Franz Mehring 19110324 Bücherschau: Herders Werke

Franz Mehring: Bücherschau: Herders Werke

24. März 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 904. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 41 f.]

Herders Werke. Auswahl in acht Teilen. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu herausgegeben, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Ernst Naumann. Deutsches Verlagshaus Bong & Co. (Goldene Klassikerbibliothek.) In drei Leinenbänden. Preis 6 Mark.

Vor fünfzig und mehr Jahren, als Gervinus und Vilmar ihre Literaturgeschichten schrieben, galten Klopstock, Wieland, Lessing, Herder, Goethe und Schiller als das Sechsgestirn unserer klassischen Literatur. Dies Sechsgestirn hat sich allmählich auf ein Dreigestirn zusammengezogen, und es ist nicht wahrscheinlich, dass Klopstock oder gar Wieland außer ihrer historischen Bedeutung noch einmal ein neues Leben gewinnen werden. Anders aber steht es um Herder, dem augenscheinlich noch eine Renaissance bevorsteht.

Was ihn ungebührlich in den Hintergrund gedrängt hat, sind im Wesentlichen zwei Umstände. Einmal hat Herder kein Werk in künstlerischer Form hinterlassen, das wie Goethes „Faust" oder Schillers „Wallenstein" oder Lessings „Nathan" dem Zahne der Zeit trotzt; auch an Herder hat sich das neulich schon an dieser Stelle zitierte Wort Buffons bewährt, wonach nur gut geschriebene Werke auf die Nachwelt gelangen. Dann aber ist Herder in seinem späteren Leben einerseits mit Kant, andererseits mit Goethe und Schiller in heftigen Zwiespalt geraten, und da er sich dabei unzweifelhaft manche Blößen gegeben hat, so ist er in den Ruf eines Griesgrams und Neidharts geraten, womit sich die bürgerlichen Literarhistoriker seit lange abfinden, ohne zu untersuchen, ob Herder mit seiner Opposition sowohl gegen Kant wie gegen Goethe und Schiller nicht auch ein gutes Stück historischen Rechtes für sich gehabt haben mag.

Heute kann über diese Frage kaum noch gestritten werden. Als historisches Genie steht Herder hoch über dem durch und durch unhistorischen Kant; er zählt zu den Vorläufern des historischen Materialismus, und seine „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" werden immer einen Ehrenplatz in der Literatur einnehmen. Ebenso war es die Universalität seiner Weltanschauung, die an Goethes und Schillers einseitig-ästhetischer Kultur durchaus berechtigten Anstoß nahm, nicht aber ein Mangel in ästhetischem Empfinden. War er es doch, der den jungen Goethe in alle Geheimnisse des dichterischen Schaffens eingeweiht und im Volkslied die Quelle aller Poesie entdeckt hat; seine „Stimmen der Völker", eine Sammlung von Volksliedern der verschiedensten Nationen und Zeiten, verdienen in der poetischen Literatur denselben Ehrenplatz wie die „Ideen" In der historischen Literatur.

Diese beiden Werke bilden nun auch den Hauptbestandteil der Auswahl, die die „Goldene Klassikerbibliothek" aus Herders Schriften veranstaltet hat. Daneben gibt sie noch die ersten kritischen Schriften Herders, die heute weniger allgemein interessieren, aber für die Entwicklung unserer Literatur einmal von hoher Bedeutung gewesen sind. Enthält sie deshalb vielleicht ein wenig zu viel, so ist es immerhin besser, als wenn sie zu wenig enthielte, und im Übrigen teilt sie durchaus die bekannten Vorzüge der "Goldenen Klassikerbibliothek".

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