Franz Mehring 19031209 Johann Gottfried Herder

Franz Mehring: Johann Gottfried Herder1

Dezember 1903

I

[Die Neue Zeit, 22. Jg. 1903/04, Erster Band, S. 321-326, 385-389. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 29-40]

Unter dem Sechsgestirn, das nach der herkömmlichen Auffassung über unserer klassischen Literatur leuchtet, ist der Mann, dessen hundertster Todestag am 18. Dezember wiederkehrt, ist Johann Gottfried Herder dem lebenden Geschlecht am weitesten aus dem Gesichtskreis entschwunden. Zwar auch Klopstock und Wieland werden kaum noch gelesen, aber man hat doch einen Begriff davon, wer sie gewesen sind und was sie geschaffen haben, während von Herder nicht einmal ein Schattenbild fortlebt.

Das ist auch nicht erst seit gestern und heute so. Von Herders ganzer Lebensarbeit gilt, was Goethe als Greis schon von Herders größtem Werke, den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", gesagt hat, das Buch habe unglaublich tief auf die Bildung der Nation eingewirkt, allein nachdem es seine Schuldigkeit getan habe, sei es so gut wie ganz vergessen worden; es sei dergestalt in die Kenntnis der ganzen Massen übergegangen, dass nur wenige, die es läsen, dadurch belehrt würden, weil sie durch hundertfältige Ableitung von demjenigen, was zuerst von großer Bedeutung gewesen, schon völlig unterrichtet seien. Von einer anderen Seite her beleuchtete Jean Paul das Phänomen, indem er schrieb: „Herder ist nicht ein Stern erster Größe gewesen, aber ein Bündel von Sternen. Er hat kein Werk seines Genius hinterlassen, dessen vollkommen wert, aber er selbst war ein Meisterwerk Gottes." In der Tat erklären diese Urteile Goethes und Jean Pauls, weshalb Herders historische Wirksamkeit schnell im Dunkeln verschwunden ist, zumal wenn man erwägt, wie schwer es für die bürgerliche Literaturgeschichte war, dies „Bündel von Sternen", dies „Meisterwerk Gottes" in eins ihrer beliebten Fächer einzuschachteln.

Der Schüler Kants wurde der Vorläufer Hegels, der nächste Gesinnungsgenosse Lessings wurde der Bahnbrecher der Romantik, der Bewunderer der Reimschmiede Gleim und Ewald v. Kleist wurde der Erwecker des Weltdichters Goethe. Man kann sich ohne Herder weder die deutsche Aufklärung noch die deutsche Romantik, weder unsere klassische Literatur noch unsere klassische Philosophie vorstellen. Und doch wäre es ein handgreiflicher Widersinn, ihn einen Aufklärer oder einen Romantiker, einen Dichter oder einen Philosophen zu nennen. In dem Versuch, ein so schwer zu fassendes Problem in seinem Kerne zu ergreifen, stößt die ideologische Geschichtsschreibung überall an die Grenzen, die ihr gesteckt sind; der begreifliche, wenn auch nicht berechtigte Unmut darüber hat sich denn an dem Gegenstand ihrer Darstellung selbst ausgelassen; sogar bei seinen Biographen kommt Herder nicht besonders gut fort, so etwa als ein zweiter, jedoch keineswegs verbesserter Lessing, der mancherlei angeregt, aber nichts vollendet habe und der schließlich in unversöhnlichem Widerspruche gerade mit den Größten, einem Goethe und einem Kant, aus dem Leben geschieden ist.

Es ist nun auch gewiss wahr, dass Herders Genius sich zuerst an dem Genius Lessings entzündet hat, dass er auf niemandes Spuren so gern und so häufig gewandert ist wie auf Lessings Spuren, dass er immer mit unverhehlter Bewunderung zu Lessing emporgeblickt hat. Jedoch tritt er von Anbeginn auch diesem Vorbild in eigentümlicher Selbständigkeit entgegen. Der Pastorssohn Lessing war eine durch und durch weltliche, der Küsterssohn Herder eine durch und durch religiöse Natur. Sosehr auch Lessing unter der deutschen Misere zu leiden gehabt hat, ungleich schwerer musste Herder unter der preußischen Misere leiden. Die Wunden dieser Knechtschaft hat er nie völlig geheilt. Während Lessing sich auf der Fürstenschule in Meißen, ein dreister, frischer, kecker Knabe, gesellig und streitbar unter hundert gleichalterigen Genossen tummelte und sich zugleich aus den römischen Komödiendichtern schon seine eigene Welt erbaute, hat Herder in dem ostpreußischen Städtchen Mohrungen, „dem kleinsten im dürren Lande", wie er das Nest nennt, eine unsäglich düstere und trübe Jugend verlebt, ungesellig, verängstigt, von verbohrten Schuldespoten gepeinigt, unter dem quälenden Drucke der „roten Halsbinde", der preußischen Kantonspflicht, die ihm zwanzig fürchterliche Jahre unter der Fuchtel des Korporals verhieß.2 Zur Rettung wurde ihm erst die russische Eroberung Ostpreußens im Siebenjährigen Kriege. Einem russischen Chirurgen gefiel der achtzehnjährige Jüngling, der sich unter unbeschreiblichen Entbehrungen als Schreiber des Diakonus an der Mohrunger Stadtkirche eine staunenswerte Bildung verschafft hatte, und er nahm ihn mit nach Königsberg.

Hier hatte Herder auch noch schwer zu ringen, doch ging es nun verhältnismäßig schnell vorwärts. Einen neuen Gönner fand er an Kant, der damals – im Jahre 1762 – noch in seiner vorkritischen Periode stand. Jedoch hörte Herder nicht die philosophischen Kollegien des Meisters am liebsten, sondern seine Vorlesung über Astronomie und Geographie, über Disziplinen, die sich mit der sichtbaren und wirklichen Welt befassten. So studierte er auch nicht Philosophie, sondern Theologie, sicherlich nicht aus irgendwelchen äußeren Gründen, sondern aus innerem Herzensdrang, aus Freude namentlich an der Bibel, die ihm in einsamen Kindheitstagen lange der einzige Quell geistiger Erfrischung gewesen war, dann unter dem Einflüsse Hamanns, jenes tiefsinnigen, aber dunklen Denkers, von dem Lessing sagte, dass seine Schriften als Prüfungen für die Leute aufgesetzt zu sein scheinen, die sich für Polyhistoren ausgäben. Auf Hamanns Empfehlung erhielt Herder schon mit zwanzig Jahren eine Stelle als Kollaborator an der Domschule in Riga. Ehe er jedoch dahin abreiste, musste er feierlich schwören, ins preußische „Vaterland" zurückzukehren, falls er als Rekrut requiriert werden sollte. Er hat seitdem „das Reich des Pyrrhus" mit keinem Fuße wieder betreten.

In Riga, wo Herder von 1764 bis 1768 lebte, entdeckte er sich als Schriftsteller. In seinen „Fragmenten" knüpfte er an Lessings „Literaturbriefe", in seinen „Kritischen Wäldern" an Lessings „Laokoon" an. Gleich in diesen ersten Schriften verrät er das, worin er über Lessing hinausging: historisches Genie. „Alles aus dem Geiste seines Zeitalters" betrachten, hält er für seine Aufgabe. Für Lessing war die Ästhetik schließlich nur Mittel zum Zweck; er räumte auf literarischem Gebiet auf, um das bürgerliche Bewusstsein, das sich auf diesem Felde allein erst bestätigen konnte, zu stärken und voranzutreiben; was ihm für diesen Zweck taugte, war ihm Muster. Er verwarf die Regeln eines Gottsched, aber an die Autorität eines Aristoteles glaubte auch er. Dagegen fragt Herder: „Homer, Äschylus, Sophokles, hätten sie ihre Werke in unserer Sprache, bei unseren Sitten schreiben können? Niemals!" Er sah in diesen Dichtungen nicht das Besitztum einzelner bevorzugter Geister, sondern eine gemeine Gabe aller Völker und Zeiten, nur dass sie in jedem Volke und jeder Zeit ihre eigentümliche Entwicklung habe oder gehabt habe. So kam er aufs Volkslied als die unerschöpfliche Quelle aller Poesie, und diese frohe Botschaft fand alsbald ein tönendes Echo in den Liedern Bürgers und Goethes.

Jedoch zeigten die ersten Schriften Herders zugleich, worin Lessing ihm überlegen war. Zunächst in der Form der Darstellung. Lessing ist der dialektische Kämpfer, Herder der deklamierende Prophet. Liest man heute ein Kapitel Lessings über irgendein noch so abstruses oder vergessenes Thema, so wird man immer geistig erfrischt; liest man aber ein Kapitel Herders über Gegenstände, die uns heute noch lebhaft interessieren, so ermüdet man nach wenigen Seiten. Es ist nicht Deklamation im schlechten Sinne darin, eher ein Überschwang von Gedanken, die in ungebändigter

Fülle durcheinander stürzen, aber der prophetische Schwung wirkt nicht mehr anspornend, sondern abspannend, nachdem der Prophet längst zu seinem Rechte gekommen ist. Es hängt damit zusammen, dass, wenn Lessing und Herder sich als Dichter versucht haben, ohne Dichter zu sein, Lessing doch einige Dramen von bleibendem Werte geschaffen hat, während Herder gerade auf dramatischem Gebiet nur zu den traurigsten Missgriffen gelangt ist.

Die verschiedene Form der Darstellung war bei diesen beiden großen Schriftstellern aber nur der Ausdruck für die Verschiedenheit der Charaktere. Sie kämpften gemeinsam gegen das Sudelgeschlecht, das sich damals um den Professor Klotz in Halle gesammelt hatte; allein während Lessing den Gegner mit siegreichem Schwerte niederstreckte, ohne dass auch nur ein leiser Schatten auf seine blanke Rüstung gefallen wäre, verwickelte sich Herder in ein hässliches Versteckspiel, indem er erst anonym angriff, dann, als die Klotzianer diese Anonymität aufdeckten, seine Angriffe-verleugnete, kurzum sich in einer Weise moralisch bloßstellte, die ihn in Riga unmöglich machte. Alles das eigentlich ohne rechten Grund, am wenigsten jedenfalls aus Rücksichten auf seine Stellung, in der ihn ein Kampf mit offenem Visier durchaus nicht schädigen konnte, sondern aus einer inneren Unsicherheit heraus, die sich an einem Manne wie Herder nur aus den unverwundbaren Eindrücken einer völlig verschüchterten Jugendzeit erklärt.

Herder ging nun zu Schiff nach Frankreich, um die Welt kennenzulernen. In Paris verkehrte er mit den literarischen Größen des damaligen Frankreich, namentlich mit Diderot; wenn ihm nachgerühmt wird, dass er die damalige französische Literatur gerechter zu beurteilen verstanden habe als Lessing, so ist das nur wieder in dem Sinne wahr, dass er sie historisch würdigte, während Lessing sie in ihren höfischen Formen als ein schweres Hindernis der deutschen Geistesentwicklung bekämpfte. Dann nahm Herder eine Stellung als Bärenführer bei einem idiotischen Prinzen an, der auf Reisen geschickt werden sollte; in dieser Eigenschaft lernte er im Frühling des Jahres 1770 Lessing in Hamburg und im Herbste desselben Jahres Goethe in Straßburg kennen.

Lessing war damals gerade im Begriff, nach Wolfenbüttel überzusiedeln; er stand auf der Höhe seines Lebens, und Herder, der fünfzehn Jahre jünger war, konnte ihm keine neuen Anregungen mehr bieten. Jedoch war Lessing mit dem jüngeren Kampfgenossen „sehr wohl zufrieden", und sie haben einige Wochen wacker herumgeschwärmt. Denn wenn Herder auch an kampffreudiger Weltlichkeit nicht an Lessing heranreichte, so war er doch durchaus kein Kopfhänger und Stubenhocker, und in einem glichen sich diese beiden Vorkämpfer des humanen Gedankens durchaus, in der gänzlichen Verachtung des schnöden Mammons; sie haben niemals zu rechnen verstanden, was Goethe und Schiller immer sehr gut konnten. Wiedergesehen haben sie sich nach diesen Hamburger Tagen nicht wieder, auch nur noch wenig miteinander korrespondiert, da beide träge Briefschreiber waren, aber aus den Augen verloren haben sie sich nie; in seinen Beziehungen zu Lessing zeigt sich Herder von einer Seite, die alle Beschwerden über seinen griesgrämigen und neidischen Charakter entwaffnet.

Wechselvoller gestaltete sich sein Verhältnis zu Goethe, obgleich es in Straßburg mit einem hohen Auftakt begann. Der Verkehr mit Herder, der durch die Kur eines Augenleidens längere Zeit in Straßburg zurückgehalten wurde, ist für den jungen Goethe epochemachend gewesen; Herder hat dem werdenden Dichter eine neue Welt eröffnet, eben durch jene historische Einsicht in das Wesen der Poesie, die ihn überall auf die echtesten und unversieglichsten Quellen zurückführte. Den Genius in Goethe hat Herder freilich nicht erkannt; obgleich nur fünf Jahre älter, behandelte er doch den jüngeren Gefährten sehr von oben herab; er fand ihn „etwas leicht und spatzenmäßig", worüber er ihm „ewige Vorwürfe" machte. Doch hat sich seine Hoffnung, ihm „einige gute Eindrücke gegeben zu haben, die einmal wirksam werden könnten", über alles Erwarten erfüllt.

Inzwischen hatte Herder eine Stelle als Oberpfarrer in Bückeburg angenommen, am Hofe eines wunderlichen Duodezdespoten, der im Soldatenspiel den Durchschnitt seiner wunderlichen Klasse noch weit übertraf. Glücklich fühlte sich Herder in dem traurigen Neste nicht, obgleich er ein geliebtes Mädchen bald nach seiner Übersiedlung heimgeführt hatte. Denn für ihn begann nun jenes Elend, worunter alle Größen unserer Literatur gelitten haben, jenes kleinstaatliche und kleinstädtische Elend, dessen schlimmste Eigenschaft nicht einmal die Finanzklemme war, die gewöhnlich zu seinen Begleiterscheinungen gehörte, sondern der lähmende Druck auf die Sprungkraft des Geistes. Das Mäzenatentum der deutschen Fürsten bestand damals darin, irgendeinen bürokratischen Posten mit einem berühmten Namen zu schmücken, jedoch mit der Zumutung an den Träger dieses Namens, nun auch all den subalternen Dienst zu leisten, den ein treufleißiger Bürokrat an dieser Stelle hätte leisten müssen. Diese Potentaten spannten den Pegasus ins Ackergeschirr und werden dafür bis auf den heutigen Tag als Gönner von Kunst und Wissenschaft gefeiert.

Für Herders bürgerliches Selbstbewusstsein ist solche Last schwer zu tragen gewesen, obgleich er an seinem Berufe als Geistlicher immer hohe Genugtuung gehabt hat. Es ist eine ganz falsche Ehrenrettung des merkwürdigen Mannes, wenn man ihm nachgesagt hat, er sei gewissermaßen wider Willen Geistlicher gewesen, habe als Brotstudium die Theologie wählen müssen usw. Gerade in dieser Bückeburger Zeit hat Herder sehr heftige Kämpfe ausgefochten mit den Rationalisten, die aus dem Predigtamt ein Lehramt der Tugend und Weisheit machen wollten, die nicht mehr wüssten, was ein Prediger vor Gott und Menschen sei, sondern nur, was er in den Staaten Seiner glorwürdigsten Majestät des Königs von Preußen höchst privilegiertermaßen sein dürfte und sein möchte, um doch auch etwas zu sein. Herder hat in dieser Polemik wieder nicht gut abgeschnitten, weil er sich allzu sehr überstürzte, aber Herzenssache war ihm gewiss der Kampf für die Religion, die etwas anderes sei als Philosophie.

Wie die Dichtung, so legte er sich auch die Religion historisch zurecht. Die Bücher der Bibel waren ihm weder göttliche Erzeugnisse, wie die Orthodoxen, noch eine Sammlung von Abgeschmacktheiten und Narrheiten, wie die Rationalisten behaupteten, sondern historische Schriften, die aus dem Zeitalter ihrer Entstehung heraus beurteilt werden müssten. In seiner Bibelkritik stand Herder an Furchtlosigkeit keinem Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts nach; er hat zuerst das Hohelied Salomonis als ein sinnliches Liebeslied nachgewiesen und ist auch keineswegs scheu an der evangelischen Geschichte vorbeigegangen. Aber, wie David Strauß, der ihn sonst nicht leiden mochte, ganz zutreffend sagt: in Herders Geiste wurde „das Bedürfnis des scharfen Unterscheidens von der Lust des Zusammenschauern zu sehr überwogen", und so ist er immer eifriger Prediger gewesen, ohne dass ihn je seine kritisch-historische Tätigkeit in irgendeinen Konflikt mit seinem seelsorgerischen Beruf gebracht hätte.

Unerträglich wurden die Zustände in Bückeburg aber für Herder, als sein Despötlein zugunsten der Rekrutenkasse geistliche Ämter an unwürdige Subjekte verhandelte. Herder wollte sich nun an der Universität Göttingen habilitieren, doch wurden ihm hier allerhand Schwierigkeiten wegen mangelnder Orthodoxie gemacht, und so nahm er im Jahre 1776 den Ruf an, den er als Generalsuperintendent und Oberhofprediger nach Weimar erhielt. Das hatte ihm Freund Goethe besorgt, nicht ohne dass auch er große Schwierigkeiten zu überwinden gehabt hätte. Die 150 Geistlichen des Ländchens murrten gegen das neumodische Haupt, das ihnen gesetzt werden sollte, und Goethe, der eben jetzt in wildestem Saus und Braus mit dem jungen Herzog Karl August lebte, war am Ende auch nicht der berufene Vormund für die Weimarische Landeskirche. „Die Geistlichen sind alle verschrobene Kerls", schrieb er an Herder, aber er hat sie mit „Hetzpeitschen" zusammengetrieben und begrüßt den Einzug des Freundes in Weimar mit dem sinnigen Verse:


Es uns auch allen herzlich frommt,

Dass ihr bald mit der Peitsche kommt -

Und wie dann unser Herr und Christ

Auf einem Esel geritten ist,

So werdet ihr in diesen Zeiten

Auf hundertundfünfzig Eseln reiten.


Unter so lustigem Gruße ist der neue Generalsuperintendent, erst einunddreißig Jahre alt, in Weimar eingezogen, das er nicht mehr verlassen sollte.

II.

In Weimar hat Herder noch nahe an dreißig Jahre gelebt: in der ersten Hälfte dieser Zeit, von 1775 bis etwa 1790, in fruchtbarem und regem Schaffen, mit wachsendem Ruhme, so dass er nach Lessings Tode im Jahre 1781 ziemlich ein Jahrzehnt lang als der erste deutsche Schriftsteller gelten konnte, in der zweiten Hälfte, von 1790 bis zu seinem Tode im Jahre 1803, in rasch zunehmender Vereinsamung, verdunkelt durch das Dioskurenpaar Goethe und Schiller, in „grämlicher Verbissenheit", als ein „rechter Griesgram und Neidhart", wie die bürgerlichen Literarhistoriker und selbst Herders eigene Biographen sagen.

In jener ersten Hälfte seiner Weimarer Zeit hat Herder die beiden Werke herausgegeben, die als die Höhepunkte seiner Lebensarbeit gelten dürfen und die weiteste Wirkung gehabt haben: die „Sammlung der Volkslieder" und die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit". Die beiden Bände Volkslieder sind von späteren Herausgebern als „Stimmen der Völker in Liedern" getauft worden, und dieser Titel ist bezeichnender als der ursprüngliche. Wie Herder aus allen möglichen und nicht nur europäischen Sprachen und Dialekten die Volkslieder sammelte und mit feinstem Nachempfinden ins Deutsche übertrug, gab das schönste Zeugnis ab für seinen universalen Geist. Noch weitere Flüge spannte sein Genius dann in seinem großen geschichtsphilosophischen Werke, das den Gang der Geschichte von den natürlichen Bedingungen unseres Planeten bis zur vollkommenen Entfaltung der Humanität, aller dem Menschen gegebenen Anlagen und Kräfte, als eine fortschreitende Entwicklung zu erweisen unternahm. Es war der erste Versuch, eine universelle Kulturgeschichte höchsten Stiles zu schreiben, ein Versuch, der zwar mit untauglichen Mitteln, aber keineswegs am untauglichen Objekt unternommen wurde. Die Hilfsmittel, mit denen Herder arbeiten konnte, reichten bei dem damaligen Zustand der Wissenschaft nicht entfernt aus, um das Ziel zu erreichen, das er sich gesteckt hatte, obgleich er diese Hilfsmittel selbst, soweit sie vorhanden waren, namentlich auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet, in hohem Maße beherrschte. Aber sein mehr ahnender als erkennender Geist feierte seinen schönsten Triumph, indem er zuerst in allgemeinen Zügen den Weg nachwies, von dem jeder große Fortschritt der historischen Wissenschaft bestätigen sollte, dass die Menschheit ihn wirklich gegangen ist und geht.

Man hat Herders Geschichtswerk dadurch herabzusetzen gesucht, dass man gesagt hat, es werde fortwährend durch teleologische Betrachtungen unterbrochen; in der Natur- wie in der Menschengeschichte entdeckte Herder Offenbarungen des allgütigen und allweisen Gottes. Das ist in gewissem Sinne ganz richtig, jedoch nicht in dem Sinne, dass Herder irgendeinen Gott nach willkürlichem Willen die Natur- und Menschengeschichte machen lässt. Er nimmt vielmehr nur da zur göttlichen Offenbarung seine Zuflucht, wo ihm die natürlichen Erklärungsgründe ausgehen, und er nennt das Bewegungsgesetz der Geschichte ein göttliches Gesetz, wie Spinoza seine alleinige Substanz auch Gott nannte. Als nach Lessings Tode der widrige Zank über Lessings Spinozismus entbrannte, schrieb Herder an Gleim: „Gegen Spinoza sagen Sie mir nichts. Ich bin Spinozist, trotz Lessing, und habe mich kindisch gefreut, einen Bruder in Spinoza so unvermutet hier zu finden. Gott hab ihn selig, den guten, braven Theologen; wenn ich Gelegenheit wüsste, sendete ich ihm den philosophischen und theologischen Doktorhut nach." Im Spinozismus war Herder aber nicht nur mit Lessing, sondern auch mit Goethe verbunden, und Goethe hat die „Ideen" Herders mit größtem Jubel begrüßt.

Anders allerdings Kant, der sie scharf kritisierte und die „Abenteuer der Genialität", die er darin zu finden glaubte, mit empfindlicher Schärfe ironisierte. Es sind denn auch besonders die Neukantianer, die mit vornehmer Überlegenheit auf Herder herabzusehen versuchen, und nun gar auf den alternden Herder, der vermessen genug gewesen sei, einen Waffengang mit dem Riesen Kant zu unternehmen. Tatsächlich handelte es sich bei dem Streite zwischen Herder und Kant um ein sehr verwickeltes historisches Problem, und zunächst war es eine Beschränktheit Kants, nicht Herders, wenn Kant bei seinem Mangel an historischem Sinn nicht begriff, was mit Herders „Ideen" geleistet war. Mit seinen beiden bedeutendsten Werken trat Herder überhaupt in einen entschiedenen Gegensatz zu der bürgerlichen Aufklärung, jedoch nicht durch seine, sondern durch ihre Schuld oder mindestens durch ihr Verhängnis, nämlich weil sich ihre Einseitigkeit an seiner Vielseitigkeit ärgerte. Der jämmerliche Spott des armseligen Nicolai über die Volkslieder Herders ist heute freilich abgetan und war es im Grunde schon vor hundert Jahren. Folgenreicher aber und verhängnisvoller war der Widerstand der Aufklärer gegen Herders universale Geschichtsschreibung; selbst Schlosser hat noch in seiner weitverbreiteten „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts" den Historiker Herder in absprechendster Weise behandelt, obgleich Schlosser nach seinen eigenen praktischen Leistungen auf historischem Gebiet nicht den geringsten Anlass hatte, sich über Herder aufzuhalten. Mag man Schlossers moralische Derbheit noch so hoch einschätzen, so kommt man damit nicht über seine moralisierende Flachheit hinweg, die einen großen Rückschritt gegen den großen Wurf der Geschichtsauffassung Herders darstellte.

Viel gescheiter als die Aufklärung wusste sich die Romantik zu Herder zu stellen, das heißt die Romantik in ihrer ersten frischen Zeit, wo sie eine gesunde Reaktion gegen die geistige Verödung des berufenen Aufklärichts war; ohne Herders Volkslieder kein Uhland und kein „Wunderhorn", kein Schlegel und kein Tieck, kein deutscher Shakespeare und kein deutscher Cervantes; ohne Herders „Ideen" kein Schleiermacher und kein Niebuhr. Allerdings fehlte ihnen allen jenes hohe Ideal der Humanität, das Herders Schaffen erfüllte, und in gleich universalem Geiste ist Herders Lebensarbeit erst wieder von Hegel aufgenommen worden. Nichts kennzeichnet so sehr die Bedeutung Herders, als dass ihn weder die Aufklärung mit ihrem Hasse noch die Romantik mit ihrer Liebe umzubringen vermochten, bis die klassische Philosophie dann, was sein Bestes und Eigenstes war, fortzeugend für das deutsche Geistesleben rettete.

Das sollte er selbst aber nicht mehr erleben. Wie seinem Freunde Lessing ist ihm das Dasein in Dunkelheit und Kümmernis erloschen; die beiden Humanen starben, verzweifelnd an der Lösung der großen Aufgabe, an die sie eine ruhmreiche Arbeit gesetzt hatten. Beide sind an dem Elend des deutschen Duodezdespotismus umgekommen, was um so mehr hervorgehoben werden muss, je mehr eine gefällige Geschichtsschreibung diese Tatsache zu verdunkeln sucht, schon an dem Welfen, dem Peiniger Lessings, geschweige denn an dem Wettiner, dem Peiniger Herders. Es wäre überhaupt einmal an der Zeit, mit dem kritischen Kehrbesen die rosenroten Spinnweben wegzufegen, die künstlich um die „großen Tage" von Weimar gewoben worden sind, namentlich auch deshalb, weil die Reflexe, die aus dieser traurigen Kleinstaaterei und Kleinstädterei in die Werke Goethes und Schillers gefallen sind, von dem biederen Philister als die eigentlichen Lichtpunkte in dem Geistesleben dieser Männer bewundert zu werden pflegen. Indessen ist es hier nur möglich, mit einigen Andeutungen auf das „Zerwürfnis" einzugehen, das Herder mit dem Herzog Karl August sowie mit Goethe und Schiller gehabt hat und das immer wieder gegen ihn ausgespielt wird.

Wie schon in Bückeburg, so wurde Herder auch in Weimar mit den kleinlichsten Plackereien von Amts wegen überhäuft. Er fand sich damit ab, so gut es ging, und blieb lange in enger Geistesgemeinschaft mit Goethe verbunden. Besonders liebenswürdig tritt Herders humaner Sinn in seiner unbefangenen Stellung zu Christiane Vulpius hervor, der kleinen Arbeiterin aus der Blumenfabrik des Musäus, mit der Goethe seine Gewissensehe schloss; hierin unterschied sich Herder sehr zu seinem Vorteil von Schiller, der und dessen Gattin, die gefeierte „edle" Lotte, viel dazu beigetragen haben, das Andenken jenes proletarischen Dirnchens, das schließlich für das Leben des Olympiers mehr bedeutete als alle adligen oder bürgerlichen Frauenzimmer, die er geliebt oder mit denen er geliebelt hat, unter wüstem Klatsche zu ersticken. Wie Goethe, wenn er verreiste, sein „Erotikon" unter den Schutz des Herderschen Hauses stellte, und wie Herder und seine Frau der Pflicht gastfreundlicher Fürsorge genügten, gehört zu den anmutigsten Zügen in Goethes und Herders Leben.

Der erste Riss in ihr schönes Verhältnis kam durch die Französische Revolution, zu der sich Herder viel freier stellte als Goethe und namentlich der Herzog Karl August. In diesem erwachte der ganze groteske Souveränitätsdünkel des Duodezdespoten, als in den Predigten seines Generalsuperintendenten ein Widerhall der mächtigen Bewegung von jenseits des Rheins laut wurde, und nach Art solcher Winkeltyrannen rächte er sich dadurch, dass er seine feierlich übernommene Verpflichtung vergaß, für Herders Kinder zu sorgen. Als darauf Herders Gattin, eine etwas cholerische Dame, an Goethe etwa in dem Sinne schrieb: Karl August soll sein Wort halten, oder ihn soll der Teufel holen, antwortete ihr nicht der Dichter und auch nicht der Freund, sondern der Hofmann: „Es ist bequemer, im extremen Augenblick auf Schuldigkeit zu pochen, als durch eine Reihe von Leben und Betragen das zu erhalten, wofür wir doch einmal dankbar sein müssen." Immerhin erinnerte Goethe den Herzog an dessen Versprechen, das er nun unter anderem dadurch einlöste, dass er einem Sohne Herders die Pachtung eines Gutes im Weimarischen überlassen wollte, jedoch nur unter der Bedingung, dass der junge Herder die Witwe des bisherigen Pächters heirate. Auf diese entwürdigende Bedingung gingen die Herders nicht ein, und der junge Herder kaufte ein Gut im Bayrischen, um alsbald nach dem Kaufe zu erfahren, dass es ein Privilegium bayrischer Edelleute gebe, wonach sie jedem Bürgerlichen, der adelige Güter in Bayern ankaufe, während des ersten Jahres das erkaufte Gut für denselben Preis abnehmen durften. Da ein bayrischer Junker sich sofort daranmachte, mit diesem Privilegium den jungen Herder wieder zu vertreiben, so entschloss sich Herder, um den bayrischen Adel einzukommen. Er tat den für einen alten Adelsfeind peinlichen Schritt mit aller unter diesen Umständen nur möglichen Würde und ließ sich in dem Diplom ausdrücklich bescheinigen, dass er nur wegen jenes junkerlichen Privilegiums den Adel nachgesucht habe. Darüber bekam der Duodezdespot in Karl August wieder einen verrückten Anfall; er wollte zeigen, dass er „Herr in seinem Lande" sei, weigerte sich, Herders Adel anzuerkennen, ließ dafür auf eigene, allerhöchste Kosten einen Adelsbrief für Schiller aus Wien verschreiben und diese Tatsache, zur Beschämung für Herder, mit Pauken und Trompeten in dem Weltreich Weimar bekanntmachen.

Das ist so eine Szene aus dem Satyrspiel, das den „goldenen Tagen" von Weimar nicht nachhinkte, sondern mitten durch sie lief. Herder spielt darin immerhin nicht die schlechteste Rolle. Und es hing auch mit der Universalität seines Geistes zusammen, wenn er der rein ästhetischen Kultur, die Goethe und Schiller in ihrem gemeinsamen Wirken pflegten, kritisch gegenüberstand. Dass er dann weit übers Ziel hinausschoss, seine eigenen Anfänge vergaß, zu den Gleim und Kleist, den Lieblingsdichtern seiner trostlosen Jugend, zurückkehrte und mit dem alten Gleim über das Verschwinden der „guten alten Zeit" klagte, ist richtig: allein die Sache hatte einen anderen Zusammenhang als Griesgrämigkeit über seinen „edlen Fürsten" oder Neid auf seinen „großen Freund" oder Eifersucht auf „überlegene Geister".

Auch gegen Kant hat Herder nie die Dankbarkeit vergessen, die er einem alten Lehrer schuldete; noch in seinen späteren Lebensjahren hat er ein glänzendes Bild von Kants Persönlichkeit entworfen. Wenn er aber sein großes Tagewerk mit einer heftigen Polemik gegen die Kantische Philosophie beschloss3 und sich dabei arge Blößen gab, vom Standpunkt des methodischen Denkens aus, so lagen hier Gegensätze vor, denen man nicht entfernt gerecht wird, wenn man die Polemik Herders gegen Kant in Bausch und Bogen verurteilt, wie es heutzutage hergebracht ist. Etwas Wahres mag wohl an dem sein, was Heine in seiner witzigen Weise schreibt: „Es ist rührend, wenn man in Herders hinterlassenen Briefen liest, wie der arme Herder seine liebe Not hatte mit den Kandidaten der Theologie, die, nachdem sie in Jena studiert, zu ihm nach Weimar kamen, um als protestantische Prediger examiniert zu werden. Über Christus, den Sohn, wagte er sie im Examen gar nicht mehr zu befragen; er war froh genug, wenn man ihm nur die Existenz des Vaters zugestand." Jedoch diese jungen Kandidaten der Theologie kamen aus der Schule Reinholds, der als begeisterter Apostel Kants von dem Katheder in Jena predigte, nach hundert Jahren werde Kant dieselbe Reputation haben wie Jesus Christus, was sicherlich eine sehr kritische Auffassung des Kritizismus war. Derartige Kopfsprünge mögen denn auch den Generalsuperintendenten in Herder gereizt haben; im Wesen der Sache muss man aber sagen, dass Herders spinozistische Weltreligion sich heftig abgestoßen fühlen musste von der Art, wie Kant den lieben Gott durch die Vordertür der reinen Vernunft hinauswarf, um ihn durch die Hintertür der praktischen Vernunft wieder hineinzuschmuggeln, ebenso wie Kants echte Philisterweisheit von dem radikal Bösen der Menschennatur dem weltfreudigen Humanismus Herders ins Gesicht schlug. In solchen Fragen ist Herder der Vorläufer Hegels gewesen, und sein geistiges Erbe hat sich für die moderne Bildung als bedeutsamer und fruchtbarer erwiesen als das geistige Erbe Kants.

Will man Verdienst und Verfehlen Herders in einem Satze zusammenfassen, so vertrat er das Prinzip der historischen Entwicklung in einer Zeit, deren Aufgabe darin bestand, die historischen Trümmer einer überlebten Vergangenheit niederzureißen. Er gehörte zur bürgerlichen Aufklärung, aber wie ihr böses Gewissen; er besaß gerade die Fähigkeiten, die sie nicht hatte und auch, nicht haben konnte, aber die sie hätte haben müssen, um zu siegen. Deshalb ist Herder allen einseitigen Verstandesaufklärern immer zuwider gewesen, von Kant bis auf David Strauß. Allein was ihn diesen widrig machte, das macht ihn uns wert. Es wäre ebenso verfehlt, wenn auch keineswegs verfehlter, auf Herder zurückzugehen als auf Kant, aber es ist notwendig, ihm den gebührenden Ehrenplatz zu sichern in der Ahnenreihe der Männer, die uns das Verständnis des historischen Lebens erschlossen und damit ermöglicht haben, alle Schätze jener Humanität zu heben, die ihnen einst als leuchtendes Ideal vorschwebte.

2 Kantonspflicht – Militärdienstpflicht in einem bestimmten Aushebungsbezirk, aus dem jedes Regiment seinen Bestand ergänzte.

3 Mehring meint Herders „Kalligone" (1800), der er mit seinen Bemerkungen nicht gerecht wird.

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