Franz Mehring 19090820 Johann Joachim Winckelmann

Franz Mehring: Johann Joachim Winckelmann

20. August 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 747-759. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 12-28]

Unter den großen Schriftstellern unserer klassischen Zeit hat keiner so schnell und so unbestritten einen europäischen Namen erworben wie Winckelmann, aber keiner ist auch so schnell vergessen worden wie er. An ihm hat sich nicht das Wort erfüllt, dass die Kärrner zu tun haben, wenn die Könige bauen; seine Werke sind noch niemals mit „philologischer Akribie" durchmustert und mit „gelehrtem Apparat" ausgestattet worden; die buchhändlerische Betriebsamkeit, die alle möglichen und auch alle unmöglichen Autoren unserer klassischen und romantischen Zeit in wohlfeilen Ausgaben auf den Markt wirft, hat sich ihrer noch [nicht] bemächtigt; nur auf antiquarischem Wege kann man sie noch auftreiben, und selbst das nicht ohne einige Mühe. Sogar in der Zeit, wo er noch mehr war als ein bloßer Name, ist Winckelmann wenig gelesen worden; die 1200 Exemplare, die im Jahre 1764 von seinem Hauptwerk abgezogen wurden, waren im Jahre 1824 noch nicht einmal abgesetzt.

Freilich, einen Vorzug hat er vor den anderen großen Klassikern gehabt: er hat in Justi einen Biographen gefunden, der viel mehr als Kärrnerwerk geschaffen hat; unter dem Titel „Winckelmann und seine Zeitgenossen" erschienen, überragt diese Lebensbeschreibung als ein im großen Stile entworfenes Zeitbild wohl alle unsere Klassikerbiographien. Leicht zu lesen sind die drei umfangreichen Bände aber nicht, und so haben auch sie nur eine spärliche Verbreitung gefunden; vor ziemlich vierzig Jahren zum ersten mal erschienen, haben sie zwanzig Jahre gebraucht, um eine zweite Auflage zu erleben, die leider keine verbesserte geworden ist1; es ist in ihr manches gestrichen worden, was sich als achtbare bürgerliche Ideologie von den sozialen Tendenzen der bürgerlichen Literaturhistorie abhob, so namentlich die kräftigen Sätze: „Wir lieben die, welche den Despotismus unter jeder Gestalt hassen, auch den notwendigen, auch den heilsamen und aufgeklärten Despotismus. Wir ziehen sie sogar denen vor, welche auf den beschränkten und parteiischen Zorn des achtzehnten Jahrhunderts in ihrer überlegenen, historischen Einsicht lächelnd herabsehen, welche geschichtlichen Sinn und sympathischen Respekt haben für alle glücklichen Verbrecher, für alle Scheiterhaufen und Staatsstreiche der Vergangenheit, und welche nur die ewigen Ideen des Rechtes, der Aufklärung und der Humanität für Phrase halten und nur für das Verlangen der Völker nach politischer Freiheit keinen Sinn haben." In der Burg der bürgerlichen Gelehrsamkeit frisst der Byzantinismus so unaufhaltsam um sich wie der Mauerschwamm.

Jedoch ist es nicht unsere Absicht, hier bei den Schwächen des verdienstvollen Werkes zu verweilen, das trotz alledem – nächst Winckelmanns Briefen und Schriften selbst – die weitaus lauterste Quelle bleibt, um den Mann kennenzulernen. Justi steht noch unendlich hoch über den Historikern, die nach ihm über Winckelmann geschrieben haben, über dem gepriesenen Scherer, der aus Winckelmann gar ein Produkt des Borussentums machen will2, oder über Herrn Eduard Engel, der an Winckelmann jeden Versuch scheitern sieht, den Menschen aus seinen Lebensbedingungen zu erklären, und der es nur staunend als ein Wunder der Menschengeschichte hinnehmen will, wie aus dem Stendaler Schuhflickersohn der erste große Kunstlehrer Deutschlands hat werden können.3

Worauf es uns hier ankommt, ist allein, in einigen kräftigen Strichen das Bild Winckelmanns zu zeichnen, wie es unsere klassische Literatur erhellt, gerade in ihren Lebensbedingungen.

I.

Johann Joachim Winckelmann wurde als Sohn eines armen Schuhmachermeisters am 9. Dezember 1717 in Stendal geboren. Die im Mittelalter reiche Stadt war durch den Dreißigjährigen Krieg völlig verwüstet, aber in ihren Kirchen und Toren hatte sie sich herrliche Denkmäler erhalten, an denen sich wohl das erste Kunstverständnis des heranwachsenden Knaben hätte bilden können; der Stendaler Dom gilt als die reichste Schöpfung der kirchlichen Architektur, die das späte Mittelalter im nördlichen Deutschland geschaffen hat, und so auch ist das Uenglinger Tor in Stendal eine Perle des Profanbaus in den baltischen Ländern. Dafür hat Winckelmann aber nie ein Auge gehabt; noch auf der Höhe seines Ruhmes spottete er über einen englischen Kunstrichter, der „keine Unze Geschmack" habe, weil er die gotische Baukunst der alten Kirchen in England der griechischen Baukunst vorziehe, und trotz all seines Hasses gegen die märkischen Pfaffen hätte Winckelmann schwerlich viel dagegen einzuwenden gehabt, als – noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts – der Generalsuperintendent der Altmark den Stendaler Dom seiner mittelalterlichen Kunstschätze entleerte, um sie als altes Eisen an die Schutzjuden Heinemann und Levi zu verkaufen für die respektable Summe von 340 Talern. Dieselbe Gleichgültigkeit, ja Abneigung gegen die mittelalterliche Kunst können wir an Lessing beobachten; sie lag eben in den „Lebensbedingungen" der Zeit.

Diese „Lebensbedingungen" wiesen die aufstrebenden Geister nicht ins Mittelalter, sondern in die Antike.4 Wie die meisten unserer Klassiker, kam Winckelmann aus kleinbürgerlichen Kreisen. Wenn er sich als Sohn eines armen Handwerkers aus den erdrückenden Fesseln der verkommenen Zunft befreien wollte, so war ihm sein Weg von vornherein gewiesen: auf der lateinischen Schule Kurrendesingen, Freitische, Helfersdienste bei einem Lehrer oder Geistlichen, auf der Universität theologisches Studium von wegen der zahlreichen Stipendien, dann einige Jahre Hauslehrer und endlich eine Hungerstelle als Rektor oder Pastor. Diese zünftige Theologie war im Grunde dieselbe Tretmühle wie das zünftige Handwerk, aber das Studium der Theologie erheischte die Kenntnis der alten Sprachen und bot geweckten Köpfen die Möglichkeit, den Gipfel jener „Humanität" zu erklimmen, die das Ideal unserer klassischen Literatur war.

Diese „Humanität" des achtzehnten erinnert nicht nur durch den äußeren Wortklang an den „Humanismus" des sechzehnten Jahrhunderts. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges musste, sobald die langsame Wiederherstellung des Landes auch zu einem langsamen Wiedererwachen der geistigen Bildung führte, wieder da angeknüpft werden, wo die geistige Entwicklung der Nation zerrissen worden war. Was die Kenntnis und das Studium der antiken und namentlich der griechischen Literatur für alle unsere Klassiker bedeutet haben, ist bekannt genug. Aber für keinen haben sie so viel bedeutet wie für Winckelmann, und Justi hat schon mit Recht darauf hingewiesen, wie sehr er in Art und Unart ein Spätling der Humanisten gewesen sei. Wie er sich in das Altertum bis in die kleinsten Einzelheiten einlebt, wie er gleich dem Erasmus aus den antiken Schriftstellern Ausdrücke und Bilder, Sentenzen und Sprüche sammelt, um damit seine Rede zu schmücken, wie er in unsteter Wanderlust immer auf der Landstraße liegt und schon früh nach Griechenland und Italien trachtet, wie er von schrankenlosem Selbstgefühl beseelt ist und doch den gefälligen Cicerone von Despoten und Junkern macht, wie er die Tyrannenmörder des Altertums preist und doch zu den Grafen und Kardinälen, in deren Häusern er lebt, als zu „hohen Gönnern kaum hinaufzublicken" wagt, wie er in „wahrem Galimathias" zu ihnen spricht – nach den Worten des in solchen Sachen auch gerade nicht peniblen Goethe –, wie er vollständig gleichgültig gegen jedes religiöse Dogma ist und dennoch in die alleinseligmachende Kirche flüchtet – alles das und manches andere noch erinnert lebhaft an die Humanisten des sechzehnten Jahrhunderts.

Soweit sich Winckelmann darin von unseren anderen Klassikern unterscheidet, ergibt sich der Grund des Unterschieds daraus, dass keinem von ihnen das Unglück beschieden gewesen ist, die ersten dreißig Jahre seines Lebens in der Altmark zu hausen, der „Wiege des Hohenzollernstaats", womit im Grunde schon alles gesagt ist. Den Ruf, den die Mark Brandenburg im sechzehnten Jahrhundert besaß, hatte sie sich im achtzehnten Jahrhundert bewahrt, dank der Hohenzollernherrschaft: nämlich die barbarischste und geistig verwahrloseste Landschaft in Deutschland zu sein. Winckelmann entbehrte hier jeder anderen Möglichkeit, geistig zu atmen, als dass er sich völlig in das antike Leben vergrub; er musste ewig auf der Landstraße liegen, wenn er da einen Brocken Griechisch oder dort einen alten Lateiner auftreiben wollte; er musste sich unter das Joch eines eisernen Despotismus fügen, wenn er leiblich leben, und er musste sich mit einem starken Selbstbewusstsein durchdringen, wenn er geistig dabei bestehen wollte; die bösartigen Verfolgungen der protestantischen Pfaffen mussten ihn mit Ekel vor jedem religiösen Dogma erfüllen, und doch konnte er nur aus dem Nothafen der katholischen Kirche auf die hohe See des Lebens gelangen.

Zu diesen allgemeinen Lebensbedingungen kam aber noch ein persönlicher Umstand, der aus Winckelmann den „Griechen" unter unseren Klassikern gemacht hat. Die bürgerlichen Literarhistoriker pflegen darüber zu schweigen; nur Justi spricht offen davon, aber auch nicht erschöpfend. Er meint: „Winckelmann hatte auch etwas von ihrer (der Humanisten) Leichtigkeit der Sitten, und neben der Geringschätzung der Weiber, die den Humanisten vorgeworfen wurde, stand der bald platonisierende, bald sinnlich gefärbte Freundschaftskultus." Dieser „Freundschaftskultus" Winckelmanns erinnerte doch weit mehr an altgriechische als an humanistische Sitten, und er hat auch Winkelmanns öffentliches Wirken stark beeinflusst, selbst wenn man davon absehen will, wie dieser Kultus sein Gemütsleben verwirrt und ihn endlich in einen hässlichen Tod verstrickt hat.

Trotz aller erdrückenden Umstände hatte sich Winckelmann emporgearbeitet, mit einer Energie und einer Zähigkeit, die nicht leicht ihresgleichen gefunden haben mögen. Schon auf der Universität begann er seine eigenen Wege zu gehen; die akademische Speise blieb ihm, wie er selbst sagt, in den Zähnen hängen, und er bekam mit sehr großer Not ein sehr kahles Theologenzeugnis. Im Jahre 1743 wurde er Konrektor in Seehausen, einem altmärkischen Städtchen, mit einem Jahresgehalt von 120 Talern. In dieser Stellung hat er die fünf trübsten Jahre seines Lebens verbracht, bis aufs Blut gequält von einem boshaften Pfaffen, der ihn zwang, den Elementarunterricht an der Schule zu erteilen; „ich ließ Kinder mit grindigten Köpfen das Abc lesen, während ich sehnlich wünschte, zur Kenntnis des Schönen zu gelangen, und Gleichnisse aus dem Homer betete." Nach der Sklavenarbeit des Tages lud Winckelmann in der Nacht seine Alten zu sich; einen ganzen Winter hindurch ist er mit keinem Fuß ins Bett gekommen; um Mitternacht löschte er seine Lampe und schlief bis vier Uhr auf dem Stuhle, um sie dann wieder anzuzünden und von neuem in seiner engen, kahlen, eiskalten Mönchszelle zu studieren. Im Sommer soll er sich auf eine Bank gelegt haben, mit einem an die Füße gebundenen Klotze, der ihn bei der geringsten Bewegung durch Herunterfallen weckte.

Seine massenhaften Kollektaneen5 aus dieser Zeit zeigen sowohl die unglaubliche Beschränktheit seiner gelehrten Hilfsmittel wie die unglaubliche Masse der Kenntnisse, die er dennoch zu sammeln wusste. Aber es war ihm noch ein völlig totes Wissen, von keinem Strahl eines großen Lebensziels erleuchtet; in diesen elenden Zuständen musste auch der reichste Geist auf die Dauer zerstört werden.

Endlich im Jahre 1748 geläng es ihm, eine Bibliothekarstelle bei dem sächsischen Grafen Bünau zu erhalten. Es war eine kümmerliche Zuflucht, in materieller Beziehung noch kümmerlicher als das Konrektorat in Seehausen. Aber aufjauchzend verließ Winckelmann die „Wiege des Hohenzollernstaats", und noch lange Jahre später schauderte ihn die Haut vom Haupt bis zu den Zehen, wenn er an den preußischen Despotismus und den Schinder der Völker dachte, der das von der Natur selbst vermaledeite und mit libyschem Sande bedeckte Land zum Abscheu der Menschen machen und mit ewigem Fluche bedecken werde.

II.

Graf Bünau war ein sächsischer Edelmann, der sich von seinen Klassengenossen durch wissenschaftliche Interessen unterschied, eine umfangreiche Bibliothek gesammelt hatte und an einer deutschen Kaiser- und Reichshistorie arbeitete, von der vier Bände bereits erschienen waren, als Winckelmann in seine Dienste trat. Sie reichten bis zum Jahre 918. Für die späteren Bände, die niemals veröffentlicht worden sind, sondern noch im Staube der Dresdner Bibliothek ruhen, hat Winckelmann sechs Jahre lang durch umfassende Auszüge aus den Quellenschriften, Kontrolle der Zitate, Feile des Stils usw. all die mühselige und zeitraubende Arbeit geleistet, die einem vornehmen Herrn nicht ansteht, so gern er ihre Früchte genießen mag.

Dabei war Bünau immerhin ein gebildeter Mann, der seinen Bibliothekar nicht quälte und unterdrückte, wie Winckelmann von dem märkischen Pfaffen gequält und unterdrückt worden war. Bünau blieb ihm, was man einen wohlwollenden Gönner nennen mag, wie viel oder wie wenig das sagen wollte; Goethe hat später bitter genug gemeint, Bünau hätte nur ein bedeutendes Buch weniger für seine Bibliothek kaufen brauchen, um für Winckelmann den Weg nach Rom zu eröffnen. Allein wie dem immer sei – Bünau stellte das Licht seines neuen Bibliothekars nicht unter den Scheffel; Winckelmann begann in Dresden, damals der gebildetsten Stadt Deutschlands, einen wissenschaftlichen Ruf zu gewinnen. Dazu bot ihm die Bibliothek des Grafen nunmehr in Fülle die Werkzeuge wissenschaftlicher Forschung, die er bisher nur so schwer und so unzulänglich hatte erreichen können, und – was noch viel wichtiger, ja für Winckelmanns Zukunft entscheidend war – er lernte in der Bibliothek Bünaus die neuere Literatur der Engländer und Franzosen kennen. Er las und studierte Addison, Bolingbroke, Shaftesbury, er las und studierte Montaigne, Montesquieu, Voltaire; er sammelte aus ihnen nicht nur Lesefrüchte, sondern gewann durch sie lebendigen Zusammenhang mit den treibenden Kräften der Zeit; die Fortschritte, die die bürgerliche Aufklärung in der historischen Auffassung machte, prägten sich seinem Geist um so tiefer ein, je mehr ihn die Beschäftigung mit den mittelalterlichen Chroniken und Heiligengeschichten im Dienst an dem Geschichtswerke Bünaus ermüdete. Wenn Lessing in Diderot den Mann sah, der seinem ganzen Denken eine andere Richtung gegeben habe, so kann man für Winckelmann das gleiche von Montesquieu sagen.

Unter dem Einfluss der Montesquieu und Voltaire wollte sich Winckelmann nun der historischen Forschung widmen. Und zwar gedachte er wegen der engen Fesseln, die die sächsische Zensur der geschichtlichen Darstellung moderner Zustände anlegte, an eine Reihe von Vorträgen, die er einer geschlossenen Gesellschaft halten wollte. Er schrieb im Januar 1755: „Unterdessen ist mir ein Strahl von Hoffnung aufgegangen. Mein gutes Glück hat mir einen zuverlässigen Weg gezeigt, einen mir gleich anfänglich anständigen und allmählich reichlichen Unterhalt zu verschaffen." Aber der Plan scheiterte an der „Schläfrigkeit" des für ernste Unterhaltung wenig empfänglichen Dresdener Publikums.

Statt den „Helden und Prinzen die Larven abzuziehen", wie Winckelmann es in seinen historischen Vorlesungen zu tun beabsichtigte, blieb ihm als einzige Möglichkeit, aus der Misere subalterner Arbeit herauszukommen, die Hoffnung auf den Dresdener Hof. Jedoch wer darauf rechnete, musste „wo nicht Italien, doch wenigstens Frankreich gesehen haben, vorausgesetzt, dass er plaudern kann und ein Air hat. Das andere hilft nichts." Unwiderstehlicher denn je erwachte in Winckelmann die Reiselust. Sein Unglück, meinte er, sei der Mangel an Form und an Fertigkeit, sich in ein paar fremden Sprachen auszudrücken. „Kein Glück sehe ich vor mir, keine Retraite ist mir mehr übrig. Mein Brot kann ich, wenn der Graf sterben sollte, auf keine anständige Weise verdienen, da ich keine einzige fremde Sprache reden kann; einen Schuldienst mag ich nicht, zur Universität tauge ich nicht; mein Griechisch gilt auch nirgends. Meiner Gesundheit ist nicht anders zu helfen als durch eine Veränderung."

In dieser verzweifelten Stimmung traf ihn die Lockung, durch den Übertritt zum Katholizismus sich zu retten. Der Dresdener Hof war wegen der polnischen Königskrone katholisch geworden und hatte seine Freude an jedem Konvertiten, den er in dem starr protestantischen Lande gewann. Dennoch hätte Winckelmann schwerlich über sich vermocht, sich anzubieten: es fügte sich, dass er nicht zu werben brauchte, sondern umworben wurde. Der päpstliche Nuntius am Dresdener Hofe, ein Graf Archinto, sehnte sich in seine italienische Heimat zurück, wo ihn der Kardinalshut und selbst noch höhere Ehren erwarteten; er brachte es zum päpstlichen Staatssekretär, und bei dem einzigen Konklave, das er noch erlebte, fiel eine namhafte Anzahl Stimmen auf ihn. Er wollte nun gern mit einem namhaften Konvertiten heimkehren und warf sein Auge auf Winckelmann, den „großen Griechen", den er bei seinen Besuchen in der Bibliothek des Grafen Bünau kennengelernt hatte. Er wusste um Winckelmanns Sehnsucht nach Rom und nützte sie für seine Proselytenmacherei aus, wobei er den Religionswechsel durchaus in weltmännischem Sinne behandelte, als ein Mittel, nach Rom zu gelangen und in Rom überall offene Türen zu finden. Unterstützt wurden diese Bemühungen durch den Beichtvater des Königs, den Jesuitenpater Rauch, der in der Tat, wie die spätere Zeit zeigte, eine aufrichtige persönliche Freundschaft für Winckelmann gewonnen hatte.

Gleichwohl sträubte sich Winckelmann mehrere Jahre. Er war längst fertig mit aller Religion und meinte wohl, um nach Griechenland zu gelangen, würde er selbst Priester der Kybele werden. Aber der Mensch reißt sich aus den „Lebensbedingungen" von Jahrzehnten schwer heraus; selbst noch in seinen römischen Tagen, als er in vollen Zügen das Glück genoss, das ihm sein Übertritt verschafft hatte, hat sich Winckelmann ein protestantisches Gesangbuch aus der Heimat kommen lassen, um die altgewohnten Kirchenlieder anzustimmen, wenn er vom Dache der Villa Albani die Morgensonne grüßte.

Ein Glück für ihn, dass jenes protestantische Pfaffentum, das ihm jahrzehntelang das Leben vergällt hatte, sich selbst getreu blieb. Nach jahrelangem Schwanken hatte sich Winckelmann endlich entschlossen, in der protestantischen Kirche auszuharren; zum Zeichen des wollte er das Abendmahl nach protestantischem Ritus nehmen und bat nur den Geistlichen, kein Aufhebens davon zu machen, was der teure Gottesmann auch versprach. Aber am Schluss seiner Predigt begann er vor versammelter Gemeinde für ein „verirrtes Schaf" zu plärren, „das zur katholischen Kirche übergehen wollte, nun aber zur wahren Kirche zurückzukehren und seine Rückkehr öffentlich beim heiligen Abendmahl zu bezeugen gesonnen sei". Worauf Winckelmann den wortbrüchigen Pfaffen verblüffte, indem er stracks die Kirche verließ und sich zum Nuntius begab, in dessen Hände er sich zur römischen Kirche bekannte.

Es war die rettende Wendung seines Lebens. Diesen Klassiker verdankt die deutsche Literatur nicht der berühmten „protestantischen Geistesfreiheit", sondern dem Jesuitenpater Rauch, dem Nuntius Archinto, den Kardinälen Passionel und Albani, den Päpsten Benedikt XIV. und Klemens XIII. Sie alle haben, wie belastet ihr Sündenkonto sonst sein mag, sich niemals nach dem Vorbild der protestantischen Pfaffen dazu erniedrigt, den „großen Griechen" in den Dienst kirchlicher Ausbeutungs- und Verdummungszwecke zu spannen; sie haben wenigstens ehrlich das Versprechen gehalten, durch das sie ihn in ihre Kirche gelockt hatten; sie haben ihm die Möglichkeit geschaffen, sich nach seinen Gaben auszuleben.

III.

Nach seinem Übertritt zum Katholizismus gab Winckelmann seinen Dienst beim Grafen Bünau auf und rüstete sich zur römischen Reise, vor allem durch die erste Schrift, die der nun schon achtunddreißigjährige Mann herausgab, durch die „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst", womit er ein für ihn völlig neues Gebiet betrat.

Es ist ein Grundirrtum der bürgerlichen Literaturgeschichte, in Winckelmann das ästhetische Genie, den genialen Kunstlehrer zu sehen, der von Gottes Gnaden erschaffen worden sei. Von seinen altmärkischen Anfängen ganz zu geschweigen, so ist er selbst an den Kunstschätzen Dresdens, das in der Kunstpflege allen deutschen Städte voranleuchtete, lange Jahre vorübergegangen, ohne von ihnen tiefer berührt zu werden. Freilich war das Gebiet der Kunst, womit sein Name für immer verknüpft werden sollte, die antike Skulptur, ihm auch in Dresden noch unzugänglich, denn die bedeutende Antikensammlung, die die sächsischen Könige erworben hatten, war zu Winckelmanns Zeit und noch lange über sie hinaus bis auf wenige Stücke in einem Schuppen verpackt. Aber an Schätzen der Architektur und Malerei war Dresden überreich, und für diese Zweige der Kunst hat Winckelmann immer nur geringes Verständnis gehabt.

Bezeichnend genug ist die Entstehung seiner ersten Schrift. Der sächsische König hatte im Jahre 1754 ein Meisterwerk Raffaels, die Sixtinische Madonna, in Piacenza ankaufen lassen. Drei Tage ging Winckelmann in die Galerie, um das vielgepriesene Gemälde zu studieren, und immer konnte er nicht finden, worin seine Schönheiten beständen; die Kunst der Renaissance war ihm ebenso verschlossen wie die Kunst des Mittelalters. Da klärte ihn der Maler Öser darüber auf, und aus ihren Gesprächen über bildende Kunst entstand Winckelmanns erste Schrift.

Adam Friedrich Öser war ein geborener Österreicher, ein Altersgenosse Winckelmanns, kein hervorragender Künstler, nicht einmal, nach Goethes Urteil, auf dessen künstlerische Entwicklung Öser gleichfalls den stärksten Einfluss gehabt hat, ein „vorzügliches Talent zum Unterricht", eine jener Naturen, die ihr Leben in einer bequemen Geschäftigkeit hin träumen, aber dabei sehr gescheit und weltklug sind und sich durch eine glückliche Gewandtheit des Geistes in höherem Sinne recht eigentlich zum Lehrer qualifizieren. Goethe nannte ihn einen „abgesagten Feind des Schnörkel-und Muschelwesens und des ganzen barocken Geschmacks"; eben diese Feindschaft brachte ihn in scharfen Gegensatz zu dem Barock- und Rokokostil, der in Dresden noch immer vorherrschte, und führte ihn auf die Antike zurück; die Statuen der Alten blieben für Öser Grund und Gipfel aller Kunstkenntnis.

Er selbst hat nie eine Zeile geschrieben, aber viele seiner Anschauungen spiegeln sich in Winckelmanns erster Schrift wider. Darunter manche persönlichen Launen und Schrullen, worauf schon Schlegel hingewiesen hat: „Was bewunderte Winckelmann nicht alles nach Anleitung dieses Lehrers! Die manieriertesten Erzeugnisse der jüngst vergangenen Zeit, die nun schon in Vergessenheit geraten sind." Hierauf näher einzugehen würde an dieser Stelle zu weit führen, zumal da Winckelmann manches davon bald überwunden hat. Es mag genügen, auf seine Vorliebe für die Allegorie, die er leider nie losgeworden ist, als böses Erbteil Ösers hinzuweisen, der von seinen Bewunderern als „erster allegorischer Maler" der Zeit gefeiert wurde. Aber auch im Besseren und Guten geht die Erstlingsschrift Winckelmanns auf Öser zurück: in den Ausfällen gegen die „Schnörkel und das allerliebste Muschelwerk" des Barock- und Rokokostils, in der begeisterten Schilderung der Sixtinischen Madonna, in den Ausführungen über die Technik der Skulptur, in der Verherrlichung der antiken Kunst, die nur freilich wieder so einseitig ist, dass sie die „gemeine Natur" unter den „griechischen Kontur" stellt. Dennoch, was dieser Schrift Winckelmanns ihren großen Erfolg und ihre starke Wirkung gab, war durchaus sein Eigenes. Der Satz, dass „der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich sei, unnachahmlich zu werden, die Nachahmung der Griechen sei", war nicht einmal von Öser zuerst, sondern vor ihm auch schon von anderen geäußert worden, so von La Bruyere, der für den einzigen Weg, die Alten zu übertreffen, ihre Nachahmung erklärt hatte. Diesen Satz aufzustellen war also leicht, aber ihn zu beweisen war schwer, und ebendies hat Winckelmann in seiner Schrift übernommen. Was er dabei vor allen deutschen Zeitgenossen voraus hatte, war seine intime Kenntnis des griechischen Altertums und ebenso die historische Methode, die er von Montesquieu gelernt hatte und die er, da er sie auf die politischen und sozialen Zustände der Zeit nicht anwenden konnte, auf die griechische Kunst anwandte. Er behandelte diese Kunst als die Blüte des hellenischen Lebens, wie es sich unter den Einflüssen der Natur auf das griechische Land und Volk gestaltet hatte. Und wenn diese historische Methode damals neue Gesichtspunkte eröffnete, so wusste Winckelmann ihre Ergebnisse in eine Form zu kleiden, die wohl manche Spuren der herkömmlichen dunklen, eingewickelten, schwerfälligen und doch weitschweifigen Gelehrtensprache an sich trug, aber trotz alledem in ihrer klaren und körnigen Kürze, in ihrer Sättigung mit greifbaren Gedanken, in ihrer Freiheit von aller Sprachmengerei, in ihrer, wie Gervinus sich einmal ausdrückt, „sinnlichen Glut" auch ein schlechthin Neues war, das erste klassische Muster moderner Prosa in deutscher Sprache, vier Jahre vor Lessings Literaturbriefen und zwölf Jahre vor Lessings „Laokoon", der an diese „Gedanken" Winckelmanns anknüpfte.

Alles das kam den „Lebensbedingungen" der Zeit entgegen und machte einen tiefen Eindruck auf die Zeitgenossen, viel mehr als der im engeren Sinne des Wortes ästhetische Inhalt der Schrift. Des zum Zeichen waren ihre ersten und feurigsten Lobredner zwei Männer, die, ein paar Menschenalter hindurch, einer nach dem anderen, als die sprichwörtlichen Muster ästhetischen Ungeschmacks gegolten haben: Gottsched und Nicolai.

IV.

Mit dieser Schrift in der Hand eiste der Jesuitenpater Rauch von seinem Beichtkinde, dem sächsischen König, ein jährliches Reisestipendium von 200 Talern für Winckelmann los.

Im Jahre 1755 erfüllte sich nun endlich der sehnliche Wunsch des gequälten Mannes: er ging nach Rom, noch nicht in der Absicht, sich dort dauernd niederzulassen, und nicht einmal in der Absicht, sich dem Studium der Kunstgeschichte zu widmen. Er dachte noch immer an rein philologische Arbeiten, und er blieb zunächst in Rom, weil wenige Monate nach seiner Ankunft der preußische König über Sachsen herfiel und es für sieben Jahre in seine Tasche steckte, den sächsischen Hof aber nach Warschau jagte. Damit war für Winckelmann die Rückkehr nach Sachsen zunächst abgeschnitten und selbst sein Stipendium auf die Dauer fraglich geworden, obgleich Pater Rauch ihn in allen Wirren der Zeit nicht vergaß.

Es ist müßig, darüber zu streiten, ob Winckelmann ohne diesen äußeren Zwang seinen dauernden Aufenthalt in Rom genommen hätte. Jedenfalls vertiefte er sich alsbald in die römischen Kunstschätze; was in Dresden Öser für ihn geworden war, das wurde in Rom Raphael Mengs für ihn, der Hofmaler des sächsischen Königs. Mengs ist heute nicht ganz so vergessen wie Öser, aber es zeugt abermals für Winckelmanns historisch beschränkte Ästhetik, dass er in Mengs nicht nur den „größten Lehrer in seiner Kunst" feierte, sondern auch „den größten Künstler seiner und vielleicht auch der folgenden Zeit", der als ein Phönix gleichsam aus der Asche des ersten Raffael erweckt worden sei, um den höchsten Flug menschlicher Kräfte in der Kunst zu erreichen.

In gleicher Weise auch wie in Dresden gewann Winckelmann in Rom den Boden unter den Füßen: durch seine unvergleichliche Kenntnis des griechischen Altertums, die im damaligen Rom ebenso begehrt wie selten war. Als verbranntes Kind scheute er allerdings das Feuer und hütete sich, die schwer erworbene Freiheit voreilig aufs Spiel zu setzen; er lernte bald mit den schlauen Monsignoren, die ihn um kümmerlichen Lohn in ihre Dienste locken wollten, Zug um Zug zu handeln, mit seinem alten Gönner Archinto wie mit dem Kardinal Passionei, dessen Bibliothek mit der Bibliothek des Grafen Bünau wetteifern konnte, und endlich mit dem Kardinal Albani, in dessen Stadthaus an den Vier Brunnen und in dessen Villa vor der Porta Salaria Winckelmann endlich heimisch wurde als Hausabbate mit einem Monatsgehalt von zehn Skudi und gelegentlichen Geschenken. Daneben brachte er es noch zu mancherlei Würden, sogar zum „Präsidenten aller Altertümer" in Rom, an welchem Amte freilich der pompöse Titel das Beste war.

In den ersten Jahren seines römischen Aufenthaltes schuf nun Winckelmann das Werk, das ihm den dauernden Ehrenplatz in unserer klassischen Literatur gesichert hat, die „Geschichte der Kunst des Altertums". Es war eine Schöpfung ganz aus dem Rohen heraus, die so gut wie gar keine Vorläufer hatte; ein Versuch, an der Hand der antiken Denkmäler, an denen Rom damals noch ungleich reicher war als heute, die Geschichte in erster Reihe der griechischen Kunst nach ihrem Entstehen, Wachsen und Vergehen zu erzählen. Was Lessing an diesem Werke rühmte, die „unermessliche Belesenheit, die ausgebreitetsten, feinsten Kenntnisse der Kunst", das besteht heute noch zu Recht, aber Lessing wurde der Arbeit Winckelmanns nicht einmal gerecht, indem er nur kleine Versehen darin hervorhob, in dem schmeichelhaften Sinn, Winckelmann habe mit der Zuversicht der alten Künstler gearbeitet, die allen ihren Fleiß auf die Hauptsache verwandt und Nebendinge nebensächlich behandelt hätten. Treffender, wohl nicht ohne Hinblick auf Lessings unzulängliche Würdigung, gab Herder den Eindruck des Werkes auf die Zeitgenossen mit den Worten wieder: „Es gehörte Winckelmanns erhabener, kühner, kleine Mängel und Fehler völlig verachtender Genius dazu, an solch ein Werk nur denken, geschweige als Fremdling, nach dem Fleiße einiger weniger Jahre, Hand daran legen zu wollen, und siehe! gewissermaßen hat er's vollendet. In dem Walde von vielleicht 70.000 Büsten und Statuen, den man in Rom zählt, in dem noch verwachsenen Walde betrüglicher Fußtapfen, voll schreiender Stimmen ratender Denker, täuschender Künstler und unwissender Antiquare durch ziemlich lange Zeiten hinunter, endlich in der schrecklichen Einöde alter Nachrichten und Geschichte, da Plinius und Pausanias wie ein paar abgerissene Ufer dastehen, auf denen man weder schwimmen noch ernten kann; in einer solchen Lage der Sachen ringsumher an eine Geschichte der Kunst des Altertums zu denken, die zugleich Lehrgebäude, keine Trümmer, sondern ein lebendiges volkreiches Theben von sieben Pforten sei, durch deren jede Hunderte ziehen: gewiss, das konnte kein Kleinigkeitskrämer, kein Kritiker an der Zeh im Staube." Herder hat denn auch schon mit allem Nachdruck auf die künstlerische Form dieser Kunstgeschichte aufmerksam gemacht; sie sei wie ein Kunstwerk der Alten; jeder Gedanke stehe da, edel, einfältig, erhaben, wie eine Minerva aus Jupiters Haupt dastehe.

Durch solche Stimmen muss man sich die Wirkung von Winckelmanns Hauptwerk auf seine Zeit vergegenwärtigen; wer es heute liest, versteht vor allem, weshalb es vergessener ist als irgendein anderes unserer großen Literaturwerke. Als historisches Werk ist es heute so weit überholt, wie es zu seiner Zeit ein großer Fortschritt war; wir kennen das griechische Altertum und namentlich die griechische Kunst viel genauer als Winckelmann, der griechische Kunstwerke bis auf ganz vereinzelte Stücke niemals gesehen hat, sondern nur römische Kopien. Weit mehr noch als die Fortschritte der historischen Forschung trennen uns von Winckelmann die Fortschritte der historischen Methode. Wie in seiner ersten Schrift folgt er auch in seinem Hauptwerk den Spuren Montesquieus, wenngleich er sie zu verwischen sucht; indem er nach dem französischen Denker den „Einfluss des Himmels (Klimas)" auf die griechische Bildung und Kunst untersucht, bezieht er sich auf vereinzelte Stellen einiger antiker Schriftsteller (Hippokrates, Polybius, Cicero), die schon einen ähnlichen Gedanken geäußert hatten. Dafür könnte es als ein Ersatz erscheinen, dass Winckelmann seinem ungenannten Meister nun auch auf ein Gebiet folgte, das er in seiner ersten Schrift noch nicht betreten hatte, indem er die griechische Kunst als eine Tochter der Freiheit feierte, indem er ihre Wurzeln nicht nur in der griechischen Natur, sondern auch in der griechischen Gesellschaft suchte.

In der Tat erklärte sich Winckelmann in diesen Kapiteln der Kunstgeschichte als Jünger der bürgerlichen Aufklärung. Er spricht von der „Aufklärung der Vernunft, die den Athenern die Süßigkeit einer völligen Freiheit schmecken ließ"; „durch die Freiheit erhob sich, wie ein edler Zweig aus einem gesunden Stamm, das Denken des ganzen Volkes"; die Freiheit schützte die Künstler vor den Launen der Mäzenaten, so dass ihre Ehre und ihr Glück nicht dem „Eigensinn eines unwissenden Stolzes" überantwortet waren. Der endgültige Verfall der Künste scheint ihm mit der Aufrichtung des modernen Fürstenabsolutismus einzusetzen.

Um an diese Behauptung anzuknüpfen, so wird sie objektiv dadurch beleuchtet, dass Michelangelo und Raffael in der Zeit lebten, wo der moderne Fürstenabsolutismus seine ersten Vertreter und seine ersten Verteidiger fand, dass sie Zeitgenossen des Cesare Borgia und des Machiavelli waren, subjektiv dadurch, dass Winckelmann eben in seiner Kunstgeschichte seinen gefeierten Raphael Mengs als „Hofmaler der Könige von Spanien und Polen" preislich herausstreicht. Aber auch was er über die griechische Freiheit als Mutter der griechischen Kunst sagt, ist weiter nichts als ein leeres Spiel mit Worten, ohne alle greifbare Beziehung auf die politischen und sozialen Zustände des alten Griechenlands; es zeigt nur, dass die bürgerliche Aufklärung, die ihm einst in Dresden nahegetreten war, ihm in Rom mehr und mehr zur tönenden Schelle wurde. Er war ihr fremd geworden, wobei es auf eins hinauskommt, ob er mit dem Geklingel von der heilkräftigen Freiheit ihr noch platonisch huldigen oder ob er damit nur die hohen Gönner anärgern wollte, in deren launenhaften Eigensinn er sich oft genug schicken musste.

Unter diesen Umständen kannte er keine historische Entwicklung der griechischen Kunst, so anerkennenswert und epochemachend auch der Anlauf war, den er zu einer solchen Geschichte nahm. Da ihm der innere Zusammenhang der griechischen Geschichte verschlossen blieb und unter der Unzahl antiker Kunstwerke in Rom nur eine äußerst geringe Minderzahl datiert werden konnte, so war Winckelmann rein auf sein ästhetisches Urteil angewiesen, um an der Hand dieser Denkmäler die einzelnen Perioden der griechischen Kunst zu gliedern. Insoweit ist die von Nicolai berichtete Äußerung Lessings, dass Winckelmanns historische Darstellung durchaus auf seichten Stützen beruhe, sehr begreiflich, um so begreiflicher, als Lessing mit Winckelmann über das Alter der Laokoonsgruppe stritt, das Lessing, gestützt auf eine Notiz des Plinius, in die Zeit des römischen Kaiser Titus setzte, Winckelmann aber in die Zeit des mazedonischen Königs Alexander, aus keinem anderen Grunde, als weil ein so vollendetes Kunstwerk in die Zeit der Blüte und nicht in die Zeit des Verfalls gehöre, wobei dann eben vorausgesetzt war, dass die Zeit des Königs Alexander eine Zeit der Blüte und die Zeit des Kaiser Titus eine Zeit des Verfalls gewesen ist. Es kommt natürlich nicht darauf an, ob Lessing den Plinius nicht auch falsch ausgelegt hat; recht hatte er jedenfalls darin, von „seichten Stützen" einer Geschichtsschreibung zu reden, die auf nichts als der ästhetischen Empfindung des Geschichtsschreibers beruhte.

Aber die größte Schwäche von Winckelmanns Werk ist auch wieder seine größte Stärke; in ihrer umfangreicheren Hälfte ist die Kunstgeschichte nicht sowohl eine Geschichte als eine Philosophie der griechischen Kunst, und hier hat der „große Grieche", der die deutsche Sprache mit einer seltenen Meisterschaft handhabte, den antiken Kunstschätzen Roms ihre Geheimnisse abzulauschen und in einer Form zu offenbaren verstanden, die ihrer marmornen Schönheit würdig war. Seine Schilderungen der Laokoonsgruppe, des Apoll von Belvedere, des sogenannten Antinous, des Torso des Herkules usw. sind in ihrer Art klassische Meisterwerke, und wie sie vor allem die Bewunderung der Zeitgenossen gefunden haben, so sind sie heute noch der Teil des Werkes, der fortlebt und fortzuleben verdient. Freilich ist auch dieser Apfel, so rotbäckig er noch aussieht, etwas wurmstichig; es sind immer nur männliche Gestalten, an die Winckelmann seine trunkenen Hymnen richtet; nicht die Aphroditen besingt er, sondern die Ganymede, und die „sinnliche Glut" seiner Sprache ist hier anderer Art, als sie Gervinus an seiner ersten Schrift entdecken wollte.

Es ist an sich ein Lob, dass sich bei Winckelmann der Mensch von dem Schriftsteller nicht trennen lässt, aber der Schriftsteller hat für den Menschen schwer büßen müssen. Er widmete die Kunstgeschichte seinem Freunde Mengs, und diesem verdankt sie ihren hässlichsten Fleck. Anscheinend erwiderte Mengs die zärtliche Freundschaft Winckelmanns und übertrug ihm sogar alle Rechte des Ehemanns an seine schöne Frau, als diese aus Spanien, wohin Mengs mit seiner Familie übergesiedelt war, um ihrer Gesundheit willen nach Rom zurückkehren musste. Für Justi zeigt sich Mengs dadurch in „widerwärtiger Rohheit", was gewiss richtig ist, aber mit seiner Erlaubnis ist es ihm kaum ernst gewesen; es scheint, dass er seinen Freund Winckelmann bei dessen Abneigung gegen alle Frauenliebe nur hat aufziehen wollen, und Winckelmann hat ihm den brutalen Spaß nicht verdorben; er rühmte sich, nachdem Frau Mengs zu ihrem Gatten zurückgekehrt war, niemals die „geheimsten Wollüste mit ihr geteilt" zu haben, auch nicht, wenn er mit ihr auf demselben Bette der Mittagsruhe gepflegt habe.

Ehe aber Mengs nach Spanien ging, hatte er seinem Freunde einen viel ärgeren Possen gespielt; er hatte ein Bild ganz nach Winckelmanns Geschmack gemalt: den Göttervater Jupiter, wie er seinen Liebling Ganymed liebkost, und eine höchst abenteuerliche Geschichte erfunden, um die Herkunft dieses Bildes aus dem Altertum zu beglaubigen. Es ist kaum glaublich, aber ein umso sprechenderes Zeugnis für die Unsicherheit von Winckelmanns ästhetischem Urteil, dass er unbesehen in diese Falle tappte. In seiner Kunstgeschichte erzählt er breitspurig all den Schwindel, den ihm Mengs aufgebunden hatte, und feiert dann dessen Bild als das herrlichste Gemälde des Altertums, das die eben in Herculanum aufgefundenen antiken Gemälde noch weit überträfe: „Der Liebling des Jupiters ist ohne Zweifel eine der allerschönsten Figuren, die aus dem Altertum übrig sind, und mit dem Gesicht desselben finde ich nichts zu vergleichen; es blüht so viel Wollust auf demselben, dass dessen ganzes Leben nichts als ein Kuss zu sein scheint." Kaum aber war die Kunstgeschichte im Druck erschienen, als der Betrug aufgedeckt wurde.

Es kam zum „ewigen Bruche" zwischen Mengs und Winckelmann, aber die Freude an seinem größten Werk war diesem gründlich vergällt.

V.

Jedoch trotz solcher und anderer Schwächen machte das Buch seinen Weg und gewann sofort europäisches Ansehen. Dazu trug freilich auch der Umstand bei, dass sein Erscheinen mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges zusammenfiel und der Fremdenstrom, der während dieses Krieges ausgesetzt hatte, wieder nach Rom flutete. Als „Präsident aller Altertümer" wurde Winckelmann der Lieblingscicerone dieser deutschen Despoten und Junker, englischer Lords, französischer Ducs, welscher Kardinäle. Es war eine einträgliche Tätigkeit, aber sie galt in Rom nicht gerade als reputierlich. Auch hat Winckelmann wohl auf „die Störer seiner Ruhe und Räuber seiner Zeit" gescholten, aber im allgemeinen fand er sich doch mit großem Behagen in diesem Trubel zurecht.

Zu der Gefügigkeit und Schmiegsamkeit, die für den Verkehr mit den „vornehmen" Bummlern notwendig war, stimmte dann schlecht oder je nachdem auch recht Winckelmanns wachsender Hochmut gegenüber seinen ebenbürtigen Gefährten im Reiche des Geistes. Namentlich gegen Lessing kehrte er diese geschmacklose Überhebung heraus, sogar in recht verstockter Weise, da er unter dem ersten frischen Eindruck des „Laokoon" wohl erkannt hatte, was mit dieser Schrift geleistet war. Am lächerlichsten machte er sich durch seinen Spott über Lessing als einen angeblichen „Bärenführer"; einen Mann wie Lessing kann man sich auch nicht einen Tag in dem Strome vorstellen, worin Winckelmann jahrelang vergnüglich geplätschert hat. Seine märkischen Jahre hatten doch in ihm zerbrochen, was niemals wiederherzustellen war; die „Humanität" in jenem bescheidenen und zugleich stolzen Sinne, wie sie den Herder und Lessing, den Goethe und Schiller gemeinsam war, war nicht sein Teil. Er blieb immer der Flüchtling, der Unbehauste, dem die Freiheit nie die eigentliche Lebensluft war, dem sie fast als unrecht Gut erschien, so dass er die Sklavensehnsucht nach dem Kerker nie überwinden konnte. Durch die zwölf Jahre von Winckelmanns römischem Aufenthalt zieht sich eine fast ununterbrochene Kette von Verhandlungen, die ihn nach Deutschland zurückführen sollten, bald an den Hof des Landgrafen von Kassel, bald an den Hof des Herzogs von Dessau; ja dem „Schinder der Völker" war er sofort bereit, sich zu verdingen, als Nicolai ihm die – vermutlich noch dazu erfundene – Nachricht sandte, der preußische König sei geneigt, ihn als Bibliothekar anzustellen.

Zum Glück für Winckelmann scheiterten alle diese Verhandlungen, aber dem Kitzel, den Glanz seiner römischen Wurde im Vaterland spazieren zu führen, konnte er doch nicht widerstehen. Im Frühjahr 1768 lehnte er selbst die Einladung eines Barons Riedesel zu einer Reise nach dem geliebten Griechenland ab, um auf ein Jahr nach Deutschland zurückzukehren. Doch schon in den Alpen packte ihn die Reue; in Regensburg kehrte er um und ging zunächst nach Wien, wo ihn Maria Theresia empfing und mit einigen goldenen Denkmünzen beschenkte, dann fuhr er nach Triest, wo er eine Woche verweilte, um eine Schiffsgelegenheit abzuwarten.

Hier nun lernte er einen ehemaligen Koch kennen, einen ganz gemeinen Kerl, der schon eine schwere Zuchthausstrafe erlitten hatte. Winckelmann trat mit ihm in den vertraulichsten Verkehr, suchte sich ihm interessant zu machen als ein Besucher Maria Theresias, der ihr in heimlicher Audienz eine Kabale enthüllt habe, zeigte ihm die goldenen Münzen aus der Hand der Kaiserin. Von alledem verstand der Gauner nichts; aus der angeblichen Mission bei Maria Theresia schloss er, dass Winckelmann ein Spion, aus dem Besitz der Münzen, dass er ein Jude sei; um so geringeres Bedenken trug er, den Besitzer dieser Schätze zu ermorden. „Man entsetzt sich", schreibt Willibald Alexis in dem Aufsatz des „Neuen Pitaval", worin er den in allen seinen Einzelheiten grauenvollen Kriminalfall schildert, „dass ein solcher Lump es war, der nicht einen Winckelmann ermordete, aber in dessen alleiniger Gesellschaft ein Winckelmann die letzte Woche seines Lebens verbringen musste."

Dies „Entsetzen" hat auf die Kunde von Winckelmanns Tod schon die ersten Geister Deutschlands gepackt, aber sie verstanden, ihm den würdevollsten Ausdruck zu geben. So schrieb Herder: „Und dass dazu noch selbst die Ideale, die zwo lieben Schatten Winckelmanns in seinem Leben, Ruhmliebe und gewährte Freundschaft, die schreckliche Hand bieten mussten." Und Goethe pries den Toten glücklich, weil ein kurzer Schrecken, ein schneller Schmerz ihn hinweg genommen habe. „Nun genießt er im Andenken der Nachwelt den Vorteil, als ein ewig Tüchtiger und Kräftiger zu erscheinen: denn in der Gestalt, wie der Mensch die Erde verlässt, wandelt er unter den Schatten."

Einfacher, aber noch wahrer und doch nicht minder würdig lautete der Nachruf Lessings, der von Winckelmanns Hochmut am schwersten getroffen worden war. Am 5. Juli 1768 schrieb er an Nicolai: „Wie ich aus den Zeitungen sehe, so bestätigt sich die Nachricht von Winckelmanns Tode. Das ist seit kurzem der zweite Schriftsteller (der erste war Sterne), dem ich mit Vergnügen ein paar Jahre von meinem Leben geschenkt hätte." Als er dann aber eine Reise nach Rom beabsichtigte und das Geklatsch der lieben Zeitgenossen ihm nachsagte, er wolle Winckelmanns Erbe antreten, schrieb er am 18. Oktober 1768 an Ebert: „Niemand kann den Mann höher schätzen als ich, aber dennoch möchte ich ebenso ungern Winckelmann sein als ich oft Lessing bin." Man kann nicht epigrammatischer Winckelmanns Leben zusammenfassen in seinem Gelingen wie in seinem Verfehlen.

So hat denn die Nachwelt dies Urteil bestätigt: wie viel die Flut der Zeit auch von Lessings Lebenswerk zerstört hat, der ganze Mann ist geblieben, und von Winckelmann doch nur der berühmte Name.

1 Siehe Karl Justi: Winckelmann und seine Zeitgenossen, zwei Bände, Leipzig 1866 und 1872. Die zweite Auflage erschien 1898 in drei Bänden.

2 Mehring hat Wilhelm Scherers „Geschichte der deutschen Literatur" (1883) im Auge.

3 Mehring bezieht sich auf Eduard Engels „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart", 1. Band. Es heißt dort: „An Winckelmann scheitert jeder Versuch, ihn aus seinen Lebensbedingungen zu erklären; wie aus dem Stendaler Schuhflickersohn der erste große Kunstlehrer Deutschlands und einer seiner wertvollsten Prosaschriftsteller werden konnte, das gehört zu den vielen Wundern der Menschengeschichte, die wir staunend hinnehmen, aber nicht ergründen können."

4 Siehe dazu den Artikel „Die antike Bildung", S. 615/616 des vorliegenden Bandes.

5 Kollektaneen — gesammelte Auszüge aus literarischen und wissenschaftlichen Werken.

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