Franz Mehring 19080207 Bücherschau Georg Christoph Lichtenberg. Gedanken, Satiren, Fragmente.

Franz Mehring: Bücherschau

Lichtenbergs „Gedanken, Satiren und Fragmente"

7. Februar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 679/680. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 45 f.]

Georg Christoph Lichtenberg. Gedanken, Satiren, Fragmente. Herausgegeben von Wilhelm Herzog. 1. Band. Mit Porträt. 275 Seiten. 2. Band. Mit vier Tafeln nach Chodowiecki. 357 Seiten. Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1907.

Die deutsche Literatur ist verhältnismäßig arm an geistreichen Moralisten, wenigstens im Verhältnis zur französischen Literatur, und die wenigen, die sie besitzt, werden kaum nach Verdienst gewürdigt. Am ehesten noch Schopenhauer, dessen Ruhm sich sogar viel mehr auf die Aphorismen und Maximen seines Nebenwerkes stützt als auf die grundlegende Philosophie seines Hauptwerkes. Dagegen sind von den älteren Knigge und Lichtenberg nur noch die Namen in diesem oder jenem geflügelten Worte bekannt.

Wir begrüßen deshalb gern die vorliegende Auswahl aus Lichtenbergs Schriften, die von Wilhelm Herzog mit feinem Blick und sicherer Hand getroffen und von der Verlagsbuchhandlung geschmackvoll ausgestattet worden ist. Die Auswahl war notwendig, wenn einem größeren Leserkreis wieder der Geschmack an Lichtenbergs Gedankenwelt eingeflößt werden soll; wer den ganzen Lichtenberg haben will, kann ihn in der eben erscheinenden Ausgabe Leitzmanns finden. Herzog hat unseres Erachtens recht, wenn er sagt, dass man sich in dieser großen Ausgabe durch viel Gestrüpp hindurcharbeiten müsse. Dies ergibt sich schon aus Lichtenbergs Arbeitsweise; er trug in seine „Sudelbücher", wie er seine Tagebücher nach einem Ausdruck der englischen Kaufmannswelt nannte, alles wirr durcheinander ein, was ihm der Tag brachte: Eindrücke, philosophische Einfälle, komische Ausdrücke, autobiographische Notizen, kritische Bemerkungen zur Literatur und Kunst. Er hat seine Absicht, alles das zu ordnen, nicht selbst ausgeführt, und es heißt nur, seinen eigenen Willen vollstrecken, wenn der heutige Herausgeber mit dem nötigen Gleichmaß von Pietät und Verständnis das Korn von der Spreu sondert.

Von Knigge und Schopenhauer unterscheidet sich Lichtenberg durch seinen revolutionären Geist. Man hat seinen Namen oft mit Lessings Namen zusammen genannt, und auf den ersten Blick liegen auch große Ähnlichkeiten vor, doch wenn Lichtenberg bei diesem Vergleich nicht zu kurz kommen soll, so darf man nicht übersehen, dass er in der Grundfarbe seines Talentes wie seines Temperamentes sich wesentlich von Lessing trennt: Lichtenberg war Humorist, nicht in dem flach-trivialen Sinne der bürgerlichen Ästhetik, die in Fritz Reuter den „größten deutschen Humoristen" erblickt, sondern im Sinne eines Sterne oder auch Jean Paul. Hieraus erklärt sich auch Lichtenbergs zersplitterte Produktionsweise. Der große, nachdenklich tragische Humor bringt es schwer zu geschlossenen Kunstwerken; man denke nur an die oft unschöne Fülle gelehrter Zitate bei Sterne und Jean Paul. Das „Durchstudieren der großen und kleinen Welt" gehört eben auch zur sinnigen Resignation, es am Ende gehen zu lassen, wie's Gott gefällt.

In Arbeiterbibliotheken, die entwickelt genug sind, die schöne und die schönwissenschaftliche Literatur berücksichtigen zu können, gehört auch diese Ausgabe Lichtenbergs.

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