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Franz Mehring 18990321 Keine Männer!

Franz Mehring: Keine Männer!

21. März 1899

[Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Zweiter Band, S. 1-4. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 236-240]

Die Hoffnung, dass bei der neuesten Haupt- und Staatsaktion, der drohenden Auflösung des Reichstags, ein gut Stück Autorität flöten gehen werde, hat sich reichlicher erfüllt, als wir vor acht Tagen annahmen: nicht nur von der Autorität des Zickzackkurses ist ein gut Stück flöten gegangen, sondern auch von der Autorität der „maßgebenden Partei"; bei der Beilegung des künstlich heraufbeschworenen Konflikts hat das Zentrum ebenso schlecht abgeschnitten wie die Regierung. Hätte der erpichteste „Reichsfeind" ausrechnen sollen, wie das Spektakelstück am blamabelsten für die herrschenden Gewalten verlaufen würde, so hätte er nichts Besseres ausklügeln können, als was die Beteiligten freiwillig in ihrem staatsmännischen Drange geleistet haben.

Die Regierung hat es nicht aufs Biegen oder Brechen ankommen lassen, wie sie sich erst den Anschein gab; sie hat die streitigen 7000 Mann nicht erhalten, von deren Gewährung nach ihrer glaubwürdigen Versicherung des Reiches Wohl und Wehe abhängen sollte. Die verantwortlichen Träger der Staatsgewalt waren, wie immer, ohnmächtig gegen den Anstoß eines unverantwortlichen Willens, aber dieser Wille selbst stieß auf tatsächliche Hindernisse, woran er seine Ohnmacht erprobte. Die Auflösung des Reichstags wäre nicht möglich gewesen ohne die Zustimmung des Bundesrats, und diese Körperschaft drohte zum ersten Male der preußischen Hegemonie die Zähne zu weisen. Möglich, dass dennoch eine knappe Mehrheit mit Hilfe der kleinsten Kleinstaaten zu haben gewesen wäre, aber die größeren Staaten waren alle oder fast alle dagegen, und ihre Majorisierung ist eine Sache, die sich die preußische Regierung, von ihrem Standpunkt aus und mit allem Rechte, zweimal überlegt. Besonders eifrig hat die sächsische Regierung gegen die Auflösung protestiert, und sie wusste wohl, weshalb; mit dem Dresdener Urteil1 am Stecken hatte sie eine zerschmetternde Niederlage zu befürchten. Die finsteren Schatten, die aus dem Zuchthaus fallen, kreuzten den Weg eines souveränen Willens, und der scheinbar alles zermalmen kann, musste vor diesen Schatten zurückweichen.

Aber auch das Zentrum ist zurückgewichen; es hat nicht dabei beharrt, die 7000 Mann zu verweigern, sondern es hat, wie ein ultramontanes Blatt selbst unwillig sagt, einen „Wechsel auf Sicht" ausgestellt; was es heute versagt, behält es sich vor, morgen zu gewähren. In seiner Angst vor einer Auflösung des Reichstags und in seiner Sorge um die ultramontane Stichwahlhilfe hat sich Herr Eugen Richter, der Großmeister des liberalen Konstitutionalismus, dazu hergegeben, die ausweichende Taktik des Zentrums als einen großen Sieg zu feiern, doch ist nicht abzusehen, wen er dadurch täuschen will. Das Zentrum hat dieselbe traurige Kompromisspolitik getrieben, die Herr Richter an den Nationalliberalen ehedem so scharf zu geißeln wusste; es hat sogar einen Wechsel mit Wucherzinsen ausgestellt. Indem es sich zu neuen Bewilligungen bereit erklärte für den Fall der „nachweislichen Unmöglichkeit" des Auskommens mit den bewilligten Präsenzziffern, eröffnete es der Regierung die Möglichkeit, die „Unmöglichkeit" des Auskommens selbst über die streitigen 7000 Mann hinaus „nachzuweisen"; der preußisch-deutsche Militarismus müsste nicht er selbst sein, wenn er nicht mit dieser Möglichkeit in seiner Art kalkulieren würde. Alle sophistischen Beschönigungen helfen nicht über die Tatsache fort, dass die ultramontane Partei in der Sache nachgegeben hat, wie ihre ehrlichen Organe auch mit lebhaftem Unmut anerkennen, ebenso wie sich die ehrlichen Organe der Freisinnigen Partei durch alle Redereien der „Freisinnigen Zeitung" nicht darüber täuschen lassen, dass der Parlamentarismus einmal wieder schlecht abgeschnitten hat im Kampfe mit dem Militarismus.

Nötig hätte er es in diesem Falle freilich nicht gehabt; vielmehr, wenn das Zentrum fest geblieben wäre, so hätte diese Partei einen namhaften Erfolg über die Regierung davontragen können. Entweder wäre es überhaupt nicht zur Auflösung des Reichstags gekommen, oder aber dieser Verzweiflungsstreich hätte die sauren Früchte gereift, die solche Streiche ihren Urhebern zu reifen pflegen. Wenn das Zentrum sich dennoch unfähig erwiesen hat, eine nicht einmal kühne, aber wenigstens gescheite Taktik zu verfolgen, so muss der Grund dieser Unzulänglichkeit darin gesucht werden, dass sich der Ultramontanismus schon viel zu tief in die Rolle der „maßgebenden" Partei eingelebt hat, um es noch auf einen ernsthaften Konflikt mit der Regierung ankommen zu lassen. Die Lieber und Genossen wollen an derselben Tafel mit der Regierung speisen; sie zanken sich mit ihr wohl um die bequemeren und besseren Plätze, aber wie kämen sie dazu, jemals das Tischtuch selbst zu zerschneiden? Sie sind darin nicht besser, sondern eher noch schlimmer als die Nationalliberalen, die in ihrer Art bei ihrer Kompromisselei doch immer noch so etwas wie ein Prinzip verfolgten, während es den ultramontanen Führern eben nur um einen Anteil an der Macht zu tun ist. Das Verhalten der ultramontanen Partei in der eben vorübergegangenen Militärkrisis bestätigt, was an dieser Stelle schon häufiger gesagt worden ist: die ultramontane Episode ist keine schönere Auflage der nationalliberalen Episode, vielmehr ganz im Gegenteil! Verglichen mit einem Lieber, wachsen Männer wie Bennigsen und Bamberger beinahe noch ins Große; sie hatten doch einen mehr oder minder stark bemessenen Anteil an moderner Bildung, während vielleicht in keinem Parlamente der Welt der Führer der entscheidenden Partei persönlich auf einer so tiefen Kulturstufe steht wie im Deutschen Reichstage.

Einen neuen, schlagenden Beweis dafür hat Herr Lieber in den rednerischen Exkursen gegeben, die er kürzlich auf das Gebiet der Kunst unternommen hat. Man mag über die moderne Kunst sonst denken, wie man will, aber wer nur eine Ahnung von ästhetischer Bildung besitzt, wird sich von dem Biertischgerede des ultramontanen Führers über die künstlerische Ausschmückung des Reichstagsgebäudes unwillig abwenden. Damit auf der parlamentarischen Tribüne herauszurücken, kennzeichnet die eitle Selbstgefälligkeit dieses Herrn zur Genüge. Die Selbstzucht, die jeder parlamentarische Redner schon aus Selbstachtung anwenden sollte, scheint ihm ganz fremd zu sein; was ihm in seinen konfusen Sinn kommt, das spricht er mit einem Pathos aus, als predige er die Weisheit Salomons; mag sich die Volksvertretung und das Volk mit dem erhebenden Bewusstsein abfinden, dass sich in seinen täppischen Händen das Zünglein der parlamentarischen Waage befindet. Eines solchen Gebarens waren die Bamberger und Bennigsen doch ganz unfähig; sie hatten noch etwas von dem Erbe der alten guten soliden Bildung überkommen, die einst der Stolz des deutschen Bürgertums war; ihre Beredsamkeit mochte auch oft genug klingendes Erz und tönende Schelle sein, aber sie war nie der breite und leere Schwatz, worin sich Herr Lieber immer ergeht, sobald er den Mund auftut.

Auf der anderen Seite braust der Sturm der Entrüstung, den die anmaßenden Redensarten des ultramontanen Führers in der Künstlerwelt erregt haben, auch nicht ganz aus gesunden Lungen. Gewiss hat Herr Lieber geschmack- und taktlos geredet, aber sein formelles Recht, sich auf der Reichstagstribüne zu blamieren, so gut er kann, ist unbestreitbar. Die Zumutung, dass er für seine sogenannte Kritik dieses Malers oder jenes Bildhauers hätte durch einen Ordnungsruf gemaßregelt werden sollen, fällt in sich selbst zusammen; sie ist ein Attentat auf die parlamentarische Redefreiheit, das sehr harmlos sein mag, aber deshalb doch sehr ungehörig bleibt. Am wenigsten bedarf das gegenwärtige Reichstagspräsidium, das ohnehin durch seine Ordnungsrufe den Reichstag auf das Niveau einer Kinderstube herabzudrücken bemüht ist, darin irgendeine Aufmunterung von außen. Die Künstler haben durchaus kein Recht, vor den anderen Bevölkerungsklassen eine Extrawurst gebraten zu bekommen. Im Reichstag soll unbedingte Redefreiheit herrschen, die ihre Sonne leuchten lassen muss über Gerechte und Ungerechte, über die ungewaschene Kritik, wie über die gewaschene, auch wenn man und gerade wenn man die Ansicht der Künstler teilt, dass Herr Lieber sein parlamentarisches Recht missbraucht hat, um einigen von ihnen etwas am Zeuge zu flicken, so muss man um so rückhaltloser daran festhalten, dass ein wichtiges Recht nicht deshalb angefochten werden darf, weil es auch einmal zu einem kleinen Unrecht missbraucht werden kann.

Dann aber hat die Entrüstung der Künstlerwelt noch eine Kehrseite, die sogar Herr Lieber nicht ganz ohne Grund für sich zu verwerten gewusst hat. Mit der ungemessenen Entrüstung über den Reichstag ist schwer die schweigende Gelassenheit zu vereinen, womit die deutschen Künstler missfällige Urteile hingenommen haben, die der Kaiser öffentlich über einzelne Künstler und ganz besonders auch über den künstlerischen Wert des Reichstagsgebäudes gefällt hat. Man könnte nun sagen, dass mit dem Majestätsbeleidigungsparagraphen nicht zu spaßen sei, obschon dieser mildernde Umstand, wenn er angerufen werden sollte, die allzu lodernde Empörung über die Kritik einzelner Reichstagsabgeordneter an und für sich noch in kein besseres Licht stellen würde; muss man sich in dem einen Falle aus triftigen Gründen zum Schweigen verdammen, so braucht man in dem anderen Falle deshalb nicht um so heftiger auszuschlagen. Allein diese Beschönigung hat überhaupt nichts auf sich, und zwar deshalb nicht, weil die deutschen Künstler auf die geringste Freundlichkeit, die ihnen oder einem von ihnen die Krone erweist, sofort in tiefster Ehrfurcht ersterben. Das hat sich erst jüngst wieder gezeigt, als der Maler Adolph Menzel den Schwarzen Adlerorden erhielt, den vor ihm Hunderte der nichtigsten Höflinge getragen haben, obendrein noch unter einer Begründung, die ästhetisch sehr anfechtbar war und jedes echte Künstlerbewusstsein kränken musste. Haben die deutschen Künstler diesen Stoß aber ausgehalten, und nicht bloß ausgehalten, sondern mit schier zu den Sternen schallendem Jubel begrüßt, so brauchten sie allerdings auch nicht gleich aus der Haut zu fahren, wenn einige von ihnen im Reichstag einmal übel davonkommen.

Es ist und bleibt das Unglück der bürgerlichen Welt, dass sie keine Männer mehr hervorzubringen vermag. Ständen Männer an der Spitze der Regierung, so hätten sie nicht dem Anstoße nachgegeben, der zur Auflösung des Reichstags führen sollte. Ständen Männer an der Spitze der maßgebenden" Partei, so würde der Parlamentarismus einmal die günstige Gelegenheit wahrgenommen haben, dem Militarismus einen empfindlichen Denkzettel zu erteilen. Wären unsere Künstler zugleich auch Männer, so würden sie nicht mit übertriebener Wut nach der ohnmächtigen Hand beißen, die sie schlug, und zugleich mit jauchzendem Entzücken künstlerisch zweifelhafte Wohltaten annehmen aus einer mächtigen Hand, die sie schwerer getroffen hat.

Wohin man an dem Baume der bürgerlichen Gesellschaft fasst, da greift man brüchiges und faules Holz. Der Baum mag wohl noch diesen oder jenen Sturm aushalten, eben weil er ein mächtiger Stamm ist, aber um den Glauben, dass er noch gesund sei vom Wipfel bis zur Wurzel, beneiden wir niemanden.

1 Mehring spielt darauf an, dass im Februar 1899 in Löbtau bei Dresden neun Bauarbeiter zu insgesamt 61 Jahren Zuchthaus und Gefängnis verurteilt wurden, weil sie dagegen protestiert hatten, dass auf einem Nachbarbau über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurde. Es war dabei zu Tätlichkeiten gekommen, als der Bauherr mit einem blindgeladenen Revolver auf sie geschossen hatte.

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