Franz Mehring 19030121 Pour le roi de Prusse

Franz Mehring: Pour le roi de Prusse

Januar 1903

[Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 517-526, Nach Gesammelte Schriften, Band 9, S. 386-400]

Jean Jaurès In Paris hat binnen kurzer Frist drei umfangreiche Bände über die große französische Revolution herausgegeben.1 Seine deutschen Freunde schildern diese Bände als unvergleichliche Meisterwerke der Geschichtsschreibung, und ich bin weit entfernt, mich dagegen aufzulehnen. Ich würde sehr unrecht tun, wenn ich mir eine Kritik über ein Werk erlauben wollte, das ich gar nicht gelesen habe; seine Besprechung in der „Neuen Zeit" wird von anderer Seite erfolgen.

Jedoch bin ich darauf aufmerksam gemacht worden, dass Jaurès in dem umfangreichen, etwas über zweihundert Seiten umfassenden Kapitel des dritten Bandes, das die politischen und sozialen Ideen Deutschlands zur Zeit der großen französischen Revolution abhandelt, einen Vorstoß gegen den historischen Materialismus im allgemeinen und mein Buch über Lessing im besonderen unternimmt. So habe ich dies Kapitel allerdings gelesen und muss die Angriffe des Verfassers gern oder ungern beantworten. Ungern, soweit es sich um mein Buch, gern, soweit es sich um den historischen Materialismus handelt. Man findet es vielleicht anmaßend, dass ich die Sache meines Buches und die Sache des historischen Materialismus in einem Atem nenne. In der Tat hat Herr Sombart schon vor Jahren erklärt, in meinem Buche über Lessing hätte ich gezeigt, wie die historisch-materialistische Geschichtsauffassung nicht angewandt werden dürfe2, und ebenso beschuldigt mich Jaurès, in meinem Buche „die Theorie der Klassen und des ökonomischen Materialismus ganz künstlich" angewandt zu haben. So gewichtig diese Autoritäten sind, so war derjenige der beiden Begründer des historischen Materialismus, der das Erscheinen meines Buches noch erlebt hat, darüber doch anderer Ansicht.

Friedrich Engels hat mehr als einmal seine Freude über die freie Selbständigkeit ausgesprochen, womit ich in der „Lessing-Legende" dem historischen Materialismus gegenüberstände, und mir selbst schrieb er, als ich ihm ein Exemplar übersandte: „Ich kann von dem Buche nur wiederholen, was ich schon von den Artikeln, als sie in der .Neuen Zeit' erschienen, wiederholt gesagt habe; es ist bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staates, die existiert, ja, ich kann wohl sagen, die einzig gute, in den meisten Dingen bis in die Einzelheiten hinein richtig die Zusammenhänge entwickelnde." Es versteht sich, dass ich mit der Berufung auf Engels auch nicht einen Satz meines Buches vor einer einschneidenden Kritik sichern will; ich möchte nur, um die hohe Ehre einer sachlichen Diskussion mit Jaurès ungestört zu genießen, von vornherein den blöden Schmeißfliegenwitz abwehren, der uns „orthodoxen Marxisten" fortwährend um die Ohren summt, als würden Marx und Engels, wenn sie heute lebten, unsere Arbeiten als Karikaturen auf ihre wissenschaftliche Methode von ihren Rockschößen schütteln.

Das deutsche Kapitel der Geschichte von Jaurès, wie ich der Kürze wegen denjenigen Abschnitt seines dritten Bandes nennen will, mit dem ich es hier allein zu tun habe, beginnt mit einer Untersuchung der Frage, weshalb in Deutschland keine Revolution ausgebrochen sei wie in Frankreich. Der Verfasser findet, erstens sei daran die politische Zerstücklung Deutschlands schuld, zweitens aber seine ökonomische Rückständigkeit. Jedoch hier beginnt Jaurès schon zu stutzen. Er hat kein gründliches wissenschaftliches Buch über die ökonomische Entwicklung Deutschlands vom sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert studiert, wie etwa Gülichs Werk3, sondern nur einige Schriften Forsters, Mosers, Lists und die nicht gerade unverdienstliche, aber flache und namentlich ökonomisch ganz unzulängliche Kompilation Biedermanns über das achtzehnte Jahrhundert4 angeblättert, um daraus die für ihn überraschende Tatsache zu erfahren, dass es zur Zeit der großen französischen Revolution schon Anfänge kapitalistischer Produktionsweise in Deutschland gegeben habe. Aus Zitaten, die er jenen Schriften entnimmt, erbaut sich nun Jaurès eine Treppe, worauf er von ungläubigem Zweifel bis zu entsetzlicher Klarheit über den historischen Materialismus emporsteigt.

Begleiten wir ihn Stufe für Stufe! Auf Seite 452 nach langen Zitaten aus Biedermann: „Offenbar begann damals der Aufschwung des industriellen Kapitalismus in Deutschland, und ich erstaune, dass Marx nicht durch die Züge, die ihm die deutsche Entwicklung dieser Epoche geben konnte, seine bewundernswerten Studien über die Manufakturperiode illustriert hat, worin er hauptsächlich englische Beispiele zitiert." Dann kommen lange Zitate aus Moser, und so heißt es auf Seite 460: „Merkwürdige Sache! Marx spielt nicht einmal auf Deutschland an: er hatte aus dem Nichts der deutschen Bourgeoisie ein so wichtiges Stück seiner historischen Dialektik gemacht, dass er ohne Zweifel über die Maßen vernachlässigt hat, die Bewegung der deutschen Produktion in dieser noch embryonalen Epoche zu studieren." Und schon auf der nächsten Seite, nach einem ausnahmsweise kurzen Zitat aus Moser: „Und immer vollständiges Schweigen über Deutschland." Dann fährt ein Schubkarren voll Zitate aus Forster heran, und nun fragt Jaurès auf Seite 465: „Woher kommt also die revolutionäre Ohnmacht Deutschlands? Und ist es möglich, sie ganz durch die unzureichende Entwicklung der Bourgeoisie zu erklären? Die einfache Berufung auf die Thesen des ökonomischen Materialismus würde hier zu bequem sein. Es scheint unmöglich, dass ein einfacher Unterschied des Grades, in einer ökonomischen Entwicklung desselben Ursprungs und desselben Sinnes, genügen könne, die revolutionäre Lebhaftigkeit Frankreichs, die revolutionäre Schlaffheit Deutschlands zu erklären. Hier müssen sicherlich politische und intellektuelle Kräfte eingreifen, und zwar in einem sehr breiten Maße. Isoliert ist die ökonomische Bewegung nur eine Abstraktion, und niemals habe ich lebhafter gefühlt, als bei meinen Studien über die gleichzeitige und so verschiedene Aktion Deutschlands und Frankreichs, bis zu welchem Punkte es gefährlich sein würde, den ökonomischen Materialismus als eine erschöpfende Erklärung der Geschichte zu betrachten. Unterstelle man einen Augenblick, ohne irgend etwas an seinem ökonomischen Stande von 1789 zu verändern, ein politisch geeintes Deutschland, worin die Untersuchungen der Denker sich seit einem Jahrhundert auf das Studium der sozialen Organisation gewandt hätten, so ist es wahrscheinlich, dass sich eine bürgerlich-revolutionäre Bewegung in Deutschland wie in Frankreich entwickelt haben würde, und zwar mit einer genau gleichen Intensität. Ich glaube, dass man die deutsche Industrie dieser Epoche als eine quantité negligeable5 und als einen beinahe kraftlosen Faktor betrachtet hat, um dem ökonomischen Materialismus einen zu bequemen Sieg zu sichern."

Sowenig schmeichelhaft dieser „Glaube" für Marx und seine Schüler ist, so soll mich das nicht hindern, die blendende Logik von Jaurès anzuerkennen. Um sie an einem Beispiel zu erläutern, so sagt er: Man unterstelle einen Augenblick, dass ein Knabe von fünf Jahren bereits ein Kind erzeugt hat, ohne dass er aufgehört hat, eine Knabe von fünf Jahren zu sein, so ist es wahrscheinlich, dass dieser Knabe von fünf Jahren sich schlagen wird wie ein Mann von zwanzig Jahren. Die modernen Nationalstaaten sind ein Kind der Bourgeoisie, und wenn ein feudales Gemeinwesen so bei lebendigem Leibe verfaulte wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im Jahre 1789, so ist damit der unwiderlegliche Beweis geliefert, dass es in diesem Gemeinwesen eine Bourgeoisie als aktionsfähige Klasse überhaupt noch nicht gegeben hat, trotz aller Zitate aus Biedermann, Moser und Forster und trotz aller Anfänge kapitalistischer Produktionsweise, die tatsächlich in Deutschland bestanden. Dass Marx über diese Anfänge ein „vollkommenes Schweigen" beobachtet haben soll, ist übrigens eine Phantasie von Jaurès. Sicherlich kann bei jeder wahrheitsgetreuen Schilderung der Manufakturperiode die deutsche Produktion nur eine sehr beiläufige Rolle spielen, schon weil das Kolonialwesen der Haupthebel der historischen Entwicklung in der Manufakturperiode gewesen ist. Aber diese beiläufige Rolle hat Marx allerdings beachtet, wie schon sein Exkurs über des preußischen Friedrichs „Finanzunwesen und Regierungsmischmasch von Despotismus, Bürokratie und Feudalismus"6 zeigt.

Jedoch hier fließen gerade die Tränen von Jaurès. Er belehrt seine Leser weiter: „Es ist nicht allein die politische Zerstücklung Deutschlands, es ist nicht allein die ungenügende ökonomische Vorbereitung seiner Bourgeoisie, die ohne weiteres den revolutionären Geist lähmten oder verlangsamten. Es kommt hinzu, dass Deutschland seit einem halben Jahrhundert gewöhnt war, den Fortschritt von oben zu empfangen. In Frankreich hatte die Monarchie seit lange ihre wesentliche Aufgabe erfüllt, die darin bestand, die nationale Einheit zu schaffen, und sie war neuerdings durch die persönlichen Laster Ludwigs XV. und die Inkonsequenzen seiner Politik entwürdigt worden: Der französische Gedanke fühlte sich, in seinem Aufschwung des achtzehnten Jahrhunderts, unabhängig vom Königtum. Im Gegensatz dazu hatte das seit dem Westfälischen Frieden zerstückelte, niedergedrückte, erniedrigte Deutschland erst unter der heroischen Aktion Friedrichs II., unter der reformatorischen Aktion Josefs II. begonnen, Vertrauen auf sich zu gewinnen. Der bewundernswerte Souverän, der im Siebenjährigen Kriege gegen fast ganz Europa gekämpft, der sich durch keine Niederlage hatte beugen, durch keinen Sieg hatte blenden lassen, der dann im Frieden das Beispiel einer unermüdlichen und sorgsamen Arbeit gegeben und dem deutschen Gedanken, obgleich er dessen unmittelbare Regungen und gegenwärtige Werke verkannte und geringschätzte, die Wege der Größe eröffnet hatte, war für alle Klassen des deutschen Volkes, für die Soldaten wie für die Gelehrten, für die Bauern wie für die Künstler, der Held der nationalen Wiedergeburt."

So beginnt Jaurès seine Arbeit pour le roi de Prusse7, und nun hält er doch für ratsam, Marx zu verabschieden und mich kleinen Mann beim Ohre zu nehmen. Er fährt fort: „Was hilft's Herrn Franz Mehring, es zu leugnen in seinem Buche über die Lessing-Legende? Indem er sich weigert, die blendende und glänzende Aktion Friedrichs II. anzuerkennen, warum verdammt er sich eben dadurch dazu, die Geschichte des modernen Deutschlands nicht zu verstehen?" Folgt die schon zitierte Stelle über meine gänzlich künstliche Anwendung der Klassentheorie und des ökonomischen Materialismus. „Wie künstlich und gebrechlich ist diese Konstruktion des Herrn Mehring! Zunächst, wenn die deutsche Bourgeoisie, nach seinem eigenen Ausdruck, eine Spätgeburt in der Geschichte der Welt ist, wenn sie völlig unfähig gewesen ist, im neunzehnten Jahrhundert ohne den unheilvollen Beistand der Hohenzollern ihr historisches Werk zu vollbringen, warum erstaunen, dass im achtzehnten Jahrhundert der glorreichste der Hohenzollern, durch seine heroische Tätigkeit zum Aufschwung der Geister, zum Erwachen des Gedankens beigetragen hat? Die Zeugnisse von dem entscheidenden Einfluss Friedrichs II. auf den Genius Deutschlands sind im Überfluss da: Es ist wie ein Strahl von Heldentum und Ruhm, der sich verlängert in einen Strahl von Licht." Das ist die erste Schrotladung, die Jaurès auf mein armes Buch abfeuert, und ich muss dem Schützen noch dankbar sein, dass er mir gemütlich zuredet, wenn ich schon den alten Wilhelm verdauen müsse, so könne ich auch den alten Fritz hinunterschlucken.

Bei aller Dankbarkeit kann ich mich aber der betrübenden Erkenntnis nicht verschließen, dass die historische Methode von Jaurès und die meinige keine Berührungspunkte miteinander haben, dass jede Brücke zwischen uns abgebrochen ist, jede Möglichkeit einer Verständigung zwischen ihm und mir fehlt. Jaurès will sich, wie einer seiner deutschen Bewunderer angibt, von Marx, von Michelet und von Plutarch haben inspirieren lassen, aber in seinem deutschen Kapitel ist weder von Marx noch von Michelet noch von Plutarch, sondern nur von Janssen etwas zu spüren. Es versteht sich, dass ich diese Namen nicht als Personen, sondern als Methoden nehme. Janssen ist der in Deutschland bekannteste Vertreter jener Zitiermethode, in der sich die Tendenzhistorik um so mehr gefällt, je siegreicher sich die historisch-materialistische Methode ausbreitet und je dankenswertere Fortschritte sie auch unter den bürgerlichen Historikern macht. Doch verweilen wir einen Augenblick bei der Zitiermethode!

Ihre Requisiten bestehen in einem Haufen Bücher, einer Schere, einem Papierkorb, einem Kleistertopf und zuletzt auch einer Feder. Will man eine bestimmte historische Periode darstellen, so besorge man sich einen Haufen zeitgenössischer Schriften aus dieser Periode, ein Hundert oder ein Dutzend, je nachdem; Janssen war mehr fürs Hundert, Jaurès ist mehr fürs Dutzend. Dann lese man diese Bücher mit der Schere in der Hand; man schneide aus, was einem so ungefähr plausibel erscheint, und werfe den Rest in den Papierkorb. Dann klebe man die Abschnitte auf und verbinde sie durch sinnige Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen, über die geheimnisvollen Regungen der Volksseele, über die absolute Freiheit, über den Nutzen freisinniger Könige, über die bescheidene Tüchtigkeit der Bourgeoisie, über die Unersättlichkeit des Proletariats und was sonst die Schneiderseele des Philisters im Innersten bewegen mag. Als letztes, aber keineswegs unwirksamstes Ingredienz dient dann noch, sich überrascht, erstaunt, bestürzt über die eigenen Scherengewinste zu zeigen; so bestreue man die Pastete mit einer reichlichen Handvoll Ah! Chose curieuse! Helas!8 und sie ist fertig, auf den Tisch gebracht zu werden.

Diese historische Methode hat mannigfaltige und zahlreiche Vorzüge. Man kann mit ihr alles beweisen, was man will, jede historische Hypothese, so unsinnig sie sein mag. Janssen hat mit ihr bewiesen, dass nie eine Klasse in so angenehmen, behaglichen und satten Verhältnissen gelebt habe wie die deutschen Bauern am Vorabend des Bauernkriegs von 1525; Goltz hat mit ihr bewiesen, dass es nie ein so trefflich ausgerüstetes, gut befehligtes, von Mut und Vaterlandsliebe beseeltes Heer gegeben hat wie die preußische Armee am Vorabend von Jena. Man kann ferner mit dieser Zitiermethode aus denselben „Quellen" das Entgegengesetzte beweisen; man braucht nur, was man gestern dem Papierkorb weihte, heute dem Kleistertopf weihen und umgekehrt. Ältere Leser der „Neuen Zeit" entsinnen sich vielleicht noch, dass Paul Ernst in einer Kritik meiner „Lessing-Legende" durch Zitate aus Justus Moser nachwies, dass es zur Zeit Lessings überhaupt noch keine deutsche Bourgeoisie gegeben habe, während jetzt Jaurès durch Zitate aus demselben Justus Moser nachweist, dass damals die deutsche Bourgeoisie einen verhältnismäßig hohen Grad der Entwicklung erreicht habe, der nur vom historischen Materialismus in trügerischer Absicht zu einer quantité negligeable herabgedrückt werde. Überhaupt eignet sich die Zitiermethode vortrefflich, wissenschaftliche Scharlatans zu entlarven. Jaurès lässt nur dreimal seine Schere über Biedermann, Forster, Moser klappern, und siehe da! strömende Tageshelle verbreitet sich, wo Marx ein künstliches Dunkel herstellte, um der historisch-materialistischen Methode „einen zu bequemen Sieg zu sichern". So glaubte Marx, mit seiner Werttheorie einen wissenschaftlichen Fortschritt gemacht zu haben. Aber: Uralte Geschichte, sagen uns Janssen und auch Jaurès, zwei Seelen und ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag. Das kanonische Recht des Mittelalters erklärte die Arbeit für allein wertschaffend, versichert Janssen, und Jaurès erläutert in seiner Weise, dass in Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat" der Wert nach der Arbeit gemessen werden solle. Nun hat allerdings Marx die Gültigkeit seines Wertgesetzes von der Herrschaft der großen Industrie und der freien Konkurrenz abhängig gemacht, also von historischen Voraussetzungen, von denen das kanonische Recht des Mittelalters nichts wissen konnte und Fichtes „Geschlossener Handelsstaat" nichts wissen wollte, aber tut nichts: Man braucht die Begriffe der Arbeit und des Wertes nur jeder historischen Bestimmtheit zu entkleiden, und man kann durch Zitate aus dem kanonischen Recht und aus Fichte schlagend beweisen, dass Marx erst Amerika entdeckte, nachdem es seit Jahrzehnten oder selbst Jahrhunderten entdeckt war.

Damit sind die Vorzüge der Zitiermethode aber noch lange nicht erschöpft. Sie gibt der wissenschaftlichen Forschung endlich die Flügel, die ihr in dem Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität gebühren. Man kann sie auch die Töff-Töff-Methode nennen, denn man braucht durch seine „Quellen" nur mit der Schnelligkeit eines Automobils zu sausen, und für Schere und Kleistertopf bleibt noch immer mehr übrig, als die gierigste Setzmaschine verschlingen kann. So mag man alle drei Monate in einem dicken Bande eine historische Periode einschlachten, zu deren altvaterisch-wissenschaftlicher Durchdringung drei Jahre oder selbst dreißig gehören würden; Marx hat sogar in dem elenden Postkutschentrab des historischen Materialismus vierzig Jahre gebraucht, um von den drei Bänden seines „Kapitals" nur einen druckfertig zu stellen. Ferner gibt die Zitiermethode ihren Meistern jenes vornehme Air, jenes zermalmende Pathos, womit Jaurès mich erdrückt. „Hier sind die Zeugnisse eines Goethe und eines Lessing, eines Fichte und eines Hegel, und dagegen wagen Sie anzukämpfen, Herr Müller oder Schulze?" Nicht zu vergessen, dass die Helden der Zitiermethode, sobald sie erst einige Handfertigkeit erlangt haben, aus zehn Zitaten eine Burg erbauen können, deren Erstürmung eine langwierige Belagerung erfordert.

In dieser Lage befand ich mich, als ich mein Buch über Lessing schrieb. Es lassen sich aus unserer klassischen Literatur, namentlich aus Goethe und Lessing, eine Anzahl Zitate beibringen, wonach eben diese Literatur ihren ersten Anstoß, ihren eigentlichen und wahren Gehalt durch das friderizianische System erhalten haben soll, durch die Regierung eines borussischen, in jeder Fiber antinationalen Autokraten, durch jenen Mischmasch von Despotie, Bürokratie, Feudalismus, von dem Marx spricht. Diese Zitate waren von der offiziellen Geschichtsschreibung zu dem Kartenhaus einer Legende aufgebaut worden, wobei die viel zahlreicheren Zitate ganz entgegengesetzten Sinnes natürlich im Papierkorb verschwanden. Es wäre nun leicht gewesen, die versenkten Zitate wieder hervorzuholen, um jene Legende zu zerstören, aber dann hätten diejenigen Zitate, auf die sie sich stützte, in den Papierkorb wandern müssen, und an diesem kindischen Spiel hatte ich kein Gefallen. Ich zog es vielmehr vor, das Zeitalter Friedrichs und unserer klassischen Literatur nach historisch-materialistischer Methode zu studieren, um darnach den historischen Wert der Zitate festzustellen, auf die sich die borussische Legende stützt. Im ersten Teile meines Buches beschäftige ich mich hauptsächlich mit dem wichtigsten dieser Zitate, mit der „berühmten Stelle" aus „Dichtung und Wahrheit", worin Goethe den borussischen Despoten allerdings als den belebenden Genius unserer klassischen Poesie feiert und in Lessing einen Hauptzeugen für diese Ansicht sieht. Ich untersuche dies Zitat zunächst nach seiner subjektiven Seite, nämlich wie sein Urheber Goethe aus dem sozialen Milieu heraus, worin er lebte, zu dieser Ansicht gekommen sei, und dann nach seiner objektiven Seite, nämlich ob das friderizianische System, das ich eingehend nach seiner Diplomatie, Kriegführung, Verwaltung, Rechtsprechung, Kirchen- und Schulpolitik usw. schildere, eine kulturfördernde oder kulturhemmende Macht gewesen sei. Ich komme dabei zu dem Resultat, dass dies System im ausgesprochensten und feindseligsten Gegensatz zu einer Kulturerscheinung gestanden hat, wie [es] unsere klassische Literatur war. Immerhin brauche ich, um das Zitat aus Goethe klarzustellen, ungefähr das Hundertfache des Raumes, den es selbst einnimmt.

Wie nun stellt sich Jaurès zu diesem Teile meiner Arbeit? Er druckt die „berühmte Stelle" aus Goethe nochmals ab und fügt die sinnige Betrachtung zu: „Herr Mehring gelangt nicht leicht dazu, sich das historische Zeugnis Goethes vom Halse zu schaffen." Weiter nichts. Noch kürzer tut Jaurès dann den zweiten Teil meines Buches ab, worin ich das Leben Lessings als einen ununterbrochenen Kampf mit dem friderizianischen System schildere. „Lessing hat immer anerkannt, dass die neuen Kühnheiten des deutschen Genius aus den großen Tatkühnheiten (audaces d'action) Friedrichs II. hervorsprudelten." Das ist wiederum alles. Ich werde noch zeigen, dass mit dieser vernichtenden Energie selbst nicht einmal die offiziell-preußische Geschichtsschreibung pour le roi de Prusse arbeitet.

Immerhin macht Jaurès einige leise Anläufe, um wenigstens das soziale Milieu anzudeuten, worin die Zitate aus Goethe und Lessing entstanden sind. Er gibt ein biographisches Detail über Goethe, und sogar deren zwei über Lessing. Die Gerechtigkeit gebietet, um so mehr davon Notiz zu nehmen, als Jaurès hier nicht bloß Scherengut, sondern auch Originalwerk liefert. So sagt er, dass Goethe in Weimar mit den Brüdern Humboldt und den Brüdern Schlegel, mit Voss und Jean Paul zusammengelebt habe, was vor Jaurès noch kein Sterblicher behauptet hat. Ebenso wenig hat noch je ein Sterblicher das erste biographische Detail behauptet, das Jaurès über Lessing gibt, die Notiz nämlich, dass Lessing nahezu ein halbes Jahrhundert in Preußen gelebt habe. Lessing ist überhaupt nur zweiundfünfzig Jahre alt geworden. Ins Preußische kam er zuerst im zwanzigsten Lebensjahr und verließ es wieder im achtunddreißigsten Lebensjahr; rechnet man ab, dass er auch während seiner preußischen Zeit gelegentlich nach Sachsen zurückgesiedelt ist, so hat er etwa den dritten Teil seines Lebens in Preußen verbracht, nicht aber, wie Jaurès behauptet, nahezu sein ganzes Leben. Wie kommt nun Jaurès zu diesem schauderhaften Bock, den er, wenn er nicht über die Vogesen klettern wollte, schon aus der „Biographie Universelle" oder der „Nouvelle Biographie Universale" berichtigen konnte? Ich kann hier nur eine bescheidene Vermutung wagen. Gleich auf den ersten Seiten meiner „Lessing-Legende", wo ich untersuche, weshalb gerade Lessing unter unseren Klassikern zum Opfer der borussischen Legende geworden sei, sage ich: „Er, der geborene Sachse, hatte einen großen, wenn nicht den größten Teil seiner schaffenden Zeit freiwillig in Preußen verlebt; ein halbes Jahrzehnt lang war er der Sekretär eines preußischen Generals gewesen, noch dazu im Siebenjährigen Kriege." Sollte etwa Jaurès, als er auf dem Automobil durch mein Buch sauste, diese Sätze dahin verlesen haben, dass Lessing nahezu ein halbes Jahrhundert in Preußen gelebt habe?

Das andere biographische Detail, das Jaurès über Lessing beibringt, ist allerdings wieder Scherengut. Von jeher haben byzantinische Leisetreter zu erzählen gewusst, dass Lessing seine „Freimaurergespräche" „seinem Fürsten", seinem „hohen Gönner und Landesherrn" gewidmet habe, jenem Herzog von Braunschweig, der später als Generalissimus des feudalen Europas mit einem berüchtigten Brandmanifest in das revolutionierte Frankreich einbrach und dann nach der Niederlage bei Valmy im Kote der Champagne ein so trübseliges Ende seiner Heldenfahrt fand. Ich berichtige das byzantinische Märlein in einer Note meines Buches, indem ich etwa sage: Lessing hat seine „Freimaurergespräche" nicht dem regierenden Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig gewidmet, sondern dem apanagierten Herzog Ferdinand, nicht dem Neffen, sondern dem Onkel, nicht dem Besiegten von Valmy und Jena, sondern dem Sieger von Krefeld und Minden, nicht dem Liebling Friedrichs II., sondern dem freimütigen Gegner der friderizianischen Despotie, nicht dem Schurken, der seine Landeskinder an England als Kanonenfutter gegen die amerikanischen Rebellen verkaufte, sondern dem wackeren Soldaten, der sich weigerte, den ihm von der englischen Regierung angebotenen Oberbefehl gegen die amerikanischen Rebellen zu übernehmen. Bei seinem so berechtigten wie tiefen Misstrauen gegen den historischen Materialismus glaubt aber Jaurès an meine Berichtigung nicht, sondern tischt abermals jenes byzantinische Märlein auf. Diese Tugend findet sofort ihren Lohn, indem er nun gleich drei Fliegen mit einer Klappe schlägt: er entdeckt eine chose curieuse, er wird eine besonders sinnige Betrachtung los, und er zeigt, wie intellektuelle Kräfte in die ökonomischen Gründe der Dinge eingreifen. Er schreibt von Lessings „Freimaurergesprächen": „Merkwürdige Sache, Lessing widmet seine Gespräche dem Herzog Ferdinand von Braunschweig, demselben Herzog von Braunschweig, der später mit Kummer das denkwürdige Manifest gegen das revolutionäre Frankreich unterzeichnen wird. Wer weiß, ob die Erinnerung an Lessings großen menschlichen Gedanken nicht auf ihm lastete bei seinem langen und traurigen Marsche durch die verwüstete Champagne … Wie konnte er herzhaft (de grand coeur) kämpfen, wenn der ganze illustre Gedanke Deutschlands gegen ihn war? So lag die Kraft der neuen Ideen auf Braunschweig wie eine Last." Chose curieuse in der Tat! Bisher bestand eine seltene Übereinstimmung aller Historiker darüber, dass die Niederlage der feudalen Koalition, deren Heere den französischen Freiwilligen militärisch weit überlegen waren, auf ökonomische Gründe zurückzuführen sei, aber Jaurès fügt die forces intellectuelles als entscheidendes Gewicht der Niederlage ein. Der Löwenmut des braunschweigischen Menschenverkäufers wurde durch die Last der neuen Ideen gebrochen, und diese geistreiche Geschichtskonstruktion hat zur ehernen Basis den Schwindel einiger byzantinischen Leisetreter!

Haben Lessings „Freimaurergespräche" die französische Freiheit gesichert, so sichert seine „Erziehung des Menschengeschlechtes" die absolute Freiheit, was immer Jaurès darunter versteht. Nach ihm nimmt in dieser Schrift der freie Geist ewigen Besitz vom Weltall, zunächst allerdings in „mystischer Hülle" aus revisionistischer Vorsicht. „Heftig in die Welt geworfen, würde diese Doktrin, indem sie das ganze System der Ideen revolutioniert, auch das ganze politische und soziale System revolutionieren können, denn das menschliche Individuum, indem es sich in seinen Lohn und seine Strafe findet und unzähliger Wiedergeburten fähig ist, mit sich allein als Regel und Zweck, ist im Grunde auch gänzlich von Gott befreit, gänzlich und für immer; wie würde es in der Phase des Weltalls, darin es sich jeweilig befindet (dans la phase de l'univers où il est engage), die Tyrannei der geringeren Mächte ertragen können? Hier, wo Herr Mehring mit seiner armselig ökonomischen und eng materialistischen Auslegung des menschlichen Gedankens nur einen Reflex dessen sieht, was er ,das deutsche Elend' nennt, sehe ich, im Gegenteil, eine bewundernswerte Gedankenkühnheit, die zur absoluten Freiheit geht." Ich will ausdrücklich bemerken, dass ich nicht ganz sicher bin, ob meine Übersetzerfähigkeit diesem hochtrabendem Kauderwelsch gerecht geworden ist, aber ein Schelm gibt mehr, als er hat, und ungefähr so wird es wohl stimmen.

Es tut mir leid, mich wiederholen zu müssen, aber indem Jaurès mit dem Automobil durch mein Buch gesaust ist, hat er wieder nicht ordentlich gelesen, was ich geschrieben habe. Ich führe die „Erziehung des Menschengeschlechtes" nicht auf das „deutsche Elend" zurück; ich sage vielmehr, dass dieser „meisterhaft geschriebene Aufsatz" seinen Schwerpunkt nicht in der am Schlusse auftauchenden Hypothese der Seelenwanderung habe, und nur von dieser „phantastischen Perspektive" sage ich, dass sie sich aus dem „deutschen Elend" erkläre, insofern als ein so weltfreudiger, jedem Unsterblichkeitsgedanken so abgeneigter Mann wie Lessing unter dem furchtbaren Drucke der jammervollen Zustände, unter denen er namentlich in seinen letzten Lebensjahren hinsiechte, sich eine „bessere Zukunft" nur unter dem Bilde der Seelenwanderung habe vorstellen können. Im Übrigen analysiere ich die „Erziehung des Menschengeschlechtes" als einen Versuch, gerade aus der historischen Berechtigung der geoffenbarten Religionen die historische Notwendigkeit ihres Verfalls zu erweisen, und ich weise darin die Keime sowohl von Hegels Religionsphilosophie wie von Kants Sittenlehre nach. Das mag „armselig ökonomisch und eng materialistisch" sein, aber mit seiner „Gedankenkühnheit", seiner „absoluten Freiheit", seinem „freien Geiste, der das Weltall in ewigen Besitz nimmt", kann Jaurès auch nicht viel Staat machen. Soweit diese pompösen Tiraden nämlich einen greifbaren Sinn haben, sind sie ein Abklatsch der pfäffischen Denunziation, womit der Hauptpastor Goeze dem Herzog von Braunschweig klarmachte, dass Lessing mit seiner Kritik der Bibel und der Religion auch die „hohen Gerechtsame" des Hauses Braunschweig gefährde, mit anderen Worten, dass der Revolutionierung der Ideen die Revolutionierung der politischen und sozialen Ordnung auf dem Fuße folge.

Jaurès lässt sich aber nicht daran genügen, mit demselben Eifer wie die offizielle Geschichtsschreibung pour le roi de Prusse zu arbeiten; er führt auch Herder und Klopstock gegen meine „Lessing-Legende" ins Feld. Diese beiden Vertreter unserer klassischen Literatur zu Ehren des friderizianischen Systems auszuschlachten, hat noch kein deutscher Byzantiner gewagt, haben selbst die erprobtesten Kräfte der borussischen Zitiermethode bisher abgelehnt. Nicht nur deshalb, weil sich in den Schriften Herders und Klopstocks, so umfangreich sie sind, kaum irgendwelche für die offizielle Legende verwertbare Zitate finden, sondern vornehmlich aus einem immerhin ehrenwerteren Grunde, aus einer Regung – wie soll ich sagen? – der Scham oder des Gewissens. Herder und Klopstock waren nämlich preußische Militärflüchtlinge; beide sind nur deshalb Zierden der deutschen Kultur und Literatur geworden, weil es ihnen rechtzeitig gelang, den liebenden Armen ihres Landesvaters Friedrich, der Fuchtel und den Spießruten, der entwürdigenden, jedes menschliche Selbstbewusstsein vernichtenden Schmach eines zwanzigjährigen Militärdienstes zu entwischen, dem einen nach Dänemark, dem anderen nach Russland; diese Männer als Schwurzeugen für die Kultur des friderizianischen Systems anzurufen, erfordert in der Tat einen gewissen Mut, dessen Mangel eine erträgliche Seite der borussischen Legende ist.

Jaurès besitzt aber diesen Mut, und so donnert er mich an: „Wie kann Herr Mehring die Zornausbrüche Herders anrufen, der Berlin verflucht habe?" Ich erwähne nun Herder in diesem Zusammenhange nur ganz beiläufig; auf derselben Seite, wo ich ausführe, weshalb der geborene Kursachse Lessing zum Opfer der borussischen Legende geworden sei, sage ich, dass der geborene Preuße Herder dazu nicht getaugt habe; er habe seine Heimat mit einem Fluch und einem Steinwurf verlassen, und was er über das „Reich des Pyrrhus" ausführe, spotte jeder Mohrenwäsche. Jaurès unternimmt nun diese Mohrenwäsche versteht sich mit einem Zitat, und zwar aus Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität". Allerdings sind diese Briefe ein fortlaufender Kampf gegen das friderizianische System, gegen die Politik der Höfe, den größten Feind der europäischen Menschheit, gegen die Pfäfferei und den wilden Kriegsgeist, gegen das barbarische Kriegs- und Eroberungssystem; Herder fragt: „Denken Sie sich eine Gattung Tiere, die nicht Bedürfnisses, sondern des Vergnügens, der Kunst, der Raserei eines einzigen ihrer Art wegen sich selbst aufriebe, was würden Sie vom Urheber der Natur sagen? Sich selbst zu regieren, einander zur Glückseligkeit zu verhelfen, dazu ist das menschliche Geschlecht gemacht, nicht einander zu sieden, zu braten oder zu töten." Aber als Herder diese Briefe, einige Jahre nach dem Tode des Königs Friedrich, schrieb, war gerade dessen literarischer Nachlass erschienen und darunter der Briefwechsel mit Voltaire, worin Friedrich die herrlichsten und humansten, seine Praxis ohrfeigenden Grundsätze ausspricht. Das benutzt Herder, um das friderizianische System durch die persönlichen Ansichten seines Trägers zu diskreditieren, und macht dabei der Person des Königs einige Komplimente, wie ich es aus Gründen der Gerechtigkeit in meiner „Lessing-Legende" auch getan habe. Diese Komplimente druckt nun Jaurès ab und richtet dann wieder die Donnerfrage an mich: „Wie hat Herr Mehring den Namen Herders anrufen können, um den Einfluss Friedrichs II. auf den großen deutschen Gedanken zu leugnen?" Es ist sehr schön, aber es kommt noch schöner.

Jaurès erzählt, Friedrich II. sei für Klopstock der Typus der Größe gewesen. Anfangs zwar habe dem Dichter der Eroberer missfallen, aber endlich seien die Aktionen Friedrichs für Klopstock der Gipfel des Jahrhunderts, der Maßstab jedes Ruhmes gewesen. Tatsächlich steht die Sache umgekehrt. Wenn Klopstock in seinen jungen Tagen, als Freund des friderizianischen Reimschmieds Gleim, wohl ein Wort für den „gepanzerten Denker" übrig gehabt hat, so hat er doch schon von sehr früh an den König und dessen Regierungssystem mit zornglühenden Oden überschüttet, ein Jahrzehnt um das andere, bis zum Tode Friedrichs, dessen abgeschmackte Schrift über die deutsche Literatur allein drei oder vier grimmige Oden Klopstocks hervorrief, während Herder bei diesem Anlass den König mit einem bei lebendigem Leibe umgehenden Gespenst verglich. Man mag darüber streiten, ob Klopstock immer gerecht gegen Friedrich gewesen ist; ich selbst hebe in meiner „Lessing-Legende" hervor, dass Lessing mit seiner kalten Verachtung alles fürstlichen Mäzenatentums über Klopstock gestanden habe, der im Schutze eines dänischen Königs über den „Fremdling im Heimischen" schalt, und noch viel derber sagt Gervinus in seiner Literaturgeschichte: „In seinem vaterländischen Schwindel schrieb Klopstock jene heftigen Oden gegen den französierenden Friedrich II., in denen zuletzt keine Spur von Achtung für den großen Mann übrigblieb." Aber wie man immer über den Krieg Klopstocks gegen Friedrich denken mag, an der Tatsache dieses Krieges hat noch kein borussischer Byzantiner zu zweifeln gewagt; das blieb dem Historiker Jaurès vorbehalten.

Seinen Beweis führt er natürlich nach der Zitiermethode. Aus einem „Vaterlandslied", das Klopstock zum Singen für eine seiner Nichten dichtete, zitiert Jaurès:

Ich bin ein deutsches Mädchen!

Mein Aug' ist klar und sanft mein Blick,

Ich hab' ein Herz,

Das edel ist und stolz und gut.

Ich bin ein deutsches Mädchen!

Zorn blickt mein blaues Aug' auf den,

Es hasst mein Herz Den, der sein Vaterland verkennt!

Ich bin ein deutsches Mädchen!

Mein gutes, edles, stolzes Herz

Schlägt laut empor

Beim süßen Namen Vaterland!

So schlägt es einst beim Namen

Des Jünglings nur, der stolz wie ich

Aufs Vaterland, Gut, edel ist, ein Deutscher ist!

An dieses Zitat schließt Jaurès folgende sinnige Betrachtung, indem er die Nichte Klopstocks mit der Muse Klopstocks vertauscht: „So sang im Jahre 1770 die Muse Klopstocks, und diese gereizten Anspielungen richten sich an den großen König, der für Deutschland zugleich ein Ruhm und ein Schmerz ist." Was Jaurès darunter versteht, mag ich nicht zu sagen. Fräulein Johanna Elisabeth von Winthern, in deren Mund das Gedicht gelegt ist, konnte doch weder unter dem gehassten noch dem geliebten Jüngling den König verstehen, schon weil er gar kein Jüngling war, sondern achtundfünfzig Jahre zählte. Zudem waren die seltsamen Liebesneigungen des Königs seinen Zeitgenossen viel zu bekannt, als dass ein noch so süßes Girren eines blauäugigen Mägdeleins irgendwelchen Eindruck auf den alten Herrn verheißen hätte, selbst wenn Klopstock seine leibliche Nichte öffentlich in den Verdacht einer so seltsamen Geschmacksverirrung hätte bringen mögen. Genug also, wie reichlich ökonomisch und wie weit materialistisch diese Auslegung von Jaurès sein mag, so ist sie gleich geheimnisvoll für Weise wie für Toren. Wollte er aber seine Leser darüber unterrichten, wie Klopstock im Jahre 1770 über Friedrich dachte, so fand er dicht neben dem „Vaterlandslied" eine Ode aus der gleichen Zeit. Sie trägt den Titel „Die Rosstrappe" und zeigt den Dichter am Ufer der schäumenden Bode, sinnend über Friedrich II. und Josef II., und sein Urteil über diese beiden, von Jaurès gefeierten Helden der nationalen Wiedergeburt zusammenfassend in dem Schlussvers:

Sie leben, gebückt, gekrümmt, eisgrau,

Starräugig, noch kaum ihr sieches Leben,

So seh' ich sie wallen umher mit des Bachs Dampfe, Schattengestalten!

Man verstehe wohl! Jaurès will uns sagen, wie Klopstock ums Jahr 1770 über Friedrich gedacht hat. Nun spricht eine gleichzeitige Ode Klopstocks allerdings mit wünschenswerter Deutlichkeit über den König, jedoch in einem Sinne, der nicht in den Kram Jaurès' passt. Also versenkt er diese Ode in den Papierkorb und presst dafür in eine andere Ode Klopstocks aus dem Jahre 1770, die sich gar nicht auf Friedrich bezieht, Anspielungen auf diesen hinein, mit einer gewiss bewundernswerten Kraft, wie sie etwa der Heros von Jaurès an die Eroberung Schlesiens gesetzt haben mag. Hier haben wir ein Musterbeispiel der Zitiermethode.

Doch genug und übergenug! Es bleibt nur noch übrig, zu zeigen, dass Jaurès in dem Maße, wie er die preußischen Historiker in der Absicht pour le roi de Prusse überflügelt, sie auch überflügelt in der Vernichtung der historisch-materialistischen Literatur. Mein Buch über Lessing kämpft von der ersten bis zur letzten Seite gegen die preußischen Historiker; von ihrer Kritik irgendwelche Schonung zu erwarten, war ich nicht berechtigt und habe ich gewiss nicht beansprucht. In der Tat leitete die „Historische Zeitschrift", das Hauptorgan der von mir angefochtenen Richtung, ihre Anzeige meiner „Lessing-Legende" mit den üblichen Scherzen über „sozialdemokratische Wissenschaft" ein, erkannte aber an, dass meine Schilderung des friderizianischen Staates, was das Tatsächliche betreffe, auf gründlichem Studium der besten Hilfsmittel beruhe und auch von den „bürgerlichen" Historikern mit Nutzen gelesen werden könne. Die „Historische Zeitschrift" schloss dann: „Unseren entgegengesetzten Standpunkt sowohl bezüglich der Methode wie der Auffassung wollen wir hier nicht begründen; wir möchten vielmehr darauf hinweisen, dass es falsch wäre, dergleichen Bücher einfach zu ignorieren, und dass die historische Wissenschaft aus der unbefangenen Würdigung einer so grundsätzlich verschiedenen Anschauung vom Staate und von den Mächten des geschichtlichen Lebens keinen geringeren Vorteil ziehen wird, als es in ihrer Weise die Nationalökonomie getan hat." Man vergleiche mit dieser Kritik die faden Sottisen, womit Jaurès mein Buch überschüttet.

Nicht, als ob ich mich darüber beklagen möchte. Vielmehr finde ich die Sache vollkommen in der Ordnung. Jaurès ist dabei als Revisionist ebenso auf seinem Platze, wie ich als „orthodoxer Marxist" auf dem meinigen.

1 Jean Jaurès: Histoire de la République française 1789-1900, Paris 1901-1908.

2 Mehring spielt an auf Werner Sombart: Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, Jena 1901, S. 125.

3 Mehring meint Gustav von Gülich: Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe und des Ackerbaus der bedeutendsten handeltreibenden Staaten unserer Zeit, Jena 1830. Friedrich Engels fertigte einen ausführlichen Konspekt über dieses Werk an.

4 Mehring spielt an auf Karl Biedermann: Deutschland im 18. Jahrhundert, o. O. 1854-1880.

5 quantité negligeable – nicht weiter zu berücksichtigende Größe.

7 pour le roi de Prusse – für den König von Preußen.

8Chose curieuse! Helas! – Merkwürdige Sache! Leider!

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