Franz Mehring 18940425 Zur historisch-materialistischen Methode

Franz Mehring: Zur historisch-materialistischen Methode

April-Mai 1894

I

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 142-148, 170-175. Nach Gesammelte Schriften, Band 9, S. 369-386]

In den Nummern 27 und 28 der „Neuen Zeit" hat Paul Ernst1 mein Buch über Lessing einer längeren Kritik unterzogen2. Die Art und Weise, wie er dabei verfährt, zwingt mich zu einer Antwort. Ich bin weit entfernt, irgendwelche Unfehlbarkeit für die Ergebnisse meiner Studien über Lessing zu beanspruchen; ich weiß sehr wohl, dass man bei dem gegenwärtigen Zustande des Quellenmaterials manches anders auffassen kann, als ich es aufgefasst habe; am allerwenigsten maße ich mir an, ein Meister der historisch-materialistischen Methode zu sein. Hätte Friedrich Engels, den ich als solchen Meister anerkenne, die Kritik, die er meiner „Lessing-Legende" in einem ausführlichen Privatschreiben widmete, in der „Neuen Zeit" veröffentlicht, so wäre mir das eine doppelte Ehre und Freude gewesen, und nicht im Traume hätte ich daran gedacht, darauf zu erwidern. Ich hätte mich begnügt, dankbar daraus zu lernen, wie ich es jetzt auch getan habe.

Aus der Kritik von Paul Ernst vermag ich aber beim besten Willen nichts zu lernen, obgleich ich anerkenne, dass er eine Anzahl Lesefrüchte beibringt, die mir bis dahin unbekannt waren. Jede Kritik muss sich doch so weit nach ihrem Objekte richten, dass sie sich auf das einlässt, was der kritisierte Autor behandelt und was er zu sagen hat. Paul Ernst kennt aber weder Lessings Leben und Schriften genügend, noch hat er mein Buch mit irgendwelcher Aufmerksamkeit gelesen, und über diese Mängel vermögen mich seine ja gewiss sehr dankenswerten Lesefrüchte aus calenbergischen und sonstigen Autoren nicht zu trösten. Aber auch dieser Umstand würde mich nicht zu einer Erwiderung veranlassen. Was mich dazu zwingt, ist die Art und Weise, wie Paul Ernst mit dem historischen Materialismus umspringt. Er bekennt sich zwar mit Worten zu ihm, macht aber in Taten ein solches Gespenst aus ihm, dass die Gegner der materialistischen Forschungsmethode leichtes Spiel haben würden, wenn es so um sie bestellt wäre, wie Paul Ernst sie handhabt.

Er behauptet, dass ich aus der ökonomischen Bewegung direkt, mit Umgehung ihrer Übersetzung in Psychologie schlösse, dass ich dadurch zu rationalistischer Konstruktion gezwungen würde und zu Behauptungen gelangte, die der Wirklichkeit nicht entsprächen und daher kaum weniger wert seien wie – Paul Ernst meint wohl: kaum mehr wert als – die Elaborate eines ganz ideologischen Historikers. Er ruft aus: Was hat (außer den ökonomischen Zuständen seiner Zeit und seines Landes) nicht noch alles weiter auf Lessing eingewirkt: die individuelle Beanlagung, das soziale Milieu, in welchem er aufgewachsen ist, und seine persönliche Lebenslage; die rein geistigen Einflüsse, die auf ihn wirkten, und vor allem die Art, wie er und seine ganze Zeit auf die äußeren Eindrücke reagierten. Nur im letzten Grunde beruht die Ideologie auf den materiellen Verhältnissen.3 So Paul Ernst. Nun suche ich in meinem Buche im allgemeinen zu beweisen, dass es falsch ist, unsere klassische Literatur aus den Taten Friedrichs II. abzuleiten, dass sie vielmehr den beginnenden Emanzipationskampf der bürgerlichen Klasse darstellt, der sich wegen der mangelhaften Entwicklung dieser Klasse in Deutschland vorerst in den Ätherhöhen der Idee vollzogen habe. Was nun auf diesem „letzten Grunde" je nach individueller Beanlagung, sozialem Milieu, persönlicher Lebenslage, rein geistigen Einflüssen usw. in erster Reihe aus Lessing, in zweiter aus Klopstock, Winckelmann, Herder, Schiller, Goethe geworden ist, das suche ich im Einzelnen darzulegen. Ich muss in der Tat zweifeln, ob Paul Ernst mein Buch überhaupt gelesen hat.

Doch vielleicht meint er, ich hätte die Sache am falschen Ende angegriffen, und jedenfalls ist er so gütig, mir zu sagen, wie ich sie am richtigen Ende hätte anpacken sollen. Er schreibt: „Lessing war der Sohn eines Landpastors und blieb bis zu seiner Wolfenbütteler Anstellung ein Bohemien. Das dürften die nächsten wichtigen Umstände sein, welche auf seinen Charakter und seine intellektuelle Entwicklung bestimmend einwirkten." Paul Ernst ergeht sich dann in einem Exkurs über die Lage der protestantischen Pfarrer im vorigen Jahrhundert, der teilweise richtig ist. Diese Pfarrer waren jämmerlich besoldet, mussten oft durch eine entwürdigende Heirat ihr Amt erlangen usw.; kürzer und schlagender, als Paul Ernst es mit seinen Lesefrüchten beweist, sagt es schon das Sprichwort: Willst du die Pfarre, so nimm die Quarre. Unrichtig ist es aber, wenn Paul Ernst behauptet, dass der Pfarrer oft genug dem Junker mutig entgegengetreten sei. Es ist selten genug geschehen. Und nicht minder unrichtig ist, dass die Pastoren vermittelst der Kirchenzucht ein völliges Regiment über ihre Pfarrkinder gehabt haben sollen. Das hat der protestantische Pfarrer nie gehabt, und statt eine Stelle aus Mosers „Patriotischen Phantasien" anzuziehen, die nicht von der Kirchenzucht, sondern von zahlreichem Kirchenbesuch, also von ganz etwas anderem spricht, hätte Paul Ernst lieber einen Blick in die unendlichen Klagelieder der protestantischen Geistlichen über die Unbotmäßigkeit ihrer Pfarrkinder werfen sollen. Sie reichen von Luther bis auf – Lessings Vater, dessen Briefe an unseren Lessing ein ewiges Stöhnen über das harte und launische Regiment sind, das – seine Pfarrkinder über ihn führten. Und Gotthold Ephraim weiß auch keinen anderen Rat, als dass der Vater „die dummen, boshaften Camtzer" mit schweigender Verachtung strafen solle.

Nach Paul Ernst war es nun „außerdem wichtig", dass der Pastor stets Landwirtschaft trieb. Mindestens zur Hälfte war er Bauer, und „auch ohne Quellenbelege" nimmt Paul Ernst an, dass die Jungen des Pastors auf den Pferden herumgeritten und mit dem Knecht ins Holz gefahren, dass sie nicht bleichsüchtige Stubenhocker, sondern recht frische und gesunde Jungen geworden seien. Der Pastorensohn wuchs in einer ganz naturalwirtschaftenden Umgebung auf. Dabei warnt uns Paul Ernst, die Leibeigenen des vorigen Jahrhunderts uns viel unfreier als die heutigen Proletarier vorzustellen. Heute herrsche zwar theoretisch völlige Gleichheit, aber nicht einmal der „Unehrliche", der Schäfer, geschweige denn der leibeigene Bauer des vorigen Jahrhunderts hätte es verstanden, was heute vorkomme, dass nämlich ein Geschäftsmann, der eine Verkäuferin annehme, auf den Gedanken kommen könne, sie sich nackt vor ihm ausziehen zu lassen. Von dieser Grundlage seiner historischen Forschungen aus „betrachtet" Paul Ernst die „Vertreter unserer klassischen Literatur" und „findet" erstens, dass „eine große Menge von ihnen aus protestantischen Pfarrhäusern stammt", und zweitens, dass „Lessing als Pastorensohn vom Lande schon ein gutes Teil Freiheitsgefühl mitbrachte".

Abgesehen von einigen Größen zweiten Ranges, wie Gellert, Bürger, Wieland etc., bestand die „große Menge" der Pastorensöhne unter den bahnbrechenden Vertretern der klassischen Literatur, Klopstock, Winckelmann, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Kant, Fichte, aus dem einzigen Lessing. Und dieser „Pastorensohn vom Lande" war ein Pastorensohn von der Stadt. Kamenz ist eine der schon aus dem Mittelalter bekannten sechs Städte der Lausitz. Die Feder sträubt sich, dergleichen Banalitäten erst niederzuschreiben, aber Paul Ernst lässt mir keine Wahl. Lessings Vater hat nie Landwirtschaft getrieben, hat nie einen Gaul besessen, nie einen Knecht ins Holz geschickt. Und wie sehr er nicht in einer „ganz naturalwirtschaftenden", sondern in einer ganz geldwirtschaftenden Umgebung lebte, das hat der arme Gotthold Ephraim all sein Lebtag an seinem Geldbeutel zu spüren gehabt. Doch gesetzt, dieser wäre ein Pastorensohn vom Lande gewesen, hätte Paul Ernst dann mit seinen Schlussfolgerungen recht? Hätte ich den Weg gehen müssen, den er mir vorschreiben will? Nun, wenn ich es getan hätte, so würde ich in der Tat den Vorwurf verdient haben, den er mir jetzt sehr mit Unrecht macht: ich würde Lessings Zeit mit meinen und nicht mit Lessings Augen angesehen haben.

Was Paul Ernst über die Pastorenjungen vom Lande schreibt, lag mir näher, als er glauben mag. Ich stamme selbst aus einer alten Landpastorenfamilie, habe als Kind viel in ländlichen Pfarrhäusern gelebt, bin mit den Knechten ins Holz gefahren, und wenn ich auch nicht weiß, was ich dadurch an „Freiheitsgefühl" gewonnen haben soll, so war doch der erste Traum meines Ehrgeizes, Kutscher zu werden. Indessen, auch ein solcher Kindertraum ist von der jeweiligen ökonomischen Struktur der Gesellschaft abhängig, und ein Pastorenjunge in der Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte so gar nicht träumen – von wegen der Leibeigenschaft der ländlichen Bevölkerung. Nach dem Vorgange von Rudolf Meyer sieht Paul Ernst neuerdings die Lage der Leibeigenen des vorigen Jahrhunderts in verhältnismäßig rosigem Lichte, allein, wenn er diesen historischen Irrtum, über den ich mich hier nicht näher verbreiten kann, durch sein Beispiel von der nackten Verkäuferin stützen will, so kann ich ihm nur mit Lessing antworten: „Wenn das keine μεταβασιςε ίς αλλο γενος4 ist, so weiß ich nicht, was Aristoteles sonst unter dieser Benennung verstanden." Paul Ernst springt einfach aus dem weiblichen ins männliche Geschlecht über, wenn er sagt, eine so schamlose Zumutung, wie sie der moderne Bourgeois wohl seiner Lohnsklavin stelle, hätte der leibeigene Bauer nicht verstanden. Freilich nicht! Nach dem nackten Bauern trug der Junker kein Gelüste, aber um so mehr nach der nackten Bäuerin, und das Recht der ersten Nacht stümpern die heutigen Bourgeois ja doch nur den feudalen Junkern nach.

Wie Lessing zu jener hörigen Bevölkerung stand, in deren Verkehr er „ein gut Teil Freiheitsgefühl" eingesogen haben soll, das hat er selbst in einem jugendlichen Gedichte ausgesprochen, just da er aus Haus und Schule ins Leben trat. Es ist ein faustisches Selbstgespräch über die Religion, worin es heißt:

Hier hilft kein starker Geist, von Wissenschaft genährt…

Er und der halbe Mensch, verdammt zum sauren Pflügen,

Auf welchem einzig nur scheint Adams Fluch zu liegen,

Der Bauer, dem das Glück das Feld, das er durchdenkt,

Und das, das er bebaut, gleich eng und karg umschränkt,

Der sich erschaffen glaubt zum Herrn von Ochs und Pferden,

Der, sinnt er über sich, sinnt, wie er satt will werden,

Der seine ganze Pflicht die Hofedienste nennt,

Im Reiche der Natur zur Not das Wetter kennt:

Sie, die sich himmelweit an stolzer Einsicht weichen,

Sie, die sich besser nicht als Mensch und Affe gleichen,

Sind sich nur allzu gleich, stiehlt, trotz dem äußern Schein,

In beider Herzen Grund ein kühner Blick sich ein.

In beiden steht der Thron des Übels aufgetürmet,

Nur dass ihn der gar nicht, und der umsonst bestürmet,

Nur dass frei ohne Scham das Laster hier regiert

Und dort sich dann und wann mit schönen Masken ziert.

Und wie es dann noch in einem gleichzeitigen Gedichte heißt:

Dem Junker und dem Baur fehlt noch gleich viel Verstand.

Das ist der wirkliche junge Lessing, der in orthodoxer Stubenluft aufgewachsene, in gelehrter Schulfron erzogene, von der Höhe eines starken, mit Wissenschaft genährten Geistes auf die leibeigene Bevölkerung herabblickende Pastorensohn der Stadt, dem nun beim Eintritt ins wirkliche Leben aus der Hülle religiöser Zweifel das bürgerliche Selbstbewusstsein erwacht und die erste Ahnung aufdämmert von der Gleichheit dessen, was Menschengesicht trägt. Und freilich nur diesen wirklichen Lessing habe ich schildern wollen.

Kommt der Bohemien! Nach Paul Ernst hat Lessing so ziemlich alle Bohemieneigenschaften besessen, weil er kein Spartopf war, spielte, in lustiger Gesellschaft gern einmal trank und vermutlich dem Ewigweiblichen nicht so sehr abhold war. Und nun fragt Paul Ernst: Ja, wann wäre ein solcher Mann, wenn er nicht etwa von Natur eine Kanaille war, vor den damaligen Duodezdespoten gekrochen! Der beamtete und verheiratete Mann wird natürlich ganz andere Anschauungen hegen. Aber den Stolz des unabhängigen Mannes wird man doch nicht als bewusste politische Ansicht ansprechen können.

Diese Auffassung sieht wieder von aller konkreten, historischen Bestimmtheit ab. Sie in ihrer ganzen verklausulierten Verschwommenheit aufzulösen, würde mich aber zu weit führen. Ich beschränke mich auf zwei Punkte, die genügen werden. Erstens war im Deutschland des vorigen Jahrhunderts überhaupt kein Bohemien in der Lage, den „Stolz des unabhängigen Mannes" zu bewahren. Wollten die Bohemiens nicht im Lumpenproletariat des Gauner-, Komödianten- oder Söldnertums untergehen, so blieb ihnen nichts übrig, als die Fürsten oder sonstige Große anzubetteln und anzuschmeicheln. Der bekannteste und talentvollste Bohemien in der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts war Christian Günther. Er war von Natur so wenig eine Kanaille, dass sein Vater in übelwollender Absicht von ihm sagte, er habe sich „groß aufgeführt", als ob er keinen Wohltäter brauche, als ob er lieber frei bei Eicheln als von dem Speichel der Fürsten leben wolle. Aber die bittere Not zwang ihn, den Ruhm des Hauses Habsburg mit „untertänigsten Lippen" zu singen und kurfürstlich-sächsischer Hofpoet zu werden.

Zweitens aber war Lessing nie ein Bohemien, wenn man etwa von seinen allerersten, doch unmöglich für den ganzen Mann maßgebenden Universitätsjahren absieht. Schon mit fünfundzwanzig Jahren schüttelt er in der Vorrede zu den Schriften seines Jugendfreundes Mylius, der allerdings ein Bohemien war, in schroffer, sogar in pietätlos schroffer Weise den Verdacht ab, ein Bohemien zu sein.5 Er wollte in bewusster – politischer oder sozialer oder wie Paul Ernst sonst will – Absicht den Stolz eines unabhängigen Mannes gegenüber den Großen der Welt bewahren. Er wollte ein freies Leben führen, ohne ein Liederjan, und ein würdevolles Leben, ohne ein Philister zu sein. Und der Erfolg, den er dabei hatte, ist gerade das Vorbildliche seiner Lebensführung. Wie viel ihm sonst seine philiströsen Zeitgenossen angetan haben, einen Zigeuner haben sie nie in ihm gesehen. Auch deshalb nicht, weil er kein Sparapostel, kein Weiberfeind, kein Abstinenzler und sogar ein klein wenig Spielratte war. Die gelehrtesten Universitätsperücken, wie Heyne und Reiske, sahen zu ihm auf; aufgeblasene Geheimbderäte, wie Klotz, bewarben sich zudringlich um seine Freundschaft; in den verworrensten Tagen seines Lebens, als er ein bankrotter Buchhändler und auf die Straße geflogener Dramaturg eines verkrachten Theaters war, fühlte sich ein nach den Begriffen der Zeit so ansehnlicher Mann wie der Hauptpastor Goeze, obendrein ein grimmiger Theaterfeind, durch den Verkehr mit ihm geehrt und geschmeichelt. Etwas besser hat Goeze Lessings Wesen allerdings erkannt, als Paul Ernst es versteht.

Doch genug von dem Bohemien! Paul Ernst greift dann ein einzelnes Moment aus meiner Darstellung heraus, mein Urteil über „Miss Sara Sampson". Er gibt zu, Lessing habe als der erste ein bürgerliches Trauerspiel in Deutschland geschrieben und dem Bürgertum eine höhere Rolle in der Literatur verschafft. Aber er meint, es sei auffällig, dass dies Trauerspiel nicht in Deutschland, sondern in England spiele. Und da sei „vielleicht eine andere Deutung" zulässig. Heute würden die Arbeiter in ähnlicher Weise in die Literatur gebracht wie damals die Bürger. Aber das sei durchaus nichts Besonderes. Jede größere Bewegung habe „natürlich" ihren Einfluss auf die Künste, und man möge ihm einmal nachweisen, inwiefern zum Exempel Flauberts „Salammbo" mit der Emanzipation der Arbeiterklasse zusammenhänge. Jede große geistige Bewegung leite die Künstler auf neue Stoffe; dieser oder jener nehme zuerst einen solchen Stoff auf, er käme in die Mode, es fänden sich Nachahmer. Von der Mode sagt Paul Ernst dann noch, sie sei eine geistige Macht, sie habe stets eine große Rolle in der Kunst gespielt.

Mit all diesem Hin- und Hergerede weiß ich, offen gestanden, nichts anzufangen. Im Wesen der Sache räumt mir Paul Ernst ein, dass Lessing dem Bürgertum eine höhere Rolle in der Literatur verschafft habe, und sucht dann durch einige Gemeinplätze dies Zugeständnis einzuschränken. Wann und wo habe ich bestritten, dass die Mode in der Kunst eine große Rolle spielt, wenn ich ihr den Ehrentitel einer geistigen Macht auch gerade nicht beilegen möchte? Speziell von den literarischen Reflexen der heutigen Arbeiterbewegung sage ich auf Seite 361 meines Buches: „Ganz abgesehen von den findigen Handwerkern der Feder, die den Naturalismus als kitzelnde und prickelnde Modesache betreiben etc." Dass Lessings „Sara" ebenso wie seine „Minna" zahlreiche Nachahmer gefunden hat, sage ich allerdings nicht ausdrücklich, aber ich habe es wirklich nur unterlassen, weil ich nicht so viel Spaß, wie Paul Ernst, daran finde, Banalitäten wiederzukäuen, die sich seit fünfzig Jahren aus einem Kompendium der deutschen Literaturgeschichte ins andere schleppen. Wann und wo habe ich ferner bestritten, dass in der Literatur einer bestimmten Epoche die allerverschiedensten Richtungen nebeneinanderher laufen können? Ich behaupte ja gerade, dass, solange es verschiedene, miteinander kämpfende Klassen gibt, diese Klassenstandpunkte auch in der schönsten Literatur ihre entsprechende Vertretung finden werden. Beiläufig erschien Flauberts „Salammbo" im Jahre 1862, als es noch gar keinen Emanzipationskampf des Proletariats gab.

Nun aber weiter im Texte! Soviel ist nach Paul Ernst sicher: der Künstler sei stets viel abhängiger von der Tradition als von der Natur; er sehe die Dinge immer mit einer Brille. Lessings bürgerliches Drama sage so wenig über einen etwaigen Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums, als Bodenstedts „Mirza Schaffy" irgendwie in den realen Verhältnissen Deutschlands wurzele; die „Sara" sei vielleicht nur eine Konsequenz der herrschenden Literaturrichtung, wie „Mirza Schaffy" sicher der letzte Ausläufer von Goethes „Westöstlichem Diwan" sei. Zu Schillers Zeit könne man eher von einer deutschen Bourgeoisie sprechen als zu Lessings Zeit, und doch habe Schiller in seinem Gedichte „Shakespeares Schatten" nicht nur die Kotzebue und Iffland, sondern das ganze bürgerliche Trauerspiel verworfen. Sei Schiller deshalb ein Renegat des Bürgertums? Nachdem Dühring ihn wegen des „Liedes von der Glocke" als erzinfamen Bourgeois festgenagelt habe, sei das doch nicht anzunehmen. Paul Ernst beseitigt dann diese bangen Zweifel mit dem befreienden Worte: Schiller stand eben in einer anderen literarischen Strömung.

Was die Entwicklung der deutschen Bourgeoisie und das bürgerliche Drama anbetrifft, so kommt Paul Ernst mit seinen Hauptgeschossen erst in seinem zweiten Artikel angerückt, und um Wiederholungen zu vermeiden, verspare ich die Auseinandersetzung über diese Punkte auch auf meinen zweiten Artikel. Hier nur so viel. „Mirza Schaffy" einen Ausläufer des „Westöstlichen Diwans" zu nennen, ist die oberflächlichste Analogie auf die äußere Form hin und nicht mehr wert, als wenn man Lessing wegen seiner anakreontischen Gedichte einen letzten Ausläufer Anakreons nennen wollte. Tatsächlich wurzelt „Mirza Schaffy" so sehr in den realen Verhältnissen Deutschlands, dass Robert Prutz von ganz ideologischem Standpunkte aus schon im Jahre 1859 sehr treffend nachwies: die typische Literatur der fünfziger Jahre in ihren verschiedenen Ausstrahlungen, eben „Mirza Schaffys Gedichte", dann die „Amaranth" von Redwitz, „Waldmeisters Brautfahrt" von Roquette, Hammers „Schau um dich und schau in dich", Freytags „Soll und Haben" usw., sei in den vierziger Jahren ganz undenkbar und unmöglich gewesen. Zu allem Überflusse spricht es Bodenstedt in dem einleitenden Gedichte noch ganz klar aus, dass er mit Mirza Schaffys Liebes- und Trinkliedern das deutsche Bürgertum in seinem politischen Katzenjammer trösten wolle.

Ferner: Schiller hat nie das bürgerliche Trauerspiel als solches verworfen, sondern allerdings nur die entartete und läppische Form, die es unter den Händen der Kotzebue und Iffland gewonnen hatte. Paul Ernst zitiert ein Bruchstück von „Shakespeares Schatten", das zur Not in seiner Isoliertheit den entgegengesetzten Schein erwecken mag; die ganze „Parodie" aber lässt über Schillers Ab- und Ansicht gar keinen Zweifel. Indessen auch davon abgesehen – Schiller hat sich bis an sein Lebensende mit Plänen zu bürgerlichen Dramen beschäftigt, noch im Jahre 1800 begann er eine Fortsetzung der „Räuber" niederzuschreiben. Er hat nie die bürgerlichen Trauerspiele seiner Jugend verleugnet. Revolutionäre Stücke zu schreiben und dann mit der unschuldigsten Miene von der Welt den Philistern und der Zensur zu erklären: Mein Name ist Hase, und ich weiß von gar nichts, war seine Art nicht. Diesen Gipfel genialer Realistik zu erklimmen, überließ er den Neuesten.

Ob Dühring wegen des „Liedes von der Glocke" Schillern einen erzinfamen Bourgeois genannt hat, weiß ich nicht. Sollte Dühring aber etwa gemeint haben, dass dies Lied von einer spießbürgerlich-beschränkten Weltanschauung getragen sei, so würde ich ihm beistimmen. Paul Ernst wird doch hoffentlich nicht bestreiten wollen, dass zwischen dem Geiste der „Glocke" und dem Geiste der „Räuber" ein himmelweiter Unterschied besteht. In meinem Buche untersuche ich nun, ganz auf „psychologischem" Wege, wie Paul Ernst verlangt, weshalb Lessing und Schiller von ihrer bürgerlich-revolutionären Dramatik abkamen. Ich finde, dass sie durch ihre „individuelle Beanlagung", durch „rein geistige Einflüsse", genug, durch die Momente, deren Berücksichtigung Paul Ernst fordert, über ihre Klasse hinausgewachsen waren und an deren dumpfem Widerstande so oder so scheiterten; ich weise namentlich bei Schiller darauf hin, wie nach dem hübschen Vergleiche von Paul Ernst „durch Schleusenvorrichtungen das Wasser in ganz naturwidrige Wege getrieben werden kann". Eine dieser „Schleusenvorrichtungen" habe ich inzwischen an einem anderen Orte6 aufgezeigt: die Kritik der „Vossischen Zeitung" über „Kabale und Liebe", die bis auf das Tipfelchen über dem i mit dem Gewäsche übereinstimmt, mit dem heute das herrschende Zeitungsgeschwister jedes literarische Erzeugnis, worin sich der Geist der Arbeiterbewegung widerspiegelt, niederzuschlagen versucht. Der deutsche Philister hat eben keine historische Entwicklung; er ist stets derselbe faule und feige Geselle.

Während ich mich so bemühe, den Wünschen Paul Ernsts entgegenzukommen, während ich die historischen Tatsachen zu erkennen suche, so wie sie gewesen sind, und die materialistische Methode als Leitfaden benutze, um ihre inneren Zusammenhänge aufzufinden, erledigt Paul Ernst die etwas mühsame Arbeit durch die genialen Worte: Pastorensohn vom Lande, Bohemien, Mode in der Kunst, Konsequenz der herrschenden Literaturrichtung, andere literarische Strömung. In der Fixigkeit ist er mir über, aber nicht in der Richtigkeit.

II

Was Paul Ernst in seinem zweiten Artikel über die Entstehung des bürgerlichen Schauspiels in England sagt, ist meines Erachtens ganz falsch. Nach der frivolen Kavalierspoesie unter den restaurierten Stuarts sollen unter Wilhelm III., „dem moralischen Holländer und den moralischen Bürgern an der Regierung", moralische Stücke entstanden sein und den „moralisierenden Niedergang des Theaters" herbeigeführt haben. Über die Moral Wilhelms III. kann sich Paul Ernst im „Kapital" von Marx unterrichten7, und die moralischen Bürger an der Regierung kann man selbst aus der schönfärbenden Macaulay-Darstellung als eine höchst korrupte Gesellschaft erkennen8. Vielleicht sagt Paul Ernst: Aber sie heuchelten doch Moral. Mag sein, aber dass aus dieser Heuchelei eine Kunstgattung entstanden sein soll, die Leute wie Diderot, Lessing und Schiller zur Nacheiferung anspornte, scheint mir keine Hypothese von zwingender Gewalt zu sein. Ich für mein Teil ziehe vor, mich auch hier an die trockenen historischen Tatsachen zu halten.

In meinem Buche weise ich darauf hin, dass sich die bürgerliche Dramatik mit den historischen Wandlungen der bürgerlichen Klasse auch ihrerseits wandelt, und werfe einen flüchtigen Blick auf ihre Abwandlung von Lessing bis auf die Gegenwart. Die Kette lässt sich aber auch aufwärts verfolgen. In gewissem Sinn enthalten schon die Fastnachtsspiele des sechzehnten Jahrhunderts, über die ich jüngst bei einer anderen Gelegenheit in der „Neuen Zeit" sprach9, die Keime des bürgerlichen Dramas. Im siebzehnten Jahrhundert ist Calderóns „Richter von Zalamea" eine klassische Probe des bürgerlichen Schauspiels. Dies Stück spiegelt mit schlagender Deutlichkeit die bürgerliche Entwicklung auf einer bestimmten historischen Stufe wider. Sein Held ist der Bauer Pedro Crespo, d. h. der kastilianische, nie leibeigen gewesene Bauer. Er blickt voll herber Verachtung auf seinen heruntergekommenen Nachbarn von Adel. Diesen, den Don Mendo und seinen Bedienten Nuno, zeichnet Calderón nach dem von ihm auch gebührend hervorgehobenen Vorbilde des Cervantes als verwitterte Ruinen einer untergehenden Welt. Dagegen steht der Bauer mit seinem bürgerlichen Selbstbewusstsein dem König und dessen Söldnern als gleichfalls modernen Mächten freundlich gegenüber. Vortrefflich kommen dann auch die einzelnen Söldnertypen heraus: der männliche Vagabund in Rebolledo, der weibliche in der Chispa, der alte fluchende und wetternde, aber biderbe und vom militaristischen Hochmutsteufel noch freie Landsknechtsgeneral Don Lope, endlich der Hauptmann Don Alvaro, in dessen vom Volke bezahlter Offiziersuniform sich der ökonomisch verkommene Junker wieder fett auswächst. Es ist bezeichnend, dass Lessing, der sonst nicht viel von Calderón hielt, am „Richter von Zalamea" ein „außerordentliches Gefallen" hatte, und es ist sehr zu bedauern, dass er seine Absicht, das Stück „vollkommen zu verdeutschen, nicht bloß zu übersetzen", nicht ausgeführt hat.

Im achtzehnten Jahrhundert ist die bürgerliche Klasse so weit, dass sie daran denken kann, sich auf die eigenen Füße zu stellen. Sie braucht die Bundesgenossenschaft nicht mehr oder glaubt sie nicht mehr zu brauchen, die sie in England am Adel, in den ökonomisch entwickelten Ländern des Kontinents am Königtum gefunden hatte. Am frühesten macht sich ihr Drang nach völliger Selbständigkeit in England geltend, wo sie nicht bloß tatsächlich, sondern auch schon rechtlich etwas bedeutete. Natürlich sind aber nicht ihre satteren, sondern ihre hungrigeren, nicht ihre oberen, sondern ihre unteren Schichten das vorwärtstreibende Element. Von den Dichtern, an deren Werke sich Lessings „Miss Sara Sampson" anlehnt, war Lillo ein Juwelier und Richardson ein Setzer. Von „moralisierendem Niedergang" ist da keine Rede: der moralisierende Charakter dieser Dramen und Romane ist keine Frucht der moralischen Heuchelei, worunter die herrschende Klasse ihre tatsächliche Korruption verbirgt; er ist ein ehrlicher Protest gegen diese, alle Volksschichten verseuchende Korruption, welche die bürgerlichen Dichter unter der etwaigen moralischen Maske sehr gut erkennen.

Nun meint Paul Ernst in seinem ersten Artikel, Lessings bürgerliches Drama sei „vielleicht nur eine Konsequenz der herrschenden Literaturrichtung"; in seinem zweiten Artikel ist er schon kühner und sagt, die „Importierung" des bürgerlichen Trauerspiels nach Deutschland habe „absolut gar nichts mit irgendwelchen sozialen oder politischen Erwägungen zu tun"; sie sei „lediglich zu verstehen als Resultat der literarischen Mode"; er staunt über die Menge aus dem Englischen übersetzter Bücher, die er in den damaligen Messkatalogen findet. Schade, dass Paul Ernst die „Menge" der aus dem Englischen übersetzten Dramen nicht mitgeteilt hat; er hätte damit einen alten Fehler in der deutschen Literaturgeschichte berichtigt. In Gottscheds „Nötigem Vorrat" sind bis zum Jahre 1750 nur drei Übersetzungen aus dem englischen Drama verzeichnet: der „Peter Squenz" des Gryphius, Gottscheds „Kato" und „Julius Cäsar" vor Borck. Danzel, der den Ruf einiger Gründlichkeit besitzt, hat dann bis zum Erscheinen der „Miss Sara Sampson" noch zwei oder drei Übersetzungen in den Messkatalogen aufgefunden und fügt hinzu: „Es grenzt ans Unglaubliche, ein wie jungfräuliches Feld Lessing hier vorfand." Während Lessing sein Drama ausarbeitete, schrieb sein Freund Nicolai, der als Buchhändler erst recht in den Messkatalogen Bescheid wusste, es wäre zu wünschen, dass die englischen Schauspiele in Deutschland besser geschätzt würden, es sei eine wahre Schande, dass Gottsched alle englischen Lustspiele für pöbelhaft und alle englischen Trauerspiele für blutig ausgeben dürfe. Schade also, dass Paul Ernst mit seinen Lesefrüchten aus den Messkatalogen nicht so freigebig umspringt wie mit seinen sonstigen Lesefrüchten.

So viel über die „literarische Mode"; nun noch ein Wort über die „Konsequenz der herrschenden Literaturrichtung". In England selbst ist das bürgerliche Drama nie herrschende Literaturrichtung geworden. Einzelne Stücke, wie Lillos „Kaufmann von London" und Edward Moores „Spieler", hatten wohl großen Erfolg, aber die neue Kunstgattung hatte ihn nicht. Die kleinere Mittelklasse, die im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts in der bürgerlichen Dichtung ihr Banner aufwarf, drang nicht durch. Noch am Ende dieses Jahrhunderts unterlag sie politisch mit ihrem Eintreten für die Französische Revolution der Krone, dem Adel und der großen Bourgeoisie, die es profitabler fanden, im Bunde mit dem reaktionären Europa das revolutionäre Frankreich zu bekämpfen. Um so tiefere Wurzeln schlug das bürgerliche Drama auf dem Festlande, wo das Bürgertum als mehr oder minder geschlossene Masse in immer schärferen Gegensatz zu Königtum und Adel geriet und namentlich in dem Theater erst die einzige Tribüne besaß, auf der es sich über sich selbst klarzuwerden vermochte. In Frankreich, wo das Bürgertum ungleich entwickelter war als in Deutschland, warf die bürgerliche Dramatik in einzelnen Stücken von Marivaux, Destouches, Nivelle de la Chaussee die ersten leisen Schatten. Umso höher steht die Geistestat Lessings, der zuerst auf dem Festlande in „Miss Sara Sampson" mit klarem Bewusstsein ein Muster des bürgerlichen Schauspiels schuf. Ein auch dem englischen Vorbilde überlegenes Muster; hatte doch Lillo noch den leibhaftigen Galgen auf die Bühne gebracht! Meinetwegen mag Paul Ernst sagen, die „Sara" habe das bürgerliche Drama zur „herrschenden Literaturrichtung" gemacht, aber sie selbst ist ein kühner und ursprünglicher Griff. Niemand hat das williger anerkannt als Diderot, der das Stück mit hohem Lobe im „Journal des Etrangers" anzeigte und zusammen mit Lillos „Kaufmann von London" und Moores „Spieler" zu übersetzen gedachte.

Aber „Miss Sara Sampson" soll absolut gar nichts mit sozialen und politischen Erwägungen zu tun gehabt haben. Dass Lessing mit ihr einen dramatisierten Leitartikel über Sozialpolitik habe schreiben wollen, ist meines Wissens von niemandem, jedenfalls nicht von mir, behauptet worden. Ich sage in meinem Buche: „Lessing war sich der Größe dieses Wurfes wohl bewusst; es galt, den bürgerlichen Klassen in Deutschland eine neue Tribüne zu eröffnen." Und das ist vollkommen richtig. Paul Ernst findet es „naiv", dass Lessing sich die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in England damit zurechtgelegt habe, dem Engländer sei es ärgerlich gewesen, gekrönten Häuptern viel vorauszulassen. Die „Naivität" ist aber ganz auf Seiten von Paul Ernst. Er bricht sein Zitat unmittelbar vor dem Satze ab: „Dieses ist vielleicht nur ein leerer Gedanke, aber genug, dass es doch wenigstens ein Gedanke ist." Und ich sage in meinem Buche: „Allerdings ein leerer Gedanke, wenn man die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels aus dem bewussten Ärger der Engländer über den Vorsprung der Großen ableiten wollte, aber gewiss ein Gedanke, wenn man im bürgerlichen Trauerspiel die ideologische Widerspiegelung des erwachten bürgerlichen Klassenbewusstseins erblickt." Die Sache ist einfach die, dass die Zeitgenossen die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels ganz ernsthaft so aufstellten, wie Lessing sie mit dem Schelm im Nacken erläutert. So schreibt Freron: „Sollen allein die Unfälle von Königen und Helden das ausschließliche Vorrecht haben, uns zu bewegen? Wenn man im Leben das Unglück erzählt, das unsereinem zugestoßen ist, so sind wir manchmal zu Tränen gerührt. Warum soll dies Unglück uns nicht auf den Brettern vorgeführt werden?" Das erwachte bürgerliche Selbstbewusstsein wollte „Unsereinen" auf der Bühne sehen, wie es überhaupt die „Naivität" jeder Klasse ist, in der Kunst, und namentlich in der dramatischen Kunst, nur das als menschlich, natürlich und wahr anzuerkennen, was ihrem Denken und Empfinden entspricht. Woher es denn auch kommt, dass die allerverschiedensten Kunstrichtungen sich unter der gemeinsamen Maske des „Naturalismus" aufgespielt haben. In Diderots berühmter Abhandlung über die dramatische Dichtkunst ist das dritte Wort Natur und Wahrheit, und nach dem, was er für Natur und Wahrheit hielt, verfasste er den „Hausvater" und den „Natürlichen Sohn". Wollten wir heute aber diese Stücke oder auch Lessings „Sara" auf der Freien Volksbühne aufführen, so würden uns sämtliche Mitglieder davonlaufen, verscheucht und mit Recht verscheucht durch das, was ihnen als gekünstelte Unnatur erscheinen würde. In der Auffassung dieses Verhältnisses war Lessing nun seinen und – zum großen Teil – auch unseren Zeitgenossen weit überlegen. Wie er jene „naive" Theorie des bürgerlichen Dramas ein Jahr vor der „Sara" mit einer echt lessingschen Wendung als einen vernünftigen Gedanken in unvernünftiger Form kennzeichnete, so fertigte er ein Jahr nach der „Sara" das „schulmäßige Gewäsche" über die künstlerischen Regeln des Trauerspiels mit den Worten ab: „So wie ich unendlich lieber den allerungestaltetsten Menschen, mit krummen Beinen, mit Buckeln hinten und vorn, erschaffen, als die schönste Bildsäule des Praxiteles gemacht haben wollte, so wollte ich auch unendlich lieber der Urheber des .Kaufmanns von London' als des ,Sterbenden Kato' sein, gesetzt auch, dass dieser alle die mechanischen Richtigkeiten hat, deren wegen man ihn zum Muster für die Deutschen hat machen wollen." Dieser Satz gibt der Ansicht, dass Lessing in dem bürgerlichen Schauspiel bloß eine künstlerische Mode habe mitmachen wollen, den letzten Stoß.

Endlich will mich Paul Ernst belehren, dass es im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts gar keine Bourgeoisie gegeben habe, wie ich sie voraussetze, und dass der Vertreter einer jung sich entwickelnden Bourgeoisie nicht so habe auftreten können wie Lessing. Auf diesen Teil seiner Kritik kann ich abermals nur mit der Frage antworten, ob er mein Buch denn überhaupt gelesen hat. Was er über die absolutistische Phase der Bourgeoisie sagt – die er beiläufig viel zu absolut fasst, denn die Bourgeoisie hat ebenso ihre revolutionären wie reaktionären Epochen gehabt – steht alles darin. Wenn ich mich kürzer fasse als er, so muss ich mich wiederum damit entschuldigen, dass ich es nicht liebe, mich über allbekannte Dinge allzu weitläufig zu verbreiten. Ebenso habe ich in der notwendigen Ausführlichkeit dargelegt und begründet, dass und weshalb sich die Züchtung des Kapitalismus durch das absolute Fürstentum in Deutschland später und in viel bescheidenerem Umfange entwickelte als in Frankreich. Ich verweise Paul Ernst auf das sechste und siebente Kapitel des ersten, auf das dritte Kapitel des zweiten Teils. Wenn er das gelesen haben sollte, was ich auf den Seiten 89, 128 ff. und an anderen Stellen über die ökonomischen Lebensbedingungen des europäischen Absolutismus vom sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert ausführe, so verstehe ich einfach nicht, wie er schreiben kann: „Mehring scheint nun geneigt, diese künstliche Züchtung der Bourgeoisie als eine Ausnahme zu betrachten und als eine spezifisch preußische Eigentümlichkeit." Ich bedaure diese Manier der Polemik, aber nicht in meinem Interesse.

Ihr ganzer Witz besteht darin, dass, während ich Lessing als einen Vorkämpfer der bürgerlichen Klasse darzustellen suche, Paul Ernst mir unterstellt, ich setze als diese bürgerliche Klasse voraus das, was er „Bourgeoisie" nennt, und was er tatsächlich definiert als einen Teil der dünnen Oberschicht des damaligen deutschen Bürgertums, als den vom absoluten Fürstentum mit Monopolen und Privilegien herangezüchteten Teil der kapitalistischen Manufaktur und der kapitalistisch ausgebeuteten Hausindustrie. Wenn Paul Ernst in Lessing keinen Vorkämpfer dieser bürgerlichen Schicht erkennen will, so hat er ja sehr recht; er wiederholt dann nur, was ich in meinem Buche nicht einmal, sondern ein dutzendmal an den verschiedensten historischen Tatsachen erläutert habe. Aber die Masse des deutschen Bürgertums bestand im vorigen Jahrhundert aus dem Handwerke, und wenn Paul Ernst sich nicht so in seine Phantasie von den Pastorensöhnen verliebt hätte, so würde er wohl die bemerkenswerte Tatsache entdeckt haben, dass die „große Menge" unserer bahnbrechenden Klassiker aus dem Handwerke stammte. Winckelmann, Herder, Kant, Fichte waren die Söhne, Goethe und Schiller die Enkel von Handwerkern.

Will mir Paul Ernst einen zutreffenden Vorwurf machen, so wäre es der entgegengesetzte von dem, den er mir wirklich macht. Ich habe die ökonomische Struktur der Gesellschaft, in welcher unsere klassische Literatur erwuchs, nicht zu viel, sondern zu wenig beachtet. Diesen Mangel hat mein Buch zweifellos, und um keinen Leser darüber zu täuschen, habe ich ihn gleich auf den einleitenden Seiten hervorgehoben. Ich sage da, ich wolle nur das bourgeoise Lessing-Zerrbild kritisch auflösen und in dieser Kritik etwa die allgemeinen Grundzüge des wahren Lessing-Bildes durchscheinen lassen; eine wissenschaftliche Geschichte unserer klassischen Literatur werde erst möglich sein, wenn das achtzehnte Jahrhundert aus dem ideologischen Fabel- und Märchenwust gelöst und auf seine ökonomischen Füße gestellt sein werde. Das ist aber eine Aufgabe, die weder von einem einzelnen, noch von heute auf morgen gelöst werden kann. Wenn Paul Ernst sie mit einer Hand voll Zitaten lösen zu können glaubt, so hat er nicht einmal eine Ahnung von ihrer Schwierigkeit und Weitschichtigkeit. Seine Zitiermethode erinnert einigermaßen an Janssens „Deutsche Geschichte" und das Werk des Generalmajors v. d. Goltz über das preußische Heer zwischen Roßbach und Jena. Janssen weist mit einer erdrückenden Fülle von zeitgenössischen Urteilen nach, dass die bäuerliche Bevölkerung um die Wende des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts in glänzenden Verhältnissen gelebt habe, und mit einer nicht minder erdrückenden Fülle von Zitaten beweist Goltz, dass in dem preußischen Heere vor Jena alles aufs Beste bestellt gewesen sei. Janssen wie Goltz zitieren ganz ehrlich, und an dem guten Glauben ihrer Gewährsmänner ist im Ganzen und großen auch kein Zweifel. Dennoch hat man mit vollem Rechte ihre ganze Beweisführung durch die einfache Bemerkung in die Luft gesprengt: Aus nichts wird doch nichts; der Bauernkrieg von 1525 und die Niederlagen von 1806 beweisen das Gegenteil. Und wenn Paul Ernst mir noch so viel, noch so glaubwürdige Urteile darüber bringt, dass im vorigen Jahrhundert gar keine vorwärtsschreitende Entwicklung des deutschen Bürgertums möglich gewesen sei, so antworte ich ihm: Aus nichts wird doch nichts; unsere klassische Literatur beweist das Gegenteil. Mag man über ihren Ursprung denken, wie man will – die bloße Tatsache, dass aus der bürgerlichen Klasse eine solche Fülle genialer oder doch hochbegabter Männer hervorgegangen ist, wäre unmöglich, wenn in dieser Klasse neben allen niederdrückenden und niederziehenden nicht auch erhebende und vorwärtstreibende Elemente wirksam gewesen wären. Und wenn manche jener Männer, wie sie es allerdings tun, das Gegenteil bezeugen, so ist es nicht schwer zu erklären, weshalb sie gerade das Elend und die Rückständigkeit ihrer Klasse schmerzlich empfanden, aber die bessere Kehrseite nicht sahen, für deren Vorhandensein sie selbst und ihre Wirksamkeit ein unwiderlegliches Zeugnis ablegen.

Also solche Zeugnisse, wie Justus Mosers Urteil über das deutsche Handwerk, wollen nicht unbesehen angenommen sein; man muss sie – was Paul Ernst von mir verlangt, aber leider selbst nicht tut – aus dem ökonomischen ins Psychologische umsetzen, um ihren doch nur bedingten Wert zu erkennen. Ich brauche mich nicht gegen den Verdacht zu verwahren, als ob ich das deutsche Elend des vorigen Jahrhunderts beschönigen wolle; der Hinweis darauf bildet ja gewissermaßen den ewigen Kehrreim meines Buches. Aber Paul Ernst will das Kind mit dem Bade verschütten, und wenn ich anerkenne, dass die bürgerliche Klasse im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts weit hinter der entsprechenden Entwicklung in England und Frankreich zurückgeblieben ist, so behaupte ich doch, dass sie, verglichen mit ihrer Lage im siebzehnten Jahrhundert, mehr oder minder beträchtliche Fortschritte gemacht hat, Fortschritte, die ihr erlaubten, bei aller ökonomischen und politischen Rückständigkeit wenigstens geistig auf gleicher Höhe mit den westlichen Kulturvölkern zu bleiben. Auch hierfür lässt sich eine lange Reihe nicht sowohl von zeitgenössischen Urteilen, als von ökonomischen Tatsachen anführen, wenn auch eine gründliche Aufhellung aller Einzelheiten einstweilen noch nicht möglich ist, namentlich so lange nicht möglich ist, als die Archive fast nur tendenziösen Geschichtsklitterern geöffnet werden.

Der schlagendste Beweis des bürgerlichen Emanzipationskampfes wird freilich immer unsere klassische Literatur bleiben, und ich kann nicht zugeben, dass Paul Ernst von allem, was ich in meiner Lessing-Legende hierüber ausgeführt habe, irgendetwas erschüttert hat. Er hat im Gegenteil von neuem bewiesen, in welchen Abgrund der bodenlosesten Konjekturen man gerät, wenn man nicht eben auch bei Erklärung geistiger Bewegungen von dem trockenen Tatsachenmaterial ausgeht, soweit es heute schon feststeht, und seine inneren Zusammenhänge an der Hand der materialistischen Methode zu erforschen sucht. Der Methode, sage ich, nicht der Schablone, die Paul Ernst allerdings recht munter handhabt. Hierfür noch ein Beispiel. Er schreibt: „Wenn viele Völker eine Reihe von Nahrungsmitteln tabuieren und lieber die mit dem Tabu belegten Früchte am Baum oder in der Erde verfaulen lassen als sie, selbst in Zeiten der Not, genießen, so trägt, allem Materialismus zum Hohn, die Religion selbst über den Hunger den Sieg davon!" Welchem Materialismus zum Hohn? Dem historischen oder dem sogenannten ethischen, der sich zum historischen verhält, nicht einmal wie ein Affe, sondern wie eine Vogelscheuche zum Menschen? Die Religion hat noch viel schwerere Dinge vollbracht, als Ernst ihr nachrühmt: sie hat unzählige Menschen in den Kerker, auf die Folter, auf Scheiterhaufen und Schafott, in den freiwilligen Martertod getrieben, aber was beweist das gegen den historischen Materialismus? Versteht Paul Ernst denn nicht, dass wenn die materialistische Geschichtsauffassung den verschiedenen ideologischen Sphären eine selbständige historische Existenz abspricht, sie ihnen keineswegs jede historische Wirksamkeit abspricht? Paul Ernst denkt metaphysisch, nicht dialektisch, wenn er Ursache und Wirkung als starr entgegengesetzte Pole auffasst und die Wechselwirkung ganz vergisst. Wann hat der historische Materialismus denn bestritten, dass ein historisches Moment, sobald es einmal durch andere, schließlich ökonomische Ursachen in die Welt gesetzt ist, nun auch reagiert, auf seine Umgebung und selbst auf seine eigenen Ursachen zurückwirkt?

Doch auf die methodologischen Ausführungen von Paul Ernst, die sich nicht auf mein Buch beziehen, will ich nicht weiter eingehen. Vielleicht geschieht es von anderer Seite. Bemerken will ich nur noch, dass Paul Ernsts Kritik auch manche guten und richtigen Bemerkungen enthält. Ich würde mir selbst ins Fleisch schneiden, wenn ich es bestritte. Paul Ernst spielt eine Art Versteckspiel mit mir. Meiner Methode sieht er sein Idealbild des historischen Materialismus ab. Dann schiebt er mir seine Schablone unter, um sie an diesem Idealbilde zu messen. Natürlich entdeckt er auf diese Weise ein beträchtliches Defizit zu meinen Ungunsten zwischen Methode und Schablone. Ich zweifle durchaus nicht an seinem guten Glauben, aber mancher lernt's eben nie. Und so muss er mir schon erlauben, die Dinge wieder an ihren richtigen Ort zu stellen, was ich durch die vorstehenden Ausführungen getan haben will.

1 Der Schriftsteller Paul Ernst schloss sich Ende der achtziger Jahre der Sozialdemokratie an; 1890-1892 war er einer der Führer der parteifeindlichen, halbanarchistischen Fraktion der „Jungen". Dann wandte er sich endgültig von der Arbeiterbewegung ab, schrieb 1917 ein Buch über den „Zusammenbruch des Marxismus" und näherte sich im Alter mit seinem „Kaiserbuch", in dem er die „Größe deutscher Reichsherrlichkeit" feierte, den Faschisten.

2 Siehe Paul Ernst: Mehrings „Lessing-Legende" und die materialistische Geschichtsauffassung. In: Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 7-13 und 45-51.

3 Siehe Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Zweiter Band, S. 7.

4 μεταβασις είς αλλο γενος (metabasis eís allo genos) - Übergang zu einer neuen Qualität.

5 Wahrscheinlich meint Mehring die Vorrede zu „Vermischte Schriften des Hrn. Christlob Mylius, gesammelt von Gotthold Ephraim Lessing". In: Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke, Dritter Band, Berlin 1955, S. 678-698.

6 Siehe den Artikel „Schillers ,Kabale und Liebe'"

8 Mehring spielt an auf T. B. Macaulays „History of England from the Accession of James the Second" (Geschichte Englands seit der Thronbesteigung Jakobs II.).

9 Mehring meint seinen Aufsatz „Ein Scherzspiel".

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