Franz Mehring 19090000 „Minna von Barnhelm

Franz Mehring: „Minna von Barnhelm oder: Das Soldatenglück"

Ein Lustspiel in fünf Aufzügen von G. E. Lessing 1909

[Die Volksbühne. Eine Sammlung von Einführungen in Dramen und Opern, Berlin 1909. Nach Gesammelte Schriften, Band 9, S. 412-417]

An der Schwelle unserer modernen Dramenliteratur steht dies Lustspiel Lessings. Es überragte turmhoch, was kleine Geister vor ihm meist nach dem Muster der französischen Bühne geschaffen hatten; es überragte auch weit Lessings frühere Versuche auf dramatischem Gebiete, und in gewissem Sinne ist es bis heute noch nicht übertroffen worden.

Weshalb nicht, das lässt sich schon an seinem Schicksal ablesen. Lessing hatte mit ihm einen kecken Griff in das historische Leben seiner Zeit getan; er hatte des Dichterrechts gewaltet, die Großen zu strafen, die der irdischen Gerechtigkeit unerreichbar sind; die Fabel seines Stückes war eine herbe Satire auf die Regierung des preußischen Königs Friedrich, des sogenannten Großen. Die alleruntertänigste Literaturgeschichte aber hat aus dem Lustspiel eine angebliche Verherrlichung dieses Königs gemacht, und als solche gilt es heute überall in bürgerlichen Kreisen. Knechtische Gesinnung ist jedoch kein Boden, auf dem klassische Lustspiele gedeihen, denn – wie gerade in diesem Zusammenhange ein späterer Dichter1 gesungen hat -: Nur ein freies Volk ist würdig eines Aristophanes.

Wie tief diese knechtische Gesinnung in Deutschland wurzelte, solange die bürgerliche Klasse in ihr den Ton angab, zeigt die Tatsache, dass kein geringerer als Goethe die schnöde Verkennung von Lessings Lustspiel angeregt hat. In seinen alten Tagen verfiel er auf die wunderliche Vorstellung, dass der preußische König Friedrich und die Taten des Siebenjährigen Krieges den ersten wahren und wesentlichen Lebensgehalt in die deutsche Poesie gebracht hätten, und so meinte er, „Minna von Barnhelm" als „die wahrste Ausgeburt jenes Krieges ehrenvoll erwähnen" zu müssen, als „die erste aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion von spezifisch temporärem Inhalt, die deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung gehabt habe". So richtig dieser zweite Satz ist, so unrichtig ist der erste, und Goethe selbst hat sich später berichtigt, indem er an Lessing beklagte, „dass dieser außerordentliche Mensch in einer so erbärmlichen Zeit leben musste, die ihm keine besseren Stoffe gab, als er in seinen Stücken verarbeiten musste, dass er in seiner Minna von Barnhelm an den Händeln der Sachsen und Preußen teilnehmen musste, weil er nichts Besseres fand". Womit dann der Bogen wieder nach der andern Seite überspannt ist.

Der Siebenjährige Krieg war seiner historischen Form nach ein Kabinettskrieg, den eine Reihe europäischer Regierungen miteinander führte, ohne dass sich die Völker anders daran beteiligten, als dass sie die Zeche bezahlen mussten. Niemand war sorgfältiger darauf bedacht, dem Kriege jeden nationalen, jeden populären Charakter zu nehmen, als der preußische König; sein Grundsatz war, dass die Bürger sich gar nicht darum bekümmern sollten, wenn die Soldaten sich schlügen; sobald die märkischen oder pommerschen Bauern sich gegen die Plünderungen der ins Land fallenden Feinde, gegen den Raub ihrer Habe, gegen die Verwüstung ihrer Höfe, gegen die Schändung ihrer Frauen und Töchter gewaltsam zur Wehr setzten und deshalb einem noch grausameren Schicksal verfielen, hatte ihr liebender Landesvater für ihre Klagen nur die höhnische Antwort, ihnen sei ganz recht geschehen; er würde es genau ebenso gemacht haben wie die erzürnten Kosaken und Kroaten; der Bauer und der Bürger hätten sich nicht in den Krieg zu mischen, auch nicht, wenn ihnen das Fell über die Ohren gezogen würde. Dieser historische Charakter des Siebenjährigen Krieges schloss völlig aus, dass aus ihm eine nationale Poesie aufblühen konnte.

Auf der anderen Seite war aber die Zeit wirklich so „erbärmlich", dass „die Händel der Sachsen und Preußen" immer noch die einzige Erscheinung waren, die ein wenig Leben in die trostlos verfallende Bude brachten. Der Soldatenstand, so verrufen und mit Recht verrufen auch die Söldnerheere waren, blieb doch der einzige Stand, worin sich wenigstens zu Kriegszeiten individuelle Selbständigkeit und Tüchtigkeit entwickeln konnte, wie es das Reiterlied aus Schillers „Wallenstein" in packenden Versen ausspricht. Hieraus erklärt sich, dass Lessing gern in soldatischen Kreisen verkehrte, dass sein nächster und würdigster Freund, Ewald v. Kleist, ein preußischer Offizier war, dass er in seinen dramatischen Werken mit Vorliebe soldatische Charaktere schilderte: in der „Minna" Tellheim, Paul Werner, Just, in der „Emilia" Odoardo Galotti, im „Nathan" den Sultan Saladin und den Tempelherrn; so erklärt es sich endlich, dass er, als das öde Philistertreiben in Leipzig und Berlin seinen feurigen Geist abstieß und anwiderte, als Sekretär eines Generals zum preußischen Kriegslager in Breslau floh, wo er einige und vielleicht die glücklichsten Jahre seines Lebens mitten im tosenden Lärm der Waffen verbrachte.

Aus dieser Atmosphäre ist ihm nun auch sein Lustspiel erwachsen. Aber wenn er es aus dem soldatischen Leben griff, so blieb er darum doch der durch und durch bürgerliche Mensch. War er durch die „erbärmliche Zeit" gezwungen, seine bürgerliche Komödie als Soldatenstück zu schreiben, so beseelte er sie doch nicht mit einem soldatischen, sondern mit dem sehr bürgerlichen Geist, der auch dem fürstlichen Despotismus in die Zähne hinein unbeugsam an seinem Recht und seinem Rechtsbewusstsein festhält.

In solchem Geiste denkt und handelt der Major Tellheim, der Held des Lustspiels. Ihm sind die „Großen sehr entbehrlich"; „die Dienste der Großen sind gefährlich und lohnen der Mühe, des Zwanges, der Erniedrigung nicht, die sie kosten". Tellheim tut „für die Großen aus Neigung wenig, aus Pflicht nicht viel mehr, sondern alles der eignen Ehre wegen". Er kann es höchstens „nicht bereuen, Soldat geworden zu sein"; „ich ward Soldat aus Parteilichkeit, ich weiß selbst nicht, für welche politischen Grundsätze, und aus der Grille, dass es für jeden tüchtigen Mann gut sei, sich in diesem Stande eine Zeitlang zu versuchen, um sich mit allem, was Gefahr heißt, vertraut zu machen und Kälte und Entschlossenheit zu lernen. Nur die äußerste Not hätte mich zwingen können, aus diesem Versuche eine Bestimmung, aus dieser gelegentlichen Beschäftigung ein Handwerk zu machen." Soldat sein um des Soldatentums willen, das ist „wie ein Fleischerknecht reisen, weiter nichts". So frei war Lessing von jeder Verherrlichung des Soldatentums und nun gar des borussischen Soldatentums; er hat niemals das geringste übrig gehabt für den preußischen Militärstaat, er hat niemals daran gedacht, den Siebenjährigen Krieg oder gar den König Friedrich zu verherrlichen, der Offiziere von der Gesinnung Tellheims auf die Festung geschickt haben würde.

Es ist Lessing selbst, der aus Tellheim spricht, zu dem ihm sonst wohl sein Freund Kleist gesessen hat. Tellheims Schicksal aber war das Schicksal manches tapferen Offiziers, der im Kriege für den König gefochten hatte, jedoch nach dem Friedensschlüsse aufs Pflaster geworfen wurde, trotz aller Gebresten und Wunden, die ihn für eine bürgerliche Tätigkeit unfähig machten. Immerhin – soweit der König durch seine bankrotten Finanzen gezwungen war, sein Heer zu vermindern, mochte die Entlassung der Offiziere, die ihr Blut und ihre Knochen an die Erhaltung seiner Krone gesetzt hatten, durch die sogenannte „Staatsräson" gerechtfertigt oder entschuldigt werden. Geradezu infam aber handelte der durch junkerliche Schrullen verbohrte Despot, wenn er die bürgerlichen Offiziere, die er in der Not des Krieges hatte einstellen müssen, trotz all ihrer Tapferkeit ebenfalls davonjagte, nur weil sie bürgerlich waren, um sie durch ausländische Junker zu ersetzen, mochten diese auch liederlichstes und windigstes Pack sein.

So „erbärmlich" die bürgerlichen Klassen damals dachten, so ging ihnen diese königliche Misshandlung doch über den Spaß, und eine allgemeine Sympathie mit den entlassenen Offizieren machte sich laut, wenn sie auch unter dem unbarmherzigen Druck der friderizianischen Zensur sich öffentlich nicht kundgeben konnte. Lessing aber wurde in seinem Lustspiel der Anwalt der Misshandelten; sein Tellheim ist solch ein schändlich entlassener Offizier, und ihm gegenüber steht der Leutnant Riccaut, ein Typ jenes verkommenen Gesindels, dem der König Friedrich die Offiziersstellen seines Heeres verlieh, nur weil sie neben all ihren Lastern und Gebrechen einen adligen Titel führten.

Selbst die angebliche Gerechtigkeit, die der König schließlich dem Major Tellheim widerfahren lässt, ist nur ein Hohn auf die königlichen Praktiken. Friedrich hatte im Siebenjährigen Kriege das damalige Kurfürstentum Sachsen unter eisernem Griffe gehalten; er hatte es ausgeklopft wie einen Mehlsack, nach seiner eigenen, vermutlich viel zu niedrigen Angabe von der sächsischen Bevölkerung fünfzig Millionen Taler erpresst, von denen er nach Friedensschluss auch nicht einen Pfennig zurückzahlte. Sogar die Gesuche seiner eigenen Untertanen um Ersatz für Kriegsschäden pflegte der König mit der landbekannten Redensart abzufertigen, nächstens werde der Bittsteller wohl noch seinen Schaden von der Sintflut her ersetzt haben wollen. Nicht minder bekannt war, dass der König einen entlassenen Offizier niemals wieder in das Heer aufnahm. Seine Kabinettsordre also, worin er den Major Tellheim aufforderte, wieder Dienste zu nehmen, und ihm die „getanen Vorschüsse" durch die Hofstaatskasse wieder zuweisen lässt, war eine Selbstkritik, wie sie bitterer nicht gedacht werden konnte.

Auch auf die bürgerliche Verwaltung des preußischen Königs wirft Lessings Lustspiel grelle Schlaglichter. Der Wirt, in seiner unvergleichlichen Mischung von Feigheit, Kriecherei und Unverschämtheit, ist ein Spitzel des friderizianischen Zeitalters; die Wirte, Traiteurs und Eigentümer der Gasthäuser in den großen Städten waren die Spione des Königs; er zahlte ihnen den ganzen oder halben Mietzins, wofür sie täglich von allen Gesprächen und Zusammenkünften in ihren Räumen, und von verdächtigen Persönlichkeiten möglichst auch „einen verlässlichen Prothokoll-Auszug" der „bey sich habenden Briefschaften", der Polizei einzureichen hatten.

Man begreift demnach, dass Nicolai, der ein preußischer Patriot war, wie es Lessing nicht war, die „vielen Stiche gegen die preußische Regierung" bedauerte, die sich in Lessings Lustspiele fänden. Und solche Stiche finden sich noch viele mehr darin, als hier angedeutet worden sind. Die Zeitgenossen nun empfanden alle diese Stiche, und das franke und freie Bekenntnis des Lustspiels zur bürgerlichen Gesinnung machte nicht zum wenigsten sein Glück. Heute, wo nun schon vor hundert Jahren der friderizianische Staat zum Segen der gesitteten Menschheit bei Jena in tausend Trümmer zerschmettert worden ist, kann man sich nicht ohne ein beträchtliches Maß historischer Kenntnisse in ihn zurückdenken, womit dem modischen Byzantinismus erleichtert wird, Lessings Lustspiel als eine Huldigung an den preußischen Militärstaat oder den König Friedrich zurecht zu fälschen. Von diesem Hirngespinste muss man sich jedoch völlig frei machen, wenn man das Lustspiel Lessings genießen will, wie es genossen zu werden verdient.

Die Zeit, die es schildert, gehört einer glücklicherweise aschgrauen Vergangenheit an, aber seine Gestalten sind lebendig geblieben, und was ihnen an Altfränkischem anhaften mag, befremdet den Hörer weit weniger, als dass es ihn wie ein Hauch aus Urväterzeit vertraulich umschmeichelt. Neben dem Falschspieler und dem Wirt, den mit unerbittlicher Wahrheit gezeichneten Trägern des friderizianischen Systems, sind die braven und edlen Charaktere wohl ein wenig idealisiert. Nicht nur Tellheim und seine Braut, nicht nur der Wachtmeister und sein Mädchen, sondern auch der Reitknecht Just und nicht minder die Nebenfiguren, die Dame in Trauer und der Graf Bruchsall, fließen von Edel- und Großmut über. Aber man darf nicht vergessen, dass diese Menschen – als ein neues Geschlecht gegenüber einem herz- und trostlosen Philistertum – mit den hoffenden und sehnenden Augen eines Kämpfers geschaut sind, der keinen Tag sein tapferes Schwert ruhen ließ, um eine glücklichere Zukunft zu erkämpfen. Sein Leben ist in ihnen lebendig, und wenn die Romantiker tadelten, dass alle Charaktere in der „Minna" „lessingisieren", dass nicht nur der Held, sondern auch die Heldin mit dem Geiste Lessings getauft sind, dass auch Werner und Franziska und Just mit dem Witze ihres Dichters plaudern, so ist für uns dieser Tadel zum Lobe geworden, und aus seinen Geschöpfen hören wir gern den Schöpfer.

Wie „Minna von Barnhelm" das erste klassische Stück des modernen Theaters in Deutschland war, so hat sie auch zum ersten Male ein modernes Theaterpublikum zu sammeln verstanden. Bei dem Erscheinen des Lustspiels drängte sich dieser Gesichtspunkt schon der biederen Poetin Karschin auf, die sonst nicht an ästhetischem Scharfsinn litt; sie schrieb an Gleim: „Vor Lessing hat's noch keinem deutschen Dichter gelungen, dass er den Edlen und dem Volke, den Gelehrten und Laien zugleich eine Art von Begeisterung eingeflößt und so durchgängig gefallen hätte." Diese allgemeine Volkstümlichkeit ist der „Minna" bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben; sie weiß dem feinsten Geschmack genugzutun und fesselt doch immer wieder auch das naivste Publikum, obgleich das Lustspiel allen stofflichen Reizes so gut wie ganz entbehrt.

Darüber schreibt Otto Ludwig: „Bei Gelegenheit der ,Minna von Barnhelm', die ich in diesen Tagen wieder las, habe ich Lessing von neuem bewundert. Die Sage, er sei kein Dichter, sollte doch wirklich einmal in ihr Nichts zurückkehren. Ein einfaches Samenkorn von Stoff so aufzuschwellen, dass man beständig interessiert wird, ist wahrlich nicht Sache des Verstandes allein." Ob Lessing ein Dichter war oder nicht, das kann hier um so mehr dahingestellt bleiben, als es bei dieser Frage zunächst darauf ankommt, was man unter einem Dichter versteht; sicher aber hat er in seiner „Minna" ein einfachstes Motiv so auszumünzen verstanden, dass die Spannung bis zum Schluss des letzten Aktes andauert.

Namentlich die beiden ersten Akte sind ein Meisterwerk dramatischer Gestaltungskraft, wie schon Goethe gerühmt hat; in den letzten Akten ist das Spiel mit den Ringen vielleicht etwas zu ernsthaft und auch zu weitläufig ausgeführt; um hier zu folgen, muss man schärfer aufmerken, als sich mit ästhetischem Behagen verträgt. Aber wer mit Lessing zu tun hat, muss schon seine Gedanken zusammennehmen, und von den leisen Schatten hebt sich umso kräftiger der heitere Glanz ab, der unvergänglich über diesem Lustspiele ruht.

1 Gemeint ist Platen.

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