Franz Mehring 18940909 Lessings „Emilia Galotti"

Franz Mehring: Lessings „Emilia Galotti"

September 1894

[Die Volksbühne, 3. Jg. 1894/95, Heft 1.]

Für das fünfte Spieljahr der Freien Volksbühne mag es ein glückbedeutendes Vorzeichen sein, dass an seinem Eingange Lessings dramatisches Meisterwerk steht. Dafür galt „Emilia Galotti" schon den Zeitgenossen des Dichters, und weit über hundert Jahre haben an dem granitenen Bau dieses Trauerspiels kaum einen Stein losgebröckelt. In einsamer Größe ragen seine Zinnen über das Flachland unserer dramatischen Literatur, und nur weniges von dem, was nach ihm gekommen ist, wie Schillers „Kabale und Liebe", vermag sich mit diesem Despotentrutz zu messen, dem, wie man mit Platen sagen möchte, der Trotz der Ewigkeit in jedem Pfeiler emporsteigt.

Ein halbes Menschenalter hat sich Lessing mit dem Stoffe seiner Tragödie getragen, ehe sie sich als klassisches Gebilde aus seinem Geiste rang. Eben zum Manne gereift, voll von dramatischen Plänen, deren großer Masse das Elend der deutschen Zustände leider die Reife versagt hat, fasste er die Geschichte der Virginia ins Auge, die der römische Geschichtsschreiber Livius erzählt. In den Klassenkämpfen der römischen Patrizier und Plebejer hatten sich die Dezemvirn (Zehnmänner), ein Ausschuss der Patrizier, rechtlos der Regierungsgewalt bemächtigt und handhabten sie mit schamlosem Missbrauch des Rechts. Appius, das Haupt der Zehnmänner, entriss die Virginia ihrer Familie, indem er sie durch einen angeblichen Richterspruch für unfrei erklärte. Da stieß der Vater der Virginia dem schönen Opfer auf offenem Markte das Messer ins Herz, um es vor der gewissen Schande zu behüten. Die unerhörte Tat entzündete die längst in den plebejischen Massen gärende Revolution, und die Herrschaft der Dezemvirn wurde gewaltsam gestürzt.

Dieser historische Stoff ist die Grundlage der „Emilia Galotti". Am 27. Januar 1758 schrieb Lessing aus Leipzig an Nicolai, dem er schon vorher mitgeteilt hatte, ein „junger Mensch" arbeite an einer Tragödie, um sich um einen von Nicolai für das beste Trauerspiel ausgesetzten Preis zu bewerben: „Unterdes würde mein junger Tragikus fertig, von dem ich mir, nach meiner Eitelkeit, viel Gutes verspreche; denn er arbeitet ziemlich wie ich. Er macht alle sieben Tage sieben Zeilen; er erweitert unaufhörlich seinen Plan und streicht unaufhörlich etwas von dem schon Ausgearbeiteten wieder aus. Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nämlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist als ihr Leben, für sich schon tragisch genug und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte. Seine Anlage ist nur von drei Akten, und er braucht ohne Bedenken alle Freiheiten der englischen Bühne. Mehr will ich Ihnen nicht davon sagen; soviel aber ist gewiss, ich wünschte den Einfall wegen des Sujets selbst gehabt zu haben. Es dünkt mich so schön, dass ich es ohne Zweifel nimmermehr ausgearbeitet hätte, um es nicht zu verderben." Von diesem ersten Entwürfe der „Emilia" ist leider nichts erhalten. Dass er sich von dem Trauerspiele, das wir besitzen, wesentlich unterschied, geht schon daraus hervor, dass dieses fünf Aufzüge hat und keinen Gebrauch von den Freiheiten der englischen Bühne macht; in seiner straffen Geschlossenheit erinnert es viel mehr an die Muster der französischen Bühne. Aber in einem entscheidenden Punkte hat Lessing doch schon in dem ersten Entwürfe ebenso wie in der Ausarbeitung letzter Hand sein römisches Vorbild geändert; er hat alles ausgeschlossen, was die Geschichte der Virginia „für den ganzen Staat interessant" machte.

Man hat ihm deshalb den Vorwurf gemacht, dass er den historischen Stoff verflacht habe; man hat – und sehr berühmte Kritiker darunter – von künstlicher Übertragung einer Tat rauer Römertugend in moderne Zustände gesprochen. Nichts kann ungerechter und unrichtiger sein als dergleichen Redereien, die gerade das verkennen, was die „Emilia" so frisch erhalten hat und noch lange erhalten wird: ihren revolutionären Charakter. Die Geschichte der römischen Virginia war schon vor Lessing in Frankreich, Spanien und auch in Deutschland als römische Haupt- und Staatsaktion dramatisiert worden; wäre er in diesen ausgefahrenen Geleisen geblieben, so hätte er es wahrscheinlich besser gemacht als seine Vorgänger, aber ebenso wahrscheinlich würde sein Stück wie fast alle Römertragödien in der Makulaturkammer der Theaterbibliotheken einen ungestörten Schlaf tun. Nein, er bewährte sich gerade als moderner Dichter und Revolutionär, indem er in der berühmten Erzählung des Livius die empörendste und erschütterndste Begleiterscheinung der sozialen Unterdrückung erkannte, die Vergewaltigung der jungfräulichen Ehre, die im achtzehnten Jahrhundert so modern war wie vor zweitausend Jahren, wie sie heute noch ist und wie sie immer sein wird, solange Unterdrückung besteht. Lessing bewies seinen sozialen Scharfsinn dadurch, dass ihm jenes tragische Moment in seiner weltgeschichtlichen Allgemeinheit unendlich viel bedeutsamer erschien als der einzelne Fall, der den zufälligen Anstoß zu einer politischen Umwälzung gegeben hatte. Lessing verflachte den Fall der Virginia nicht, sondern er vertiefte ihn.

Freilich, aus seiner Umwandlung des historischen Stoffes ergab sich eine andere Schwierigkeit, die Lessing nach dem Zeugnisse unzähliger und wiederum sehr berühmter Kritiker nicht überwunden hat. Und in der Tat berührt sie den wundesten, um nicht zu sagen den einzigen wunden Fleck des Trauerspiels. In dem Falle der Virginia wurde die an einem unschuldigen Mädchen verübte Untat durch den Sturz der Gewalthaber gesühnt; wo aber bleibt die Sühne in dem Falle der Emilia? Die Tochter fällt von der Hand des Vaters auf ihre flehentliche Bitte, sie zu morden, da sie ihr Blut, ihre Sinne fürchte im Kampf mit den lüsternen Bewerbungen des Despoten, der eben an der Schwelle des Altars durch feigen Meuchelmord den Geliebten ihres Herzens hatte morden lassen. Der Vater aber wandert als Mörder ins Gefängnis und vermutlich aufs Schafott, während der Despot seine Schuld auf sein Werkzeug ablädt und mit einer sentimentalen Phrase zu seinen sonstigen Regierungsgeschäften übergeht. Man braucht nicht im spießbürgerlichen Sinne von der Tragödie zu verlangen, dass sich in ihr schließlich das Laster erbreche und die Tugend zu Tische setze, um von diesem Schlusse verletzt und verstimmt zu werden. Vergebens hat Goethe den von jeher empfundenen Anstoß zu beseitigen gesucht, indem er sagte, der Dichter habe es nur nicht deutlich genug ausgesprochen, dass Emilia den Prinzen heimlich liebe. Indessen damit wäre, um eine Schwäche zu beseitigen, überhaupt der ganzen Tragödie der Rücken gebrochen. Wenn Emilia den Prinzen heimlich liebte, dann wäre der alte Odoardo kein tragischer Held, dann tötete er die Tochter, um ihre anatomische Unschuld zu sichern oder den Prinzen um seine sichere Beute zu betrügen, und Lessing lässt ihn wohlweislich in seinem letzten Monologe sagen, dass, wenn das Pärchen einverstanden wäre, die Tochter nicht wert sein würde, vom Dolche des Vaters zu fallen. Nein, Emilia liebte den Prinzen nicht, soll ihn nach des Dichters Absicht nicht lieben, aber dass sie und ihr Vater dennoch vor der Despotenwillkür und – der eigenen Fürstenfürchtigkeit keine Rettung wissen als den Mord der Tochter durch den Vater, das ist jenes Grässliche, das nach Lessings eigenen Ausführungen in der „Hamburgischen Dramaturgie" weder Furcht noch Mitleid erregen und also auch keine tragische Wirkung haben kann, selbst wenn es in der Geschichte begründet ist.

Tragisch lässt sich also der Ausgang der „Emilia" nicht rechtfertigen, aber nur deshalb nicht, weil er sich historisch nur allzu gut rechtfertigen lässt. Bei der Besprechung von Schillers „Kabale und Liebe" haben wir eingehender den deutschen Duodezdespotismus des vorigen Jahrhunderts und seine das Volksleben zerrüttenden Wirkungen geschildert. Ein bürgerlicher Dichter, der eine bürgerliche Virginia unter den damaligen Zuständen schreiben wollte, konnte keinen tragisch-versöhnenden Ausgang finden. Hatte doch eben erst, in Lessings sächsischer Heimat ein adliges Haus seiner Tochter ein Hochzeitsfest ausgerichtet, weil der angestammte Despot sie zu einer seiner Mätressen erkor. Auf deutschem Boden wuchs weder eine Emilia noch ein Odoardo; hier forderte das vielleicht tragischste Motiv der Weltgeschichte viel mehr ein spöttisches Lachen als ein tragisches Weinen heraus. Aber Lessing hätte nicht der Vorkämpfer der bürgerlichen Klassen sein müssen, um ihrer Schmach nicht viel mehr zürnen als spotten zu sollen. So musste er, um die psychologischen Voraussetzungen seiner dramatischen Fabel zu retten, die Handlung aus der langweilig-liederlichen Philisterwelt seines Vaterlandes in das heißblütige Volk zurückverlegen, aus dem die römische Virginia entsprossen war. Indessen, die sozialen Lebensformen sind unter sonst gleichen Voraussetzungen niemals an die nationalen Schlagbäume gebunden; in dem zersplitterten Italien herrschte der Duodezdespotismus nicht minder als in dem zersplitterten Deutschland, sei es auch unter feineren und gebildeteren Formen. Im Wesen der Sache blieb er hier und dort und überall, was er war und was er sein musste; eine Sühne für seine grotesk-schaurigen Schandtaten gab es nicht, und so anfechtbar immer der tragische Ausgang der „Emilia" erscheint, er wurzelt in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, worin Lessings Gestalten leben und weben. Über diese Schranke konnte der Dichter nicht hinaus.

Wir wissen nicht, was Lessing verhindert hat, seinen ersten Entwurf auszuarbeiten. Waren es äußere Hindernisse seines vielbewegten Lebens, waren es die inneren Schwierigkeiten des Stoffs, in jedem Falle sind die fünfzehn Jahre, die zwischen der ersten Erwähnung des Stücks und seiner schließlichen Veröffentlichung lagen, der „Emilia" sehr zugute gekommen. Lessing stand in der Vollkraft seines Schaffens, als er in Hamburg etwa 1768 das Trauerspiel wieder zur Hand nahm. Es sollte die Probe werden auf die dramaturgische Erkenntnis, die er in der „Hamburgischen Dramaturgie" niedergelegt hatte. Aber der schnelle Zusammenbruch des Nationaltheaters, dessen Dramaturg Lessing war, hinderte auch für diesmal die Vollendung der „Emilia". Erst als Bibliothekar in Wolfenbüttel, in den öden Räumen eines Fürstenschlosses, um dessen Mauern die Schatten mancher Emilien und Virginien schwebten, hat der Dichter sein dramatisches Meisterwerk vollendet. Wohl kannte er die eine große Schwäche des Stücks; je näher er dem Ende kam, um so unzufriedener wurde er nach seinem eigenen Geständnis, aber er durfte stolz sein auf die gewaltige Dichtung, die nach Goethes Wort wie die Insel Delos aus der Gottsched-Gellert-Weißischen Wasserflut emporstieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen. Diese epigrammatisch klare und scharfe, manchmal fast zu karg ausgesparte Sprache, dieser wie aus blankem Erz gegossene Aufbau der dramatischen Entwicklung, diese Fülle von Charakteren, deren jedem warmes Blut des Lebens in den Adern rinnt: Alles das war in der deutschen Literatur bis dahin unerhört, und in gewissem Sinne ist es bis heute nicht wieder erreicht worden.

Der Prinz ist der erste moderne Fürst, den ein deutscher Bühnendichter zu zeichnen gewagt hat, und er ist auch der letzte geblieben. Gleich die ersten Worte des ersten Aufzugs kennzeichnen ihn: „Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! Die traurigen Geschäfte! und man beneidet uns noch!" In der Scheu vor jeder ernsten Arbeit spielt er sich als Opfer einer erdrückenden Arbeitslast auf. Das einzige Schriftstück, das er durch Gewährung erledigt, verdankt diesen Vorzug dem Umstand, dass die Bittstellerin Emilia heißt, und diesen einzigen Entscheid, den er getroffen hat, nimmt er dann ohne Grund, wie er ihn gegeben hat, auch wieder ohne Grund halb und halb zurück. Alles ist bei ihm Laune, Stimmung, zufällige Erregung des Augenblicks. Er ist von Haus aus weder ein dummer noch ein schlechter Mensch, aber er ist ein Produkt des Berufs geworden, in dem er geboren ist. „Halb in jeder Tugend und in jedem Laster", wie ihn ein neuerer Literarhistoriker schildert, „und nur in einem ganz: in dem unzerstörbaren, sentimentalen Fürstenbewusstsein". In diesem Bewusstsein, das die schwächliche Halbheit denn auch ja zuweilen in eine ganze Büberei auslaufen lässt. In seinem Herrendünkel wird er der Sklave seines eigenen Werkzeugs, und den Kammerherrn Marinelli, den er heute fortjagt in ohnmächtigem Aufschaudern über einen blutigen Frevel, wird er morgen wiederholen, um seinen fürstlichen Müßiggang mit neuen Freveln zu kitzeln. Marinelli wieder ist von manchen Darstellern ganz falsch aufgefasst worden als eine Art Mephisto. Er ist nach des Dichters Absicht, wie Goethe schon hervorgehoben hat, der reine Hofmann, feige und gemein, habgierig und kriechend, boshaft und rachsüchtig, wie dergleichen „Hofgeschmeiß" zu sein pflegt, ein gemeiner Kerl ohne Charakter und Geist. Dagegen ist die Gräfin Orsina eine wahrhaft dämonische Gestalt, wie sie sonst nur dichterischen Genies von allererstem Range zu gelingen pflegt. Lessing, der sich selbst den Namen eines Dichters absprach, hat ihr eine tüchtige Mitgift von dem tragischen Witze gegeben, von dem er selbst in allen Nöten seines Lebens zu zehren pflegte, und mit bescheidener Zuversicht sagte er voraus, in den Händen einer guten Schauspielerin werde diese Rolle stets wirksam sein.

Weniger plastisch kommt die Heldin heraus, die dem Stück den Namen gegeben hat, und das hängt unlöslich mit jenem tragischen Missklange zusammen, in dem das Drama endet. Es stimmt nicht recht zu dem Charakter des frommen und unschuldsreinen, mit weltfremden Augen in die arge Welt blickenden Kindes, dass sie aus Angst vor der Verführung den Tod von der Hand des Vaters verlangt. Der Dichter erklärt ihren Charakter durch den Mund ihrer Mutter: „Sie ist die Furchtsamste und Entschlossenste ihres Geschlechts. Ihrer ersten Eindrücke nie mächtig, aber nach der geringsten Überlegung in alles sich findend, auf alles gefasst." Lessing wusste wohl, dass es um dramatische Charaktere, die erst der Erläuterung bedürfen, immer etwas misslich bestellt ist. Er schreibt an seinen Bruder: „Weil das Stück Emilia heißt, ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilia zu dem hervorstechendsten oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz und gar nicht. Die Alten nannten ein Stück wohl nach Personen, die gar nicht aufs Theater kamen. Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem Geschmack." Umso schärfer sind die Eltern der Emilia ausgeprägt. Odoardo sowohl, an dem wir uns den Geschmack nur nicht verderben lassen dürfen durch die unzähligen schwächeren und wie oft! schwächlich-überschwänglichen Heldenväter, die nach seinem Muster gearbeitet worden sind, als auch Claudia, der bei aller sonstigen Bravheit doch der leise Stich der bürgerlichen Hausmutter ins Kupplerische nicht fehlt. Es erübrigt, viel über die Nebenpersonen zu sagen; mit wenigen sparsamen Strichen stellt sie der Dichter in ihrer lebendigen Eigentümlichkeit hin, den Grafen Appiani, den Maler Conti, den Rat Camillo Rota, den Banditen Angelo, den Bedienten Pierro.

In „Emilia Galotti" gipfelte gewissermaßen das bürgerliche Klassenbewusstsein, soweit es im Deutschland des vorigen Jahrhunderts überhaupt erwachte. In dem Schicksal dieses Stücks spiegelt sich das Schicksal des damaligen Bürgertums. Einzelne begeisterte Rufe begrüßten das Werk. Herder nannte den Verfasser „einen ganzen Mann" und wollte dem Trauerspiele das an die Adresse der Fürsten gerichtete Motto: Discite moniti! Lernt, denn Ihr seid gewarnt! vorgesetzt wissen. Goethe sah darin den entscheidenden Schritt zur sittlich erregten Opposition gegen die tyrannische Willkürherrschaft, und in Schillers revolutionären Jugenddramen fand es dann noch einen letzten und mächtigsten Nachhall. In den „Räubern", in „Fiesco", in „Kabale und Liebe" stößt man überall auf Spuren von Lessings größtem Drama. Aber die große Masse der deutschen Philister, voran der platte Unverstand der Berliner Aufklärung, blieb kühl und stumm, und Lessing erklärte bald, er gebe sich alle Mühe, das Stück zu vergessen.

Und mehr noch: Je ohnmächtiger sich das deutsche Bürgertum erwies, mit dem Despotismus und Feudalismus kurzen Prozess zu machen, je mehr sein Denken und Dichten in den blauen Äther flüchtete, um sich hier eine ideale Welt zu erbauen, um so unbequemer wurde „Emilia Galotti" wie die Mahnung an eine nicht eingelöste Schuld auch denen, die sie anfangs freudig begrüßt hatten. Herder und Goethe haben auch sehr abfällige Urteile über Lessings Trauerspiel gefällt, und Schiller hat in seinen späteren Jahren mit unverhohlener Abneigung auf das Muster seiner revolutionären Dichterjahre geblickt. Goethe selbst deckte in seinem Alter diesen Zusammenhang auf, indem er die „Emilia" pries als ein vortreffliches Werk, als ein Stück voller Verstand, voll Weisheit, voll tiefer Blicke in die Welt, das überhaupt eine ungeheure Kultur ausspreche, „gegen die wir jetzt schon wieder Barbaren", und das zu jeder Zeit als neu erscheinen müsse.

Jawohl! Die „ungeheure Kultur" der „Emilia Galotti" haben die bürgerlichen Klassen, für die sie gedichtet war, nie verstanden, und darüber mögen sie zu „Barbaren" geworden sein. Jeder revolutionär-aufstrebenden Klasse aber wird das Stück immer so „neu" erscheinen, als käme es frisch aus der Gedankenwerkstatt des Dichters.

 

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