Urteile über die einzelnen Kunstwerke der internationalen Ausstellung verfolgt. Der innere Grund dieser Erscheinung ist der, dass der bürgerlichen Presse die materialistische Geschichtsauffassung ein Rätsel mit sieben Siegeln ist und – bei Strafe ihres Daseins! – auch sein muss. Wie sich in den rechtlichen und staatlichen Einrichtungen, in den politischen, philosophischen und religiösen Anschauungen einer Epoche die ökonomischen Verhältnisse derselben widerspiegeln, so auch in ihren künstlerischen Hervorbringungen. Ja sogar nach einer bestimmten Richtung vorzugsweise in ihnen. In Recht und Staat, in Politik, Philosophie und Religion sprechen auch die beherrschten Klassen bis zu einem gewissen Grade mit; in der Kunst aber haben – mit einziger Ausnahme der lyrischen und epischen Dichtung – die herrschenden Klassen allein das Wort. Schon die Musik und das Theater, vollends aber die bildenden Künste beruhen in der bürgerlichen Gesellschaft von heute durchaus auf kapitalistischen Voraussetzungen, und wie der Physiker den Luftdruck, die Schwere, die Elektrizität am klarsten aufzeigt, wenn er die Erscheinungen durch möglichste Fernhaltung der Störungen, welche sie in Wirklichkeit begleiten, im Experimente auf ihre einfachste Gestalt zurückführt, so besitzt der Sozialpolitiker in einer internationalen Kunstausstellung den treuesten Wertmesser für die ideologische Einwirkung des Kapitalismus auf das internationale Völkerleben.

Insbesondere die bürgerlichen Klassen in Deutschland haben von dieser Wechselbeziehung zwischen Kapitalismus und Kunst, wenn nicht ein klares Bewusstsein, so doch eine sehr deutliche Ahnung; fühlten sie sich auf diesem Gebiete nicht noch als Alleinherrscher, so würden sie nicht mit so rauschendem Beifall den Vorschlag eines kundigen Thebaners begrüßt haben, die Kunst als den Zopf zu betrachten, an welchem sie sich wieder aus dem Sumpfe ziehen können. Das Buch „Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen" hat in kaum Jahresfrist, wenigstens nach der Behauptung seines Titelblattes, dreiunddreißig Auflagen erlebt; jedenfalls wird es in einem für die Bildungsverhältnisse der deutschen Bourgeoisie beispiellosen Umfange gelesen, und unzählige Nachahmungen, das sicherste Zeichen des Erfolges in einer profithungrigen Gesellschaft, überschwemmen den bürgerlichen Büchermarkt. Diese Schrift nun richtet sich an die „Besseren unter den Gebildeten Deutschlands" mit der Aufforderung, sich „zur Kunst zu wenden", um das „geistige Leben des deutschen Volkes" aus dem „Zustande des langsamen, einige meinen auch des rapiden Verfalles", zu retten. Es gilt die Pflege der „spezifisch deutschen Gesinnung"; „Bismarck besitzt eine solche; er ist, wie er öfters betont hat, von linkselbischer Abstammung; diese scheidet ihn, ethnographisch und politisch, von Junkern wie von Fortschrittlern. Noch jetzt findet man zwischen Stendal und Tangermünde im niederen Volke einen Schlag von kernfesten Männern, mit blitzenden, blauen Augen und halb kühnem, halb bedächtigem Gesichtsausdruck; der alte Sachsengeist lebt in ihnen, und als eine adelige Übersetzung derselben muss Bismarck gelten." Aber gehen wir lieber gleich in die Mitte der Sache! „Wie man in plastischen Kunstwerken eine symmetrische und rhythmische Achse unterscheidet, so gilt dies auch von dem künftigen Dasein des deutschen Volkes; seine symmetrische und politische Achse muss wie bisher auf die Ostsee gerichtet bleiben; aber seine rhythmische oder geistige Achse muss von nun an auf die Nordsee gerichtet werden. Diese beiden Achsen kann man im allgemeinen durch die Richtung zweier Flüsse, des sonnigen Rheines und der kühlen Oder, bezeichnen; in demjenigen Punkte, wo sich die Hauptrichtungen dieser beiden Flüsse überschneiden und an dem Strom, welcher eine mittlere Diagonale zwischen denselben darstellt: an der Elbe, liegt die Altmark – der Kern Preußens und das Geburtsland Bismarcks. Die Zusammengehörigkeit jener beiden Faktoren, des Politischen und des Geistigen, einerseits sowie ihr Auseinandergehen andererseits, ist durch dies gegebene geographische Verhältnis aufs Schlagendste ausgedrückt, und der Träger der neueren deutschen Politik: Bismarck wird dadurch gewissermaßen als der Angelpunkt bezeichnet, um welchen sich jene Achsendrehung deutschen Nationalcharakters vollzieht. An Stelle des rechten soll das linke Elbufer, an Stelle der Oder nunmehr der deutsche Rhein wieder die Lebensader der deutschen Bildung sein. Rembrandt – van Rijn – ist der nördliche Pol, auf den die in freier und doch gebundener Bewegung befindliche Magnetnadel des deutschen Individualismus stetig hinweist, und weit über diesem Nordpol steht noch ein schöner Polarstern, der das Gleiche bedeutet: Shakespeare. Die Achse der echten deutschen Bildung führt von Bismarck durch Rembrandt zu Shakespeare." Doch genug: es ist als hörte man einen Chor von hunderttausend Narren sprechen, und die Wiedergabe dieser wenigen Sätze aus der über dreihundert große Seiten umfassenden Schrift genügt überreichlich als Probe der geistigen Kost, welche die deutsche Bourgeoisie heutzutage mit wirklichem Heißhunger verschlingt. Ein Glück wenigstens, dass ihr Geschichtsphilosoph selbst ein so bescheidenes wissenschaftliches Rüstzeug, wie es sich etwa in der Statistik der Reichstagswahlen von 1890, in einer Spezialkarte der Altmark und in Hesekiels Buch vom Grafen Bismarck darstellen würde, verschmäht hat, denn sonst wäre es mit der „echten deutschen Bildung" und der „Achsendrehung des deutschen Nationalcharakters" überhaupt nichts. Die Statistik würde zeigen, dass die „wetterfesten Männer" des „niederen Volkes" zwischen Stendal und Tangermünde von dem „alten Sachsengeiste" gar nichts, aber sehr viel von dem neuen Sozialistengeiste wissen wollen; auf der Karte würde sich zeigen, dass Bismarcks Geburtsort nicht westlich, sondern östlich der Elbe liegt und endlich – das Buch vom Grafen Bismarck würde ergeben, dass die Altmark zwar standesamtlich, aber keineswegs „ethnographisch und politisch" sein Geburtsland ist, da seine Eltern gleich nach seiner Geburt nach Hinterpommern übersiedelten, wo der „Träger der neueren deutschen Politik", noch zwanzig Meilen östlich der Oder, die entscheidenden Eindrücke seiner Kindheit, seiner Jugend und auch seines ersten Mannesalters empfangen hat.

Doch dies nebenbei. Abgesehen von seiner Begründung, kommt der Rat, den „deutschen Individualismus" durch die Kunst zu retten, da die deutsche Wissenschaft „allseitig zerstiebt", ein wenig zu spät, wie nicht zuletzt die deutsche und ganz besonders die Berliner Abteilung der internationalen Kunstausstellung zeigt. Sie ist ganz arm an „epochemachenden Individualitäten", und sie erleidet in dem internationalen Wettbewerb eine ähnliche Niederlage, wie die deutsche Industrie auf der Weltausstellung in Philadelphia erlitten hat. Selbst die Kunstkritiker der bürgerlichen Presse können trotz allem Chauvinismus die fatale Tatsache nicht verschweigen; sie suchen sich mit dem sauersüßen Witze darüber hinwegzusetzen, dass Deutschland die internationale Höflichkeit ein wenig zu weit getrieben habe, indem es sich von den fremden Nationen auf künstlerischem Gebiete schlagen ließ. Leider ist damit die Sache nicht abgetan. Der deutschen Kunst fehlt die Initiative, die Selbstherrlichkeit; sie wagt nichts; indem sie den Meißel oder den Pinsel führt, schielt sie ängstlich über die Schulter nach den hochmögenden Potenzen des politischen und sozialen Lebens; ihr ist wohl in der Knechtsgestalt, und am liebsten geht sie zu Hofe.

Nicht zwar als ob an ihr das Streben nach künstlerischer Freiheit und unbedingter Natürlichkeit, der Impressionismus, die Freilicht-Malweise, spurlos vorübergegangen wäre! Aber sie macht nur die Mode mit; sie sucht nur die neue Technik zu lernen; sie empfindet kaum etwas von dem Geiste, welcher dieselbe beseelt. Darin liegt aber eher ein Rückschritt als ein Fortschritt, weil der Impressionismus rein technisch eher reaktionär als revolutionär wirkt. Indem er sich gegen die akademisch konventionelle, der Natur entfremdete, überlebte und veraltete Malweise auflehnt, schüttet er das Kind mit dem Bade aus und verleugnet das Wesen jeder Kunst durch die Forderung, dass die Bedeutung des Kunstwerks einzig und allein nach seiner Naturwahrheit zu beurteilen, dass als Preis der Kunst nur die sozusagen buchstäbliche Wiedergabe der Natur aufzufassen, dass jede eigene Zutat aus der Phantasie des Künstlers, jede künstlerische Erfindung und Komposition zu verwerfen sei. Auf diesem Wege gelangt man unvermeidlich zu der Schlussfolgerung, dass die Photographie die höchste Vollendung der bildenden Kunst ist. Wohl steckt die Kunst in der Natur, wie Albrecht Dürer in seiner tiefsinnigen Weise sagt; wer sie heraus kann reißen, der hat sie, aber sie wird „offenbar durch das Werk und die neue Kreatur, die einer in seinem Herzen schafft in der Gestalt eines Dinges". Vor dem Richterstuhle des Impressionismus gehören die genialsten Werke dieser Ausstellung, ihre im wirklichen Sinne des viel missbrauchten Worts einzig genialen Werke, Böcklins „Meeresstille" und „Weg zum Bacchustempel", Schöpfungen voll tiefer, wundersamer Phantasien und in der Tat voll „neuer Kreaturen", zum alten Eisen, während doch der schweizerische Meister gleichzeitig in seiner köstlichen „Susanna im Bade" dem vernebelnden und unwahrhaftigen Idealismus in der Kunst den Pinsel sozusagen immer rechts und links um die Ohren schlägt.

Will man dem Impressionismus gerecht werden, so wird man vor allem zu untersuchen haben, weshalb und wovon er frei sein will, frei wie die Luft auf den Gebirgen. Und die Antwort ist nicht schwer zu finden, wenn man erwägt, dass er die künstlerische Freiheit in der unbedingtesten Hingabe an die Natur sucht. Er will frei sein von der Gesellschaft, in welcher zu leben die Kunst verurteilt ist, d. h., wie heute die Dinge liegen, von der kapitalistischen Gesellschaft, deren Bande in dem Maße, in welchem sie selbst von Jahr zu Jahr mehr zusammentrocknet, um so schmerzlicher einschneiden. Der Impressionismus ist dieselbe künstlerische Rebellion auf dem Gebiete der bildenden Kunst, welche der Naturalismus im Drama ist; er ist die Kunst, welche den Kapitalismus im Leibe zu spüren beginnt: „sie fährt herum, sie fährt heraus und säuft aus allen Pfützen". In der Tat erklärt sich auf diese Weise leicht die sonst unerklärliche Freude, welche die Impressionisten der bildenden und die Naturalisten der dichtenden Kunst an allen unsauberen Abfällen der kapitalistischen Gesellschaft haben; sie leben und weben in solchem Kehricht, und es gibt auch keinen peinlicheren Protest, den sie in ihrem dunkeln Drange ihren Peinigern ins Gesicht werfen können. Aber von einem dunkeln Drange bis zu einer klaren Erkenntnis einer neuen Kunst- und Weltanschauung ist noch ein weiter Weg, und auf diesem Wege machen die neuen Richtungen, die zu einer wahrhaftigen Kunst zurückstreben, nur erst schwankende und unsichere Schritte. Der Kapitalismus hat gerade die bildende Kunst so sicher eingekerkert, dass ihre jungen und tüchtigen Kräfte die kecken Zerrbilder, mit denen sie ihre Kerkermeister verhöhnen, doch nur auf die Wände des Kerkers selbst zu werfen vermögen. Die Impressionisten sind auf künstlerischem Gebiet eine Art bürgerliche Sozialisten; sie treffen mit bitterer Kritik die Auswüchse der kapitalistischen Gesellschaft, aber nicht um diese Gesellschaft zu vernichten, sondern gerade um sie zu reinigen, zu stärken und als ihren unveräußerlichen Nährboden zu erhalten. Sie schildern das verlumpte und vertierte, aber nicht das arbeitende und kämpfende Proletariat. Das ist die Regel, und bei der kapitalistischen Voraussetzung der bildenden Künste muss es auch die Regel sein. Erst wo der Impressionismus die kapitalistische Denkweise selbst durchbrochen hat und die Anfänge einer neuen Welt in ihrem inneren Wesen zu erfassen weiß, wirkt er revolutionär, wird er eine neue Form künstlerischer Darstellung, die schon jetzt keiner früheren an eigentümlicher Größe und Kraft nachsteht und sie dermaleinst alle an Schönheit und Wahrheit zu übertreffen berufen ist. Werke dieser Art fehlen der internationalen Kunstausstellung nicht ganz, wenn sie auch aus dem mehrfach angegebenen Grunde nur Ausnahmen von der Regel sein können.

II

Der Impressionismus findet sich als naturwüchsige Erscheinung nur in der bildenden Kunst derjenigen Völker, in deren ökonomischen Zuständen der Kapitalismus seinen Höhepunkt erreicht hat und schon in den absteigenden Ast seiner Entwicklung getreten ist, so in der amerikanischen, der englischen, der belgischen, der italienischen Kunst; Frankreich ist auf der internationalen Kunstausstellung aus bekannten Gründen gar nicht oder doch nur so spärlich vertreten, dass es sich an dieser Stelle jedem Vergleiche entzieht. Überall wo die Bourgeoisie sich noch im aufsteigenden Aste befindet und demgemäß noch an ihre Ideale glaubt, führt die alte Malweise auch ein wurzelkräftiges Dasein und erreicht gerade auf der hier besprochenen Ausstellung große Erfolge. Die polnische, ungarische und auch die russische Kunst sind durch eine Fülle von Gemälden vertreten, deren hervorragende Bedeutung nicht im Mindesten dadurch geschmälert wird, dass sie sich so gut wie nirgends von der Blässe des Freilichts angekränkelt zeigen. Sieht man etwa von Böcklin ab, so sind Brozik, Munkácsy, Matejko die Helden der Ausstellung.

Dazu kommt ein anderes. Wie auf die Technik, so wirkt die ökonomische Entwicklung auch auf die Stoffe der bildenden Künste ein. In einer kapitalistisch entwickelten Gesellschaft stirbt die religiöse und die historische Malerei ab, verflacht und vertrocknet das Genre, entseelt sich die Landschaft und gedeiht nur das Porträt in virtuoser Vollendung. Was soll das Bild des Gekreuzigten oder auch nur eine historische Haupt- und Staatsaktion im Salon eines Börsenfürsten? Der lässt sich höchstens noch ein Genrebild gefallen, vorausgesetzt, dass es in altvaterisch-kleinbürgerlicher Weise einen altvaterisch-kleinbürgerlichen Stoff behandelt, etwa einen Kreis zechender Bauern oder auch einen Arbeiter, der sich im genügsamen Bewusstsein seiner „fröhlichen Armut" an einem kärglichen Kartoffelmahle erquickt und unter allen Umständen mit einem „Streikbruder" nicht die entfernteste Ähnlichkeit haben darf. Er mag auch noch mit einer Landschaft seine Wände tapezieren, namentlich wenn dieselbe einen Alpengipfel darstellt, an dessen Fuße er einmal gestanden hat oder einen Seestrand, der mit geputzten Modefigürchen belebt ist* aber über allem andern steht ihm das Porträt, zuerst natürlich seiner selbst und des Nachwuchses, der nach ihm die Welt beherrschen soll. So ist die Ausstellung mit Bildnissen in Bildern und Büsten schier überschwemmt. Es ist vielleicht nur ein Zufall, aber dann jedenfalls ein bezeichnender Zufall, dass England, das Vorland des Kapitalismus, in bedeutsamer Weise fast nur durch eine Reihe von Porträtisten, die Hubert Herkomer, W. W. Ouless, W. B. Richmond, J. J. Shannon, vertreten ist. Dabei macht sich immerhin auch in bezeichnender Weise die eigentümliche Größe des englischen Lebens gelten. Köpfe, wie der von Ouless gemalte Erzbischof Manning oder der von Richmond gemalte Darwin, der beiläufig um die Augen und in der mächtigen Schädelwölbung eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Karl Marx zeigt, sind Meisterleistungen von bleibendem Werte. Kläglicher sieht es in der deutschen Abteilung aus. Selbst ein mit Recht so berühmter Meister wie Lenbach wird unwahr, indem er einem gekrönten Haupte einen bedeutenden Ausdruck zu geben versucht, den die Natur in einer unehrerbietigen Laune den betreffenden Gesichtszügen nun einmal versagt hat, und Reinhold Begas, der vor dreißig Jahren in Lassalles Büste einen prachtvollen Zäsarenkopf schuf, stellt in dem Grabmale Strousbergs ein bei aller technischen Virtuosität vollkommenes Nichts aus. „Die Kunst geht nach Brot": freilich, aber schade für die Kunst, dass die Börsenjobber der Burgstraße, welche heutzutage die Geber alles Guten sind, wirklich auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit den Augsburger und Nürnberger Patriziern des sechzehnten Jahrhunderts haben!

In den Völkern dagegen, in denen die kapitalistische Entwicklung noch nicht auf der ganzen Linie gesiegt hat, blüht noch die religiöse und die historische Malerei; so in Polen, Ungarn, Russland und – am anderen Ende Europas – in Spanien. Der Kleinbürger und insbesondere der Bauer ist ohne seinen Gott so wenig denkbar wie die aufstrebende Industrie ohne ihre nationale Begeisterung. Ein Bild wie Árpád v. Fesztys „Die trauernden Frauen am Grabe Christi" könnte in gleich ergreifender Darstellung und mit gleich naiver Glaubens- und Schaffensfreudigkeit ein deutscher oder englischer Künstler sowenig malen, wie etwa ein Poet von heute das Nibelungenlied zu dichten vermöchte. Die historischen Gemälde von Brozik „Fenstersturz von Prag" und von Matejko „Skargas Predigt vor der Landtagssitzung in Gegenwart König Sigismunds III." sind uns ihren Vorwürfen nach sehr gleichgültig, oder sie sind uns gar, wie Salvador Martinez Cubells' „Donna Ines de Castro" und wie Matejkos „Vermauerung des Maciej Borkowicz", sehr widerwärtig, aber gleichwohl wirken sie in hohem Maße anziehend als die Erzeugnisse einer bedeutenden und wahrhaftigen Kunst; sosehr lebt in ihnen ein noch wesenhafter nationaler Geist. Ähnliches gilt von den Genrebildern jener Völker. Die Szenen aus dem bäuerlichen Leben, welche polnische, russische und ungarische Meister in reicher Fülle ausstellen, sprühen in ganz anderer Weise von Feuer und Kraft als die Bauernbilder von Knaus, Vautier und Defregger. Es sind wahrlich keine geringen Namen, welche diese deutschen Vertreter der kleinbürgerlichen Kunst tragen, aber sie schildern eine Welt, welche nicht mehr ist oder doch nicht mehr so ist, wie sie auf diesen Bildern erscheint, eine Welt, welche entweder schon untergegangen ist oder doch Tag für Tag allmählich untergeht, und die stärksten Talente gelangen an die Grenze ihrer Wirksamkeit, wenn sie die Naturwahrheit, den mütterlichen Boden jeder Kunst, unter den Füßen verlieren.

Eine gewisse Mittelstellung nimmt die belgisch-holländische wie die italienische Abteilung ein. Hier wie dort machen sich noch einerseits die reichen Überlieferungen einer großen Kunst geltend, während andererseits bei teilweise schon grellster Schärfung der sozialen Klassenlose der politische Klassenkampf gewissermaßen noch latent ist und somit noch nicht jenen nachhaltigen und tückischen Argwohn erzeugt hat, der jede wahrhaftige Schilderung der Arbeiterwelt schon als einen versteckten Aufruf zum Barrikadenbau verfemt. In der Tat sind es vereinzelte belgische und italienische Künstler, welche die kapitalistischen Schranken wirklich zu durchbrechen gewagt haben, indem sie moderne Proletarier, wie sie wirklich sind, malten und meißelten. Damit ist nicht etwa Augusto Corellis Aquarell „Verraten" gemeint, obgleich es einen Hauptmagneten der Ausstellung bildet und unter den vielen vortrefflichen Kunstwerken der italienischen Abteilung ein allervortreffliches ist. Denn als Illustration zu der alten Geschichte, die ewig neu bleibt, gehört es noch ganz der kleinbürgerlichen Romantik an. Bedeutend näher schon streifen einzelne Schilderungen des bäuerlichen Lebens, so Giovanni Segantinis „Pflüger im Engadin", das proletarische Gebiet, und vor allem ist Achille d'Orsis Bronze „Proximus tuus" (dein Nächster), ein mit dem Spaten den Boden aufwühlender Erdarbeiter, eine klassische Verkörperung des Menschen, den der Kapitalismus schafft. Es bestätigt den gewissermaßen noch naiven Charakter des Klassenkampfs in Italien, dass dies packende Bildwerk in die römische Nationalgalerie aufgenommen worden ist; die Pforten der Berliner Nationalgalerie würden vor einer gleichen Leistung eines deutschen Künstlers krachend zusammenfliegen. In der belgischen Abteilung malt Leon Frederic in drei Bildern „Kreidehändler", wie sie zur Arbeit gehen, wie sie Mittagsrast halten und wie sie heimkehren, und Constantin Emile Meunier auf einer großen Tafel „Heimkehrende Bergleute". Hier ist überall die Welt des Proletariats mit ergreifender Naturwahrheit wiedergegeben. Menschen, denen das Elend und die Sorge einen unsäglich hoffnungslosen, melancholischen, stumpfsinnigen, und denen die Arbeit und der Kampf doch auch wieder einen unbeschreiblich entschlossenen, kräftigen und bei alledem siegessichern Ausdruck gegeben haben. Vor solchen Bildern vergeht jedem noch so kunstverständigen und noch so menschenfreundlichen Bourgeois der Atem. Insbesondere das Bild von Meunier gemahnt wie eine Szene aus Zolas „Germinal". Der Zug der Bergleute, die verbrannte Heide, im Hintergrunde das flackernde Feuer der Hochöfen, Natur wie Menschen düster, melancholisch, unheimlich und doch voll eines wie unerschöpflichen und unvergleichlichen Interesses! Auf diesem Bilde, wie auch auf Frederics Gemälden kommt das Freilicht zur mächtigsten Wirkung. Gleich groß und kühn zeigt sich Meunier in einigen Bildwerken, typischen Proletariergestalten, einem „Schmied", einem „Glasbläser". Gegenüber dem „Schmied" erhebt sich in der Skulpturenhalle eine andere männliche Gestalt mit dem Hammer in der Faust, viel anspruchsvoller und größer, eine Allegorie der „Arbeit" von Nicolaus Geiger. Dieser deutsche Bildhauer zählt zu den ersten seines Faches, und vom technischen Standpunkt mag an seiner „Arbeit" vieles zu loben sein; etwa ebenso würde Herr Ludwig Barnay oder sonst ein berühmter Mime und denkender Künstler des Kapitalismus in einem lebenden Bilde auf einem Hoffeste den Begriff der Arbeit verkörpern. Blickt man von Meuniers „Schmied" auf Geigers „Arbeit" und wieder von Geigers „Arbeit" auf Meuniers „Schmied", so greift man den Unterschied zwischen einer überlebten, veralteten, innerlich hohlen und leeren Kunst einer-, einer lebendigen und zukunftsfrohen Kunst andererseits gewissermaßen mit Händen.

In der deutschen Abteilung findet sich nur ein Kunstwerk, das sich mit den glänzenden Würfen d'Orsis, Frederics und Meuniers vielleicht nicht völlig in eine Reihe stellen, aber immerhin sehr wohl vergleichen lässt: es ist des Düsseldorfer Malers Emil Schwabe „Arbeiterausschuss". Die Charakteristik der vier oder fünf Arbeitergestalten, die sich um den Beratungstisch gruppieren, ist etwas zaghafter ausgefallen, aber sie ist doch von großer Lebenswahrheit, in sprechender Abstufung von dem Wortführer, dem das Klassenbewusstsein klar aus den Augen leuchtet, zu seinen Kameraden, in denen es mehr oder minder erst zum Durchbruch ringt. Sehr gut kommen auch die „Arbeitgeber" heraus, sowohl der ältere, dem die bedächtige und ruhige Abwägung seines Profits noch so etwas wie patriarchalisches Wohlwollen für die Arbeiter übriggelassen hat, als auch der jüngere, der hinter ihm an einem Tische lehnt, elegant, schneidig, mit dem Kneifer auf der Nase, höhnische Überlegenheit in den verzogenen Mundwinkeln und in den Augen den lauernden Ausdruck des bösen Gewissens : kurzum ein Kopf, der seinen Träger wie berufen erscheinen lässt, als „Sozialreformer" in den Staatsrat berufen zu werden. Sonst aber weiß die bildende Kunst der deutschen Bourgeoisie nichts von dem deutschen Proletariat. Gesetzt, dass die Kamptz und Schmalz eine Stunde aus dem Grabe erständen, um durch die deutsche Abteilung dieser Ausstellung zu wandern, sie würden sich mit dem erhebenden Bewusstsein wieder ins Grab legen, dass sie das Ziel ihrer Demagogenverfolgungen wirklich erreicht und die deutsche Nation für immer zurückgescheucht haben in alleruntertänigste Fürstendienerei und ein beschränktes Philisterdasein.

Das traurige politische Schicksal der deutschen Bourgeoisie, welche, da sie eben dem Absolutismus und Feudalismus den Gnadenstoß zu geben gedachte, plötzlich den wuchtigen Griff des Proletariats in ihrem Nacken und seinen wuchtigen Tritt auf ihren Hacken spürte, spiegelt sich auch in ihrer Kunst. Gedrückt in drangvoll fürchterliche Enge, wagt sie ihres Daseins nicht froh zu werden und sich nicht einmal dessen zu rühmen, wessen sie nach ihrer historischen Daseinsberechtigung sich sehr wohl rühmen dürfte. Vor einem Menschenalter, als ihre Kunsttheorie „das deutsche Volk bei seiner Arbeit suchte", malte das spezifisch preußische Künstlergenie Adolph Menzel, der auf dieser Ausstellung beiläufig nur durch einige ältere Nebenwerke vertreten ist, das aus der hiesigen Nationalgalerie allbekannte „Walzwerk": mit kühnem, realistischem Pinsel schilderte er die Zyklopen der Arbeit, die mächtigen Triebkräfte, welche die kapitalistische Produktionsweise entfesselt hat. Von solchen Wunderwerken der modernen Industrie weiß die deutsche Kunst nichts mehr zu melden oder höchstens etwas, was noch schlimmer ist, als nichts sein würde. Das einzige Bild, welches daran erinnert, dass wir im Maschinenzeitalter leben, hat der Weimarer Maler Hans W. Schmidt ausgestellt; sein Titel lautet im Kataloge: „Besuch Sr. Kgl. Hoheit des Großherzogs von Sachsen in der Eisengießerei von L. Steiberitz in Apolda". Ein mittelmäßig gemaltes Bild; das flüssige Metall rinnt in die Form, nicht um ein Werkzeug der schaffenden Arbeit, sondern um den – Namenszug des Großherzogs zu bilden, an dessen Mienen die Augen der Arbeiter mit loyaler Begeisterung hängen. Es ist von märchenhafter Unglaublichkeit, aber es ist so.

Einen ähnlichen Niedergang zeigen die „Ideale" der deutschen Bourgeoisie im Spiegel ihrer Kunst. Als sie noch den Glauben hatte an den „nationalen Gedanken", schuf Adolph Menzel seine aus der hiesigen Nationalgalerie gleichfalls allbekannten Friedrich-Bilder, die „Tafelrunde" und das „Flötenkonzert" von Sanssouci, jetzt malt der Berliner Maler Robert Warthmüller „Friedrich den Großen an der Leiche Schwerins". Menzel stellte neben Friedrich doch Bach und Graun, La Mettrie und Voltaire; Warthmüller stellt neben ihn den Husaren und Vorpostengeneral Ziethen mit den krampfhaft gefalteten Händen und nicht minder krampfhaft verdrehten Augen eines Betbruders. Diese zeitgemäße Wahl und Behandlung des Stoffes – wenn gegenwärtig, was häufig genug geschieht, die Grundsteine zu neuen Kirchen in Berlin gelegt werden, so donnern die Geschütze, als gelte es die Einleitung zu einer „brillanten Kavallerieattacke" – hat dem künstlerisch in keiner Weise ausgezeichneten Bilde Warthmüllers denn auch den Ankauf von Staats wegen gesichert. In der deutschen Historienmalerei dieser Ausstellung hat es übrigens – wenn man billigerweise von einigen Kostümbildern absieht, welche stets die gleichen bunten Lappen zeigen, nur dass dieselben, je nachdem Karl V. oder Wallenstein oder was sonst in ihnen stecken soll, ein bisschen anders arrangiert sind – nur noch einen Nebenbuhler: nämlich Anton von Werners, in der kalten und schwunglosen Manier dieses preußischen Hofkünstlers gemaltes Bild: „Kronprinz Friedrich Wilhelm an der Leiche des Generals Abel Douay in Weißenburg". Eine Leiche hier und eine Leiche da; es ist ein wahrer Leichengeruch. Wie Hamlet auf dem Kirchhofe, philosophiert die deutsche Historienmalerei an Schädeln, vorausgesetzt, dass dieselben durch irgendein Mordwerkzeug zertrümmert sind.

Von den deutschen Landschaftern bewähren gar manche ihren alten und guten Ruf: so die beiden Achenbach, Bracht, Douzette, Eschke, Flickel und wie sie sonst noch heißen; auch einzelne Porträtisten, wie Gussow, leisten Vorzügliches. Auch gebietet die Gerechtigkeit anzuerkennen, dass die bayerische und die österreichische Kunst über der norddeutsch-preußischen steht. Aber im Ganzen und Großen hat die deutsche Kunst auf dieser internationalen Ausstellung eine völlige Niete gezogen; sie hat sich ganz und gar schlagen lassen von der polnischen, russischen und ungarischen wie von der belgischen und englischen, der italienischen und spanischen Kunst. Die Lehre ist ebenso hart wie wohlverdient, aber es steht sehr dahin, ob sie fruchten wird. Der künstlerische wie wissenschaftliche Niedergang der Bourgeoisie ist viel zu eng mit ihrem politischen und sozialen Niedergange verflochten, als dass eine solche Hoffnung statthaft wäre. Ehe die Kunst nicht vom Alpdruck des Kapitalismus befreit ist, wird sie niemals wieder einen großen Flug nehmen.

Derweil mögen wir uns getrösten, dass die Niederlage der deutschen Kunst nur die deutsche Bourgeoisie trifft und keineswegs die deutsche Nation, deren größter und kräftigster Teil, eben das Proletariat, in dem wachsenden Unvermögen seiner Todfeinde nur ein verstärktes Pfand seines nahenden Weltentags erblicken kann.

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