Franz Mehring 19100204 Bücherschau

Franz Mehring: Bücherschau

Bürgers Gedichte in zwei Teilen – Herweghs Werke

4. Februar 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Erster Band, S. 701/702. Vgl. Gesammelte Schriften, Band 10, S. 43 f. und 644 f.]

Bürgers Gedichte in zwei Teilen. Herausgegeben mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Ernst Consentius. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart, Deutsches Verlagshaus Bong & Co. CXXII, 248 und 367 Seiten. In einem Bande gebunden 2 Mark.

Herweghs Werke. Herausgegeben mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Hermann Tardel, Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart, Deutsches Verlagshaus Bong & Co. CIV, 152, 219 und 210 Seiten. In einem Bande gebunden 2 Mark.

Die beiden Bände gehören zu der „Goldenen Klassikerbibliothek" , durch die die genannte Verlagsfirma die alten Hempelschen Ausgaben unserer Klassiker erneuert und vervollständigt. Sie empfehlen sich ebenso wie die Schiller-Ausgabe derselben Bibliothek, die wir kürzlich angezeigt haben, durch ihre vortreffliche Ausstattung, durch holzfreies Papier, deutlichen Druck und handfesten Einband, durch ihre Beigaben an Porträts und Faksimiles und – zuletzt, aber nicht am wenigsten – durch die sorgsame Redaktion; es ist fast unglaublich, was in dieser „Goldenen Klassikerbibliothek“ geleistet wird im Verhältnis zu dem geringen Preise.

Bürger1 sowohl wie Herwegh dürfen einen Platz in Arbeiterbibliotheken beanspruchen. Unter den Klassikern des achtzehnten Jahrhunderts mag Bürger nicht in die erste Reihe gehören, aber aus der zweiten Reihe wächst er immer mächtiger empor, oder richtiger vielleicht: während diese zweite Reihe mehr und mehr versinkt, bleibt er als trotziger Fels stehen. Ein mitunter etwas zerrissener und zersplitterter, aber in seinem Kern doch so unverwüstlicher Fels, dass die brandende Woge der Zeit noch manches Jahrzehnt und auch wohl noch manches Jahrhundert vergebens an ihm nagen wird.

Bürger selbst war sich dessen bewusst, dass er nicht immer Vollendetes geschaffen habe; noch nicht lange vor seinem Tode hat er den Wunsch ausgesprochen, es möge das echte poetische Gold seiner Gedichtsammlung, das vermutlich nur wenige Bogen umfasse, ausgebrannt und von den Schlacken gereinigt werden, die deutschen Geist und Geschmack vor Gegenwart und Zukunft entbehren könnten. Dieser Aufgabe hat sich Eduard Grisebach vor ziemlich vierzig Jahren in seiner Ausgabe von Bürgers Werken unterzogen, nicht ohne Geschmack und Takt, aber doch auch nicht ohne Willkür. Es ist schon richtiger, dass wir mit vorliegender Ausgabe den ganzen Bürger erhalten, die Gedichte in der Ausgabe von 1789, der letzten, die Bürger selbst besorgt hat, und dazu eine reiche Nachlese, die von Herrn Consentius noch mit einigen zwanzig mühsam ausgegrabenen Nummern vermehrt ist, von denen freilich keine ein neues Licht auf Bürgers dichterische Eigenart zu werfen vermag.

Herweghs Werke enthalten im ersten Teile die beiden Bände der „Gedichte eines Lebendigen", im dritten Teile die „Neuen Gedichte", die erst nach Herweghs Tode erschienen sind, gesammelt aus Zeitschriften und Zeitungen, in denen er sie ein Menschenalter hindurch verstreut hatte. Sieht man von einzelnen Prachtstücken ab, so stehen diese Gedichte im Ganzen hinter den „Gedichten eines Lebendigen" zurück, von denen wieder die zweite Sammlung hinter der ersten zurückbleibt. Herwegh gehört zu den glänzenden, aber unglücklichen Talenten, die mit ihrem ersten Wurf im Grunde schon ihr alles geben; die wachsende Verbitterung, deren Beute er wurde, spiegelt sich auch in seiner Dichtung wider; je mehr er sich dem satirischen Zeitgedicht zuwandte, um so mehr geriet er in die erdrückende Nachbarschaft Heines, dessen mitunter selbst bewusste Nachahmung ihm nun gar gefährlich wurde. Immerhin blieb Herwegh allezeit virtuoser Beherrscher der dichterischen Form. Dagegen die prosaischen Aufsätze aus den Jahren 1839 und 1840, die – untermischt mit unreifen Jugendgedichten – den zweiten Teil dieser Ausgabe füllen, sind ganz unnützer Ballast. Sie wurden 1845, nach dem rauschenden Erfolg der „Gedichte eines Lebendigen", ohne Vorwissen des Dichters, als buchhändlerische Spekulation, von der Verlagshandlung der „Deutschen Volkshalle", in der sie zuerst erschienen waren, als Buch herausgegeben, und die Befriedigung des Herrn Tardel darüber, dass er sie „zum ersten Male wieder abdruckt", wird schwerlich auch nur ein Leser teilen.

Die Schattenseiten dieser Ausgaben bilden die biographischen Einleitungen der Herausgeber. Sie enthalten zwar auch reichhaltiges Material, aber sie sind von einem beschränkt-bürgerlichen und manchmal selbst philiströsen Standpunkt aus geschrieben. Freilich handelt es sich bei Bürger wie bei Herwegh um einigermaßen komplizierte Aufgaben, jedoch auch wenn man diesen mildernden Umstand berücksichtigt, bleibt wenigstens bei Herrn Tardel allzu viel zu wünschen übrig. Herr Consentius zieht sich noch einigermaßen aus der Affäre; nur mit dem Liebesleben Bürgers, das so tief in dessen dichterisches Schaffen eingegriffen hat, wird er nicht fertig. Das Beste, was darüber geschrieben ist, Julius Dubocs feine philosophische Studie, erwähnt er nicht einmal unter den Quellen, wo so manche gleichgültige Arbeit notiert wird. Anzuerkennen ist jedoch, dass Herr Consentius keinen Versuch macht, das schnöde Verhalten Goethes und namentlich Schillers gegen Bürger zu rechtfertigen; wie hoch stand der wegen seines angeblich galligen Neides so viel geschmähte Herder über den beiden Dioskuren, wenn er schrieb: „Bürgers Leben ist in seinen Gedichten; sie blühen als Blumen an seinem Grabe; weiter bedarf er, dem im Leben Brot versagt war, keines steinernen Denkmals."

Sehr viel schlechter schneidet Herr Tardel mit seiner biographischen Einleitung über Herwegh ab. Dieser brave Oberlehrer, der die heranwachsende Jugend der Freien Reichsstadt Bremen in Gottesfurcht und Kaisertreue drillt, steht politisch ungefähr auf dem Standpunkt des Reichsverbandes; selbst in einer rein ästhetischen Auseinandersetzung lässt er die ganze Wucht seiner patriotischen Überlegenheit auf den „Antisemiten Eugen Dühring" und den „Sozialdemokraten Franz Mehring" hernieder schmettern. Das Entsetzen, womit er auf Herweghs revolutionäre Gedichte blickt, lässt sich danach abmessen. Dass er seinen Helden absichtlich misshandeln will, kann man dabei nicht eigentlich sagen; über die unerfreulichen Seiten in Herweghs Leben, deren es nur allzu viele gibt, spricht er mit der herkömmlichen Leichenbittersentimentalität des landläufigen Biographen. Aber seine Darstellung ist ihrer ganzen Anlage nach durchaus schief und verzerrt.

Es hieße diesen Patrioten beleidigen, wenn wir es nicht als ganz selbstverständlich bezeichnen wollten, dass er die Schnurren, die Herr Marcel Herwegh vor etwa zehn Jahren über die Beziehungen zwischen Herwegh und Marx in die Welt gesetzt, unbesehen wiederholt; eine ausdrückliche Zurechtweisung erheischt jedoch seine Verdächtigung Ferdinand Flocons, der im Frühjahr 1848 als Mitglied der preußischen Regierung in Paris den bekannten Freischarenzug Herweghs nach Deutschland in perfider Absicht unterstützt haben soll. Flocon war vielmehr, ebenso, wie Marx, ein scharfer Gegner der abenteuerlichen Expedition, die für Herwegh so verhängnisvoll geworden ist.

Indessen, da man nicht immer alles Gute zusammen haben kann, so muss man bei der „Goldenen Klassikerbibliothek", an der so vieles zu loben ist, auch einiges mit in den Kauf nehmen, das Tadel verdient.

1 Siehe zu Mehrings Auffassungen über Bürger auch 1. „Literarische Parodien“ (13. 6. 1894). 2. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters (1910)

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