Franz Mehring 19030311 Friedrich Gottlieb Klopstock

Franz Mehring: Friedrich Gottlieb Klopstock1

11. März 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 764-766. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 7-11]

Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? Nein." So spottete der junge Lessing schon fünf Jahre, nachdem die ersten Gesänge von Klopstocks „Messias" erschienen waren, und als dies Gedicht endlich nach fünfundzwanzigjähriger Arbeit vollendet worden war, ging bald das Sprichwort um, es gebe keinen lebenden Menschen, der es von Anfang bis zu Ende durchgelesen habe. Heute, an Klopstocks hundertstem Todestag, der auf den 14. März dieses Jahres fällt, darf man sagen, dass er vergessener sei als irgendein anderer unserer Klassiker. Von Lessing, Goethe und Schiller ganz zu geschweigen, so findet Herders „Cid" und Wielands „Oberon" noch eher einen Leser als Klopstocks „Messias".

Es wäre auch ganz falsch, hier in landläufigem Sinne von einer unverdienten Vergessenheit zu sprechen. Von allem, was Klopstock geschrieben hat, sind höchstens noch einige seiner Oden – und auch von diesen nur verhältnismäßig sehr wenige – ästhetisch genießbar. Klopstock gehört ganz der Literaturgeschichte an. Um zu begreifen, mit wie überwältigender Hoheit er einst in das Leben seiner Zelt getreten ist, muss man die deutschen Dichter kennen, die vor ihm waren, die Gottsched und Bodmer, die Pyra und Lange, die Gleim und Kleist, aber sie kennenzulernen ist eine noch viel undankbarere Aufgabe, als den „Messias" durchzulesen, und so ist Klopstocks Nachruhm doch eigentlich nur eine abgegriffene Münze, die unbesehen von Hand zu Hand geht. Es ist immer nur wenigen Dichtern beschieden, den Jahrhunderten zu trotzen und noch in einer fernen Zukunft vom Volke geliebt, nicht bloß von Fachgelehrten durchgrübelt zu werden, und die Zahl dieser Dichter ist in Deutschland noch geringer als in anderen Kulturvölkern.

Treitschke wirft einmal die Frage auf, warum sich der Engländer noch an seinem Spencer und Shakespeare erfreue, während Klopstock und Wieland unserem Volke nur Namen seien. Er findet die Antwort: „Ein Märchen ist es, erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner Fahnen schaut ein Volk aus, wenn es seiner Vergangenheit gedenkt, und gern vergisst es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerkes, wenn die Glorie einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet." Es ist schwer zu sagen, ob der Sinn oder der Unsinn dieser Sätze größer sein mag. Gewiss ist es ein philisterhaftes Märchen, dass ein vorwiegend literarisches Volk bestehen könne, gewiss dauert eine Dichtung um so länger, je klarer sie eine glorreiche Zeit der Nation widerspiegelt, aber der Sinn wird zum Unsinn, wenn der „Ruhm seiner Fahnen" das erste sein soll, wonach ein Volk ausschaue, wenn es seiner Vergangenheit gedenke.

Unsere klassische Literatur war keineswegs eine vorwiegend literarische Erscheinung. Sie war ihrem inneren Wesen nach der beginnende Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums. Ein Kampf freilich, der in den Wolken geführt wurde und in dem Gedächtnis der Nachwelt erblassen musste, sobald die deutschen Klassenkämpfe sich auf ebener Erde und mit blanken Waffen abspielten. Es war kein Zufall, dass unsere klassische Literatur ihren höchsten und letzten nationalen Triumph in der Schillerfeier des Jahres 1859 erlebte, am Vorabend des Tages, wo das klassenbewusste Proletariat auf die öffentliche Bühne trat und dem politischen Leben in Deutschland jene historischen Perspektiven gab, deren es bis dahin gänzlich entbehrt hatte.2 In ihrem untrüglichen Klasseninstinkt hielt die deutsche Arbeiterklasse die Männer unserer klassischen Literatur in hohen Ehren, während die ängstliche Bourgeoisie, indem sie sich vor dem Proletariat unter die Fittiche des borussischen Adlers flüchtete, nun auch gleich ihren größten historischen Ruhmestitel unter den „Ruhm seiner Fahnen" stellte. Sie lebte sich in die absurde Legende ein, dass ein preußischer Despot durch die Eroberungskriege, die er mit seinen Söldnerhorden führte, unsere klassische Literatur ins Leben gerufen habe. Es war das sicherste Mittel, diese Literatur nicht etwa der Vergessenheit zu entreißen, wie man nach Treitschkes Argumentation annehmen müsste, sondern sie den Volksmassen zu verekeln und dadurch erst in die völlige Nacht der Vergessenheit zu tauchen.

Insofern wird sich diese Nacht allerdings wieder lichten, und wenn nicht der Dichter, so wird doch der Kämpfer Klopstock lebendig werden, in der wahrhaftigen Literaturgeschichte, die unsere klassische Literatur als das darstellt, was sie in historischer Wirklichkeit gewesen ist, als das erste Ringen einer gemisshandelten und unterdrückten Klasse um ihre Emanzipation. In der Stärke seines bürgerlichen Klassenbewusstseins stand Klopstock unter unseren Klassikern höchstens hinter Lessing und Schiller zurück, jedoch die Art seiner Begabung und die Umstände, worin er lebte, erschwerten ihm an seinem Teile die Lösung der historischen Aufgabe, vor die sich unsere Klassiker gestellt sahen. Klopstock war ausschließlich Lyriker; jede Spur von dramatischer Begabung fehlte ihm gänzlich. Er war der älteste und der erste unserer Klassiker; er musste sich bis auf die Sprache und den Vers alles aus eigenem schaffen und war doch in die ganze Armseligkeit des damaligen deutschen Lebens gepfercht. Ein bürgerlicher Historiker schilt ihn, dass er die Unreife seiner zwanzigjährigen Primanerexistenz der Nation ins Gesicht geworfen, allein wenn es ein großer Missgriff Klopstocks war, das Leben Jesu zum Gegenstand eines Heldengedichts zu machen, so war es nicht minder ein kühner Wurf, nach dem Muster Miltons ein religiöses Epos zu dichten.

Dieser Wurf blieb auch nicht unbelohnt; die ersten Gesänge des „Messias" schlugen wie ein Blitz ein. Aber dann zeigte sich freilich, dass Klopstock wesentlich doch nur eine Schulaufgabe gelöst hatte. Der religiöse Stoff Miltons hatte historischen Sinn und Verstand gerade vom Standpunkt der bürgerlichen Emanzipation aus; den englischen Puritanern war die Religion die ideologische Widerspiegelung gewaltiger Klassensiege; die kriegerischen Scharen der Engel in Miltons „Verlorenem Paradies" stellten in dichterischer Verkleidung nichts anderes als Cromwells gottselige Dragoner dar. In Deutschland aber war zu Klopstocks Zeit die Religion das ideologische Symbol eines Despotismus, dem die bürgerliche Klasse seit zwei Jahrhunderten ihre Vernichtung verdankte; ein religiöses Epos – und nun gar ein so tatenloser Stoff wie der der sündigen Menschheit Erlösung durch Jesu Opfertod – konnte nicht das Morgenlied eines modernen Bürgertums werden; die erhabensten Verse schlugen unwillkürlich zur Parodie um, wie gleich im Anfang des Gedichts die vielbewunderte Stelle, wo Jesus dem Gottvater erklärt:


Ich hebe gen Himmel mein Haupt auf,

Meine Hand in die Wolken und schwöre dir bei mir selber,

Der ich Gott bin wie du, ich will die Menschen erlösen.


Es war in der Tat nur die überraschende Erscheinung einer ursprünglichen Dichterkraft, wie sie seit Jahrhunderten nicht in Deutschland gesehen worden war, die den ersten Gesängen des „Messias" eine allgemeine Begeisterung erweckte; das Gedicht selbst musste den Zeitgenossen, so kümmerlich ihre sozialen Ansprüche noch waren, schon bald langweilig werden. Über diesen Zusammenhang wurde sich Klopstock, geblendet durch seinen ersten, mächtigen Erfolg, niemals klar; er hat ein volles Vierteljahrhundert darangesetzt, den „Messias" zu vollenden, und so seine beste Kraft fruchtlos verzehrt.

Als geborener Lyriker zeigt sich Klopstock von der günstigsten Seite in seinen Oden. In ihnen tritt die religiöse Auffassung, obgleich sie immer noch stark mitspielt, doch hinter die nationale, tritt der Hohepriester hinter den Rebellen zurück. Gelegentlich hat Klopstock freilich auch Fürsten angedichtet, aber wenn er dem Könige von Dänemark, der ihn vor den Werbern des borussischen Heros rettete, ein Danklied sang, so war das menschlich erklärlich, und wir stimmen heute noch beinahe mit ein. Gegen den preußischen Despotismus hat Klopstock eine Reihe zornglühender Oden gerichtet, wie neulich schon bei einer anderen Gelegenheit an Stelle ausgeführt worden ist; in den genialen Forschern, die aus diesem Dichter einen Bekenner der friderizianischen Legende machen wollen, scheinen jene Werber wieder lebendig geworden zu sein, denen der lebendige Klopstock gerade noch glücklich entrann.

Konnten unsere klassischen Dichter, nach Lage der sozialen Verhältnisse in ihrer Zeit, das Mäzenatentum der Fürsten und Junker nicht völlig entbehren, so hat sich doch nächst Lessing keiner so frei gehalten wie Klopstock; die Dioskuren von Weimar, namentlich Goethe, haben in diesem delikaten Punkte ein viel bedenklicheres Konto. Klopstock sagte den Fürstensängern seiner Zeit: Möge auch einst Marmor euer Grab decken, so ist dieser Marmor doch Schandsäule, wenn „euer Gesang Kakerlaken oder Orang Utange zu Göttern verschuf". Von sich aber rühmte er und durfte auch mit Recht rühmen:


Dank dir, mein Geist, dass du seit deiner Reife Beginn

Beschlossest, bei dem Beschluss verharrtest,

Nie durch höfisches Lob zu entweihen

Die heilige Dichtkunst,

Durch das Lob lüsterner Schwelger oder eingewebter Fliegen,

Eroberer, Tyrannen ohne Schwert,

Nicht grübelnder, handelnder Gottesleugner,

Halbmenschen, die sich in vollem dummem Ernst für höhere

Wesen halten als uns.


Entsprechend dieser aufrechten Gesinnung, begrüßte Klopstock, damals schon ein Greis von fünfundsechzig Jahren, mit lebhafter Begeisterung den Ausbruch der Französischen Revolution. Der französischen Nationalversammlung sang er im Jahre 1789 zu:


Der kühne Reichstag Galliens dämmert schon,

Die Morgenschauer dringen den Wartenden

Durch Mark und Bein: o komm, du neue,

Lebende, selbst nicht geträumte Sonne.


In einer anderen Ode fordert Klopstock die Deutschen auf, dem glorreichen Vorbild der französischen Brüder zu folgen; seine nationale Gesinnung trat nie schöner hervor als in der Klage, dass nicht die Deutschen die Fahne der Freiheit aufgepflanzt hätten. Den so blöden wie verruchten Einfall des feudalen Europas in das revolutionierte Frankreich verurteilte Klopstock mit den härtesten Worten; die französische Republik hat ihm dafür ihr Bürgerrecht verliehen. Leider hielt er die Schreckenszeit3 nicht aus; er widerrief seinen „Irrtum" und feierte die „erhabene Männin" Charlotte Corday, weil sie Marat getötet hatte. Darin sind unsere klassischen Philosophen unseren klassischen Dichtern durchaus überlegen gewesen, dass sie sich auch durch die Schreckenszeit nicht an der bürgerlichen Revolution irremachen ließen.

Immerhin aber – wenn Klopstocks Nachruhm auch fernerhin nicht mehr als eine Münze sein wird, die in gutem Glauben von Hand zu Hand geht, so wird diese Münze doch nicht immer so abgegriffen sein wie heute. Sie wird einmal kenntliche Züge tragen, und es werden die Züge eines Mannes sein.

1 Die geschichtliche Stellung der genannten Schriftsteller ist von Mehring an anderen Stellen umfassender und gerechter beurteilt worden. Siehe dazu: 1. Die Lessing-Legende. In: Franz Mehring: Gesammelte Schriften, Bd. 9, Berlin 1975, S. 247-250. 2. Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters. In: Ebenda, Bd. 5, S. 68-72.

2 Mehrings Überbewertung der nationalen Rolle der Schiller-Feier des Jahres 1859 hängt eng mit seiner ganzen Stellung zur nationalen Frage in Deutschland in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts zusammen. Siehe dazu die Einleitung zum Band 1 der „Gesammelten Schriften".

3 Gemeint ist die Jakobinerdiktatur vom 2. Juni 1793 bis 27. Juli 1794.

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