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Franz Mehring 18920921 Full Dress Jacket und Proletarierbluse

Franz Mehring: Full Dress Jacket und Proletarierbluse

21. September 1892

[Die Neue Zeit, 10. Jg. 1891/92, Erster Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 225-229]

Full Dress Jacket"1 ist seit einigen Tagen eine Art geflügelten Wortes geworden, obgleich die wenigsten wissen, welches Ding hinter dem Worte steckt. Auch Ihr Korrespondent weiß nicht mehr davon, als was er in irgendeiner Zeitung gelesen hat, dass es nämlich ein „kokettes Röcklein" sein soll. Seine augenblickliche Berühmtheit verdankt das Wort aber dem Schriftstellertage, der in der vergangenen Woche hier getagt hat. Den Mitgliedern desselben war nämlich vorgeschrieben worden, im „Full Dress Jacket" zu erscheinen. Dass die ärmsten aller deutschen Proletarier mit aller Gewalt die „Feudalen" und „Patenten" spielen wollen, hat – just nicht mit Unrecht – die Spottlust der Berliner erweckt.

Die ärmsten aller deutschen Proletarier! Das heißt mit anderen Worten: die Proletarier, welche die Proletarierbluse verschmähen, weil sie entweder nicht wissen wollen oder auch wirklich nicht wissen, dass sie Proletarier sind. Alle anderen Schichten des Proletariats haben sich nach und nach organisiert, um den Kampf gegen das Kapital aufzunehmen, selbst die Dienstmädchen und Kellnerinnen sind in diese Bewegung getreten: nur die Schriftsteller nicht, obgleich ihr Beruf von Jahr zu Jahr hoffnungsloser der kapitalistischen Unterjochung verfällt. Man wende nicht ein, „Organisationen" der Schriftsteller gäbe es ja die Hülle und Fülle. Freilich, aber das ist es ja eben. Seit einem Menschenalter drängen sich die Journalistentage und die Schriftstellertage und die Pressvereine; sie haben auf Regimentsunkosten unmenschlich viel gegessen und getrunken; sie haben jubiliert und toastiert und die Hand geküsst, welche eben das freie Wort erwürgte; aber sie haben nicht einmal verstanden, geschweige denn ausgeführt, was das A und O aller proletarischen Organisationen ist: sie haben niemals gearbeitet, und sie haben noch viel weniger gekämpft.

Der eben verflossene Schriftstellertag hat keine Ausnahme von der Regel gemacht. Er begann mit einem Hoch auf den Kaiser, obgleich ihm noch die Ohren klingen mussten von dem missfälligen Urteile, welches der Kaiser über die „Hungerkandidaten" – in Wirklichkeit lautete der Ausdruck noch viel schärfer – vor einigen Monaten gefällt hat. Wir bewundern gewiss eine Königstreue, welche sich durch solche kleine Unannehmlichkeiten nicht erschüttern lässt, aber in der Form ihrer Kundgebung hätte der Schriftstellertag von der Art und Weise etwas lernen können, in welcher beispielsweise die „Kreuz-Zeitung" ihrerzeit ihre Meinungsverschiedenheit mit dem Kaiser austrug. Irren wir nicht, so lehrt die Bibel, dass man mit seinem Gotte in seinem Kämmerlein verkehren soll, wenn er einen so recht gestraft hat, und was dem lieben Gotte recht ist, das muss am Ende auch dem Kaiser billig sein. Der Loyalitätsfrack oder – Verzeihung! – das Loyalitäts-Full-Dress-Jacket ist gewiss ein hübsches Ding, aber die Selbstachtung hat am Ende auch ihre gute Seite.

Was der Schriftstellertag sonst trieb, hat die „Neue Zeit" schon vor acht Jahren in ihrem ersten Jahrgange S. 323 prophetischen Gemüts also geschildert: „Die Journalistentage selbst bieten wenig Interesse: die Freuden der Tafel, gemütliche Kneipereien, Toaste auf schöne Damen und interessante Ausflüge scheinen die Hauptsache bei dem ganzen Journalistentage zu sein. Niemand wird den Journalisten die erwähnten Vergnügungen missgönnen, allein man fragt doch auch nach den praktischen und nicht etwa nur nach den gastronomischen Leistungen einer solchen Vereinigung. Dieselben bestehen alljährlich in einigen unbedeutenden Debatten und Resolutionen; man spricht über die „rechtliche Stellung" der Tagespresse u. dergl. m. und ist von der geringsten Besserung der Situation der Berufsgenossen genausoweit entfernt, wie die Gesellschaft für Kodifikation des Völkerrechts von der Abschaffung der Kriege… Vor einigen Jahren erhob man sich zu dem Gedanken, eine Kasse für Krankheit und Altersversorgung zu gründen. Die Ausführung dieses Beschlusses scheint aber nicht mit dem nötigen Eifer in die Hand genommen worden zu sein. Wir erinnern uns, einen Bericht des Journalistentages über diese Organisation gelesen zu haben, der wie eine Verspottung des ganzen Unternehmens erschien. Nicht einmal für Pressfreiheit energisch einzutreten hat sich der Journalistentag entschließen können." Das ist doch noch eine, wenn auch ungewollte, Prophezeiung, die sich gewaschen hat. Ist es nicht eine „Verspottung des ganzen Unternehmens", wenn der neueste Schriftstellertag den Beschluss fasste, die erwähnten Unterstützungskassen durch den Ertrag einer zu veranstaltenden – Lotterie zu gründen? Beiläufig ist auch dieser neu aufgetauchte Plan schon in jenem prophetischen Artikel der „Neuen Zeit" abgetan worden, indem derselbe die winzigen Leistungen der Schiller-Stiftung den großartigen Leistungen der Buchdrucker-Unterstützungskassen gegenüberstellte. Wozu dann noch ergänzend zu bemerken wäre, dass die Lotterie, aus welcher die Schiller-Stiftung hervorging, immerhin einen ganz anderen Resonanzboden hatte, als die geplante Lotterie des Schriftstellertages haben wird.

Nach alledem ist es verständlich, dass die Tropfen allmählich den Eimer füllen und dass dieser Tag die allgemeine Geringschätzung empfindlicher erfuhr als seine zahlreichen Vorgänger. Es wäre auch schwerlich bei den schließlich doch harmlosen Spöttereien über das Full Dress Jacket geblieben, wenn sich die heilsame Angst vor der Sozialdemokratie nicht als schützender Engel für den literarischen Kongress erwiesen hätte. Der edle Magistrat von Berlin, der bekanntlich selbst mit den staatsmännischen scharfen Augen seines edlen Herrn von Forckenbeck keinen Notstand entdecken kann, hatte nämlich die edle Absicht, fünfzehntausend Mark aus dem städtischen Säckel für ein Schlemmermahl auszuwerfen, das dem Schriftstellertage in den Festräumen des hiesigen Rathauses gegeben werden sollte. Aber aus Sorge vor der Kritik, welche dieser Vorschlag durch die sozialdemokratischen Stadtverordneten finden würde, warf sich der Vorstand des Schriftstellerverbandes gerade noch rechtzeitig in das Full Dress Jacket stolz-wehmütiger Resignation, und das war sicherlich sein gescheitester Streich.

Es ist wohl nicht nötig, zu sagen, dass mit diesen kritischen Glossen irgendwelchen Personen nicht zu nahe getreten werden soll. Im Gegenteil! Wir erkennen gern an, dass manche wohlmeinenden Ideologen in dem Schriftstellerverbande tätig sind, und es ist ein durchaus aufrichtiges Bedauern, wenn wir die Arbeitskraft und die Arbeitslust, die der bisherige erste Vorsitzende des Verbandes der Sache gewidmet hat, nicht von einem an sich auch von uns gewünschten Erfolge gekrönt sehen. Allein das Fiasko des Schriftstellertages ist doch nun einmal unbestreitbar, und die Frage, weshalb es die Klasse der Schriftsteller zu keiner ernsthaften Organisation bringen kann, berührt so wichtige Interessen der Nation, dass sie eine sachliche Untersuchung verlangt. Unseres Erachtens wurzelt diese Unmöglichkeit in zwei Gründen. Den einen derselben hat schon der „Vorwärts" in einer Kritik des Schriftstellertages entwickelt; er besteht in dem unabsehbaren Umfange der „literarischen Reservearmee", jenem wimmelnden Schwarm von pensionierten Offizieren, Zivilbeamten, alten Jungfern usw., welche, sonst wohl versorgt, die Verleger für einen geringen Preis oder auch nur um die „Ehre", sich gedruckt zu sehen, mit literarischen Arbeiten überschwemmen, die für einen literarischen Fabrikbetrieb gerade noch hinreichen mögen und jedenfalls dazu hinreichen, die Ansprüche begabter, aber armer Schriftsteller niederzuhalten. Der andere und noch wichtigere Grund aber liegt darin, dass der Stand der wirklichen Schriftsteller, die auch darum die ärmsten aller Proletarier sind, bis in Mark und Bein vom Gifte des Kapitalismus zerfressen ist. Herr Eugen Richter hatte gar nicht so unrecht, wenn er dem „Vorwärts" erwiderte, trotz der literarischen Reservearmee fänden fähige Schriftsteller heutzutage immer reichliches Auskommen; man muss nur nicht vergessen, dass er unter „fähigen" kapitalistisch gesinnte Schriftsteller versteht. Das Kapital ist klug genug, seine Sophisten und Sykophanten gut zu besolden; wer sein Hoheslied geschickt zu singen versteht, vermag sich schon ein Eckchen an der Tafel der oberen Zehntausend zu erobern. Dies ist ebenso wahr, wie es wahr ist, dass auch der fähigste Schriftsteller, der nicht nach der kapitalistischen Pfeife tanzt, bei lebendigem Leibe verhungern kann.

Wenn im Schriftstellerverbande die literarische Reservearmee überwiegt, so herrscht die kapitalistische Garde im Verein „Berliner Presse" vor. Die Börsen- und Theaterjournalisten führen in ihm das große Wort. Loyal sind auch sie bis auf die Knochen, aber wie es beim ausgewachsenen Kapitalismus üblich ist: ihre Loyalität ist voll verborgener Spitzen. Gleich nachdem der Kaiser seine missfällige Äußerung über die Presse getan hatte, steigerten sie den Ertrag eines von ihnen veranstalteten Ballfestes durch die unwahre Reklame, der Kaiser habe sein Ausbleiben durch einen Generaladjutanten entschuldigen lassen; sie bewiesen ihm dadurch in ebenso loyaler wie verschmitzter Weise, dass sie keine „Hungerkandidaten", sondern höchst findige Geschäftsleute sind. Auch speisen sie ihre Kassen nicht durch den ganz unberechenbaren Ausfall von Lotterien, sondern durch eine sehr geregelte und ganz grandios angelegte Ausbeutung der Theater. Natürlich in allen Ehren! Sie haben sich sogar ein eigenes „Ehrengericht" eingerichtet, welches durch klassische Sprüche etwa bockbeinigen Theaterleuten, Männlein wie Fräulein, die Notwendigkeit der Hingabe beweist und neuerdings beispielsweise kein Arg daran zu entdecken wusste, dass ein einziges Mitglied des Vereins allein von zwei Theatern in zwei Jahren 1106 Freibilletts entnommen hat. Doch genug von diesen praktischen Erläuterungen!

Es wird nunmehr wohl klar sein, weshalb der Stand der Schriftsteller zu keiner Klassen- und Kampfesorganisation gedeihen kann. Wollten sich seine proletarisch denkenden und fühlenden Elemente zu einem Verbande zusammenschließen, der dem Kapitalismus wirklich die Zähne wiese, so würden sie von rechts und von links, von vorne und von hinten überrannt werden, teils durch die literarische Reservearmee, teils durch das kapitalistische Korps der Rache. Es wäre keine Schlacht, sondern nur ein Schlachten zu nennen, und billigerweise darf man dem Schriftstellerstande als solchem weder die Courage noch das proletarische Klassenbewusstsein absprechen, weil er vor einem Kampfe zurückscheut, in dem ihm auch nicht die entfernteste Aussicht auf Erfolg winkt. Es ist nur um so höher anzuerkennen, wenn einzelne Mitglieder der bürgerlichen Presse den Finger in die Wunde zu legen wagen, wenn Leopold Schönhoff in der „Frankfurter Zeitung" mit bajuwarischem Humor feiner Auslese den Schriftstellerverband auf das eine hinweist, was not tut, oder wenn Maximilian Harden in der „Gegenwart" einen noch viel dankenswerteren Vorstoß gegen die Ausbeutelung der Theater durch den Verein „Berliner Presse" unternimmt. Aber ein durchgreifender Erfolg ist von diesen Anläufen nicht zu erwarten, schon deshalb nicht, weil sie durchaus auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft bleiben, wie denn Herr Harden ehrlicher-, aber auch naiverweise erklärt, einen Zusammenhang zwischen dem Kapitalismus und der von ihm bekämpften Verderbnis nicht entdecken zu können. Wie wenig sich der Kapitalismus selbst bei einem verhältnismäßig untergeordneten Anlasse prinzipiell am Barte zupfen lässt, hat gerade vor Jahr und Tag der Krach in der „Volks-Zeitung" bewiesen.2 Und dieser Fall lag für die proletarische Seite insofern noch verhältnismäßig günstig, als die „Volks-Zeitung" damals ein radikales Blatt war und über einen politisch geschulten Leserkreis gebot, der zu den Redakteuren hielt und ihnen wenigstens ermöglichte, Schlag mit Schlag zu erwidern. In der großen Mehrheit der deutschen Zeitungen würde eine Redaktion, die grundsätzlich dem Kapitalismus an den Wagen führe, noch viel klang- und widerstandsloser geliefert sein. Auf literarischem Gebiete versteht der Kapitalismus ganz und gar keinen Spaß.

Und das ist auch gut so. Je gründlicher er hier seine Unterjochungs- und Unterdrückungsarbeit macht, um so schneller wirft er alle selbständig und unabhängig denkenden Geister aus dem Full Dress Jacket in die Proletarierbluse. Als Herr Bamberger vor zehn oder selbst schon zwanzig Jahren wehmütige Klagelieder darüber erhob, dass die, wie er es nannte, „kapitallose Bildung" unaufhaltsam in den Sozialismus treibe, lächelte das landläufige Protzentum über den Gespensterseher; heute bedarf es kaum noch eines Nachweises, dass er sich auch in diesem Punkte als eine allerfeinste Spürnase des Kapitalismus erwiesen hat.

1 Full Dress Jacket – (engl.) etwa: Gesellschaftsanzugsjacke.

2 Mehring spielt auf seine Auseinandersetzung mit dem damaligen „Literatursultan" Paul Lindau an, die sich zu einem großen Angriff Mehrings auf die kapitalistische Theater- und Pressekorruption erweiterte. Der Kampf begann in der „Berliner Volks-Zeitung" und wurde in den Streitschriften „Der Fall Lindau" und „Kapital und Presse" weitergeführt. Mehring wurde wegen seiner aufrechten Haltung aus der Redaktion der Zeitung gedrängt. Diese Vorfälle bildeten den letzten Anstoß für seinen endgültigen Übertritt in das Lager der revolutionären deutschen Sozialdemokratie.

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