Franz Mehring 19111117 Die antike Bildung

Franz Mehring: Die antike Bildung

17. November 1911

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 255/256. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 615 f.]

Die bürgerliche Presse verbreitete im vergangenen Sommer die Mitteilung, dass der letzte Rest des humanistischen Gymnasiums durch die Beseitigung des griechischen Unterrichts vernichtet werden solle. An diese Nachricht, die sich inzwischen erfreulicherweise als grundlos herausgestellt hat, knüpften der „Vorwärts" und die „Neue Zeit" einige kritische Bemerkungen, etwa des Sinnes, dass damit das neudeutsche Reich den endgültigen Bruch mit dem Deutschland der klassischen Literatur und der klassischen Philosophie vollziehe. Diese Bemerkungen wieder regten das „pädagogische Gewissen" des Genossen Heinrich Schulz so auf, dass er in Nr. 47 des vorigen Jahrganges der „Neuen Zeit" an zwei verschiedenen Stellen und auf mehr als neun Druckseiten mit den Ketzern des „Vorwärts" und der „Neuen Zeit" ins Gericht ging.1

Für die „Neue Zeit" war ich der Schuldige, doch hinderte mich eine schwere Erkrankung, sofort zu antworten, obgleich ich, um die Angriffe des Genossen Heinrich Schulz zu erledigen, mich wesentlich kürzer fassen kann als er. Er behauptet, dass unsere klassische Literatur und Philosophie mit dem humanistischen Gymnasium überhaupt nichts zu tun habe, da nach den Akten der preußischen Bürokratie dieses Gymnasium erst seit 1856 oder höchstens seit 1837 bestehe. Nach meiner Ansicht besteht es allerdings seit dem sechzehnten Jahrhundert, und als seinen eigentlichen Gründer pflegt man keinen preußischen Bürokraten, sondern Philipp Melanchthon zu nennen. Aber es ist klar, dass, wenn Genosse Schulz recht haben sollte, meine ganze Argumentation an einer einfachen Jahreszahl zusammenbrechen würde. Gleichwohl kann Genosse Schulz nicht unterlassen, das Verhältnis unserer Klassiker zur antiken Bildung unter die Lupe zu nehmen, wobei ihm jedoch Irrtümer unterlaufen, die ich an einem so alten und guten Freunde gerne vermisst hätte. Winckelmann soll das eigentliche Verständnis für die Größe der antiken Kultur nicht sosehr durch das Studium der griechischen Sprache als durch den Anblick der Zeugnisse griechischer und römischer Kultur gewonnen haben, während Winckelmann selbst behauptet, dass er schon als Konrektor in Seehausen, das heißt, ehe er auch nur ein antikes Kunstwerk mit Augen gesehen hatte, vor den „grindigen Köpfen" altmärkischer Schulkinder „Gleichnisse aus dem Homer gebetet" habe. Ferner sollen unsere Klassiker über die mangelhaften Lateinschulen ihrer Zeit manch bitteres Wort geschrieben haben, während Lessing bekannte, dass er die glücklichsten Jahre seines Lebens, nach denen er sich oft zurücksehne, auf der Fürstenschule in Meißen verlebt habe. Dann soll Heinrich Heine „ein herzlich schlechter Grieche" gewesen sein, und Genosse Schulz beruft sich auf einige anonyme Schulfüchse, nach deren Behauptung Heine sogar überhaupt nicht Griechisch gelernt hat, aber Heine selbst versichert allerdings das Gegenteil und hat davon in seinen Gedichten – von seiner Prosa zu schweigen – reiche Proben gegeben, von den „Nordseebildern" bis zum „Romanzero", so dass selbst ein so ausbündiger Hasser Heines wie Treitschke in einer antisemitischen Schrift zugeben muss, in den „herrlichen Versen" „Schon tausend Jahre aus Gräcia" habe Heine noch einmal alles zusammengefasst, was die Deutschen seit Winckelmanns Tagen über die Schönheit der hellenischen Welt gesungen und gesagt hätten. Doch genug davon!

In einem zweiten Artikel derselben Nummer empfiehlt mir Genosse Schulz die „Erziehungslehre" des Herrn Ludwig Gurlitt zur besseren Belehrung. Leider schreckt er mich nur gleichzeitig durch die Proben, die er aus diesem Werke mitteilt, von dessen Lektüre wirksam ab, und seine Versicherung, dass er mit Herrn Ludwig Gurlitt „die autoritativ aufgepflanzte Hochachtung vorm Altertum ablehne", hilft mir auch nicht weiter. Ich bilde mir ein, dass ich mir meine, wie ich gern bekenne, aufrichtige Hochachtung vorm Altertum durch eigene Arbeit erworben habe, aber wenn ich darin zu unbescheiden denken und in der Tat nur Autoritäten nachplappern sollte, so ziehe ich freilich Autoritäten wie Goethe, Lessing, Winckelmann, Heine, Marx, Lassalle entschieden der Autorität des Herrn Ludwig Gurlitt vor..

In den wenigen Zeilen, durch die ich das Unglück gehabt habe, die lange Philippika des Genossen Schulz hervorzurufen, habe ich in keiner Weise die Sünden des humanistischen Gymnasiums beschönigt und den Anspruch, dass die „akademische Bildung" die Voraussetzung jedes denkenden und sozusagen selbst jedes anständigen Menschen sei, in der entschiedensten Weise zurückgewiesen. Aber ebenso entschieden muss ich für meinen Teil den Versuch des Genossen Schulz ablehnen, das Kind mit dem Bade zu verschütten und den Lesern der Arbeiterpresse die antike Bildung überhaupt zu verleiden.

1 Siehe Heinrich Schulz: Was kümmert uns das humanistische Gymnasium? In: Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Zweiter Band, S. 725-734.

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