Franz Mehring 18940221 Bourgeois-Anarchistisches

Franz Mehring: Bourgeois-Anarchistisches

21. Februar 1894

[Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893, 94. Erster Band, S. 673-677. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 275-280]

Vor einigen Tagen wurde vor der zweiten Strafkammer des hiesigen Landgerichts eine bemerkens- und noch weit mehr beklagenswerte Verhandlung gegen einen jungen österreichischen Anarchisten geführt. Vom juristischen Standpunkt aus mag diese Ausdrucksweise verfehlt sein; die Gerichte sind nicht dazu da, gegen einen Angeklagten zu verhandeln, sondern unbefangen über ihn zu urteilen. Aber tatsächlich ist der von uns gewählte Ausdruck allein zutreffend. Die Strafkammer, die das Vergehen des fünfundzwanzigjährigen Dr. Ladislaus Gumplowicz abzuurteilen hatte, war nicht unbefangen. Versteht sich, nicht unbefangen in dem objektiven Sinne der Strafprozessordnung. Die Mitglieder des Gerichtshofes haben gewiss keinerlei bösen Willen gegen den ihnen unbekannten Angeklagten gehabt, aber als Angehörige der bürgerlichen Klasse sind sie von objektiv völlig irrigen Voraussetzungen ausgegangen, als sie, weit über das vom Staatsanwalt beantragte Strafmaß hinaus, eine Gefängnisstrafe von anderthalb Jahren verhängten, eine Strafe, die durch die Art der Behandlung politischer Gefangener in Plötzensee noch wesentlich verschärft wird.

Der Tatbestand, über den die Strafkammer zu urteilen hatte, ist weiteren Kreisen bekannt. In einer Arbeitslosenversammlung des hiesigen sechsten Wahlkreises, in der Liebknecht referierte, hatte Gumplowicz den Staat einen „Büttel der arbeitenden Klasse", eine „gesetzlich geschützte Räuberbande" genannt und war deshalb sofort verhaftet worden, ohne dass beiläufig dadurch mehr als eine vorübergehende Störung der Versammlung verursacht worden wäre. Der Gerichtshof hat nun angenommen, dass durch solche aufreizenden Reden in einer Versammlung von 2500 Arbeitslosen schwere Folgen hätten entstehen können. Die Unzulässigkeit dieser Annahme ergibt sich schon aus dem tatsächlichen Verlaufe der Versammlung. Aber Liebknecht, der in solchen Dingen einen schärferen Blick hat als sämtliche deutsche Richter zusammengenommen, erklärt auch als Augen- und Ohrenzeuge, dass Gumplowicz gar keine aufreizende Absicht gehabt habe. Er habe den Eindruck eines unzurechnungsfähigen Menschen gemacht, der nicht gewusst habe, was er wollte. Er sei von dem Einflüsse entweder sehr starker Spirituosen oder noch wahrscheinlicher von Morphium oder Haschisch beherrscht gewesen. Das blöde, verzückt lächelnde Auge habe keinen Zweifel über seinen Geisteszustand gelassen. Ebenso wenig sein Benehmen nach seiner Verhaftung, das keinen leidenschaftlichen Zorn, sondern die Verdutztheit eines hilflosen Schwächlings verraten habe, der sich des Todes verwundere, dass seine Hanswurstereien ernsthaft genommen würden.

Diese Auffassung Liebknechts hat durch das Verhalten des Angeklagten in der gerichtlichen Verhandlung volle Bestätigung gefunden. Gumplowicz bekannte sich rückhaltlos zum Anarchismus, aber statt seinen Standpunkt mit Festigkeit und Klarheit zu vertreten, beschränkte er sich auf eine weinerliche Klage darüber, dass ein „gebildeter Mann", wie der Staatsanwalt, gegen ihn, den „Wehrlosen", einen Ausdruck gebraucht habe, dessen Geschmack wir natürlich nicht zu vertreten haben, aber dessen Kritik einen Revolutionär, der die kapitalistische Gesellschaft lieber heute als morgen zertrümmern möchte, nicht eine Sekunde auf seinem Wege aufhalten würde. Mit der „Konstatierung" der Tatsache, dass preußische Staatsanwälte Leute von mehr oder minder anfechtbarem Geschmack zu sein pflegen, kann man sich doch nicht schweigend in die Toga seiner revolutionären Würde hüllen. Vergleicht man das Verhalten des Angeklagten in der Arbeitslosenversammlung und sein Auftreten vor Gericht, so bleibt nur der eine Schluss übrig, dass er geistig erkrankt ist. Er gehört in eine Heilanstalt und nicht in das Gefängnis.

Gumplowicz zählt zu einer Gattung politischer Lebewesen, die Kautsky jüngst in diesen Blättern analysiert hat: im allgemeinen zu den Geisteskranken und den Leuten mit perversen Instinkten, wie sie eine verkommende Gesellschaft zu Hunderten liefert, im besonderen zu den von Nietzsche durchseuchten Studenten und Literaten, die in Rede und Schrift die anarchistische Propaganda betreiben. Kurz ehe Gumplowicz sein Debüt in der Versammlung der Arbeitslosen machte, veröffentlichte er in der „Freien Bühne" einen wutschnaubenden Aufsatz gegen die Partei der klassenbewussten Arbeiter, und just an demselben Tage, wo er verurteilt wurde, erschien das neueste Heft der „Freien Bühne", das den abgerissenen Faden weiterspinnt. Wir rechnen dahin natürlich nicht eine kleine Schimpferei über die literarischen Mitarbeiter der „Neuen Zeit", über deren „unausgesetzte Blamage", „zornige Borniertheit", „Pöbelton", „Spelunkenstil" und so weiter. Das erklärt sich teils aus der Enttäuschung verschmähten Liebeswerbens, teils aus berechtigtem Grimm darüber, dass die „Neue Zeit" und ihre literarischen Mitarbeiter an ihrem Teile mitgeholfen haben, den Leuten mit den perversen Instinkten den ach! so heiß gesuchten Weg in die Arbeiterklasse zu verlegen. Somit verdienen diese Liebenswürdigkeiten keine Beachtung.

Ob die „Freie Bühne" überhaupt irgendwelche Beachtung verdient, ist allerdings auch nicht zweifelsfrei. Ihr Schicksal bestätigt die von Kautsky geäußerte Ansicht, dass der bourgeois-anarchistische Humbug in Deutschland aussichtsloser geworden ist, als er jemals früher war. Die „Freie Bühne" wäre längst eines sanften Todes verblichen, wenn ihr nicht ein „österreichischer Kavalier" durch bare Subventionen auf die lahmen Beine hülfe. Jedennoch was man vom literarischen oder politischen Standpunkte verneinen müsste, das kann man gezwungen sein, vom psychiatrischen Standpunkte zu bejahen. Das Bestreben, dem proletarischen Emanzipationskampfe Knüppel zwischen die Beine zu werfen, hat in der „Tat" des Herrn Gumplowicz eine gewisse Höhe erreicht, und seine harte Verurteilung durch ein bürgerliches Gericht hat bewiesen, dass Hansnarrenstreiche eines kranken Menschen von bürgerlicher Seite noch immer nicht so richtig beurteilt werden wie von proletarischer. Es lohnt sich deshalb schon die genauere Untersuchung unserer heimischen Spielart von Bourgeois-Anarchismus an einem bestimmten Objekte. In einem Augenblicke, wo die „Freie Bühne" in die Welt hinein lügt, dass Engels die sozialistische Theorie zur Einlullung des großen Lümmels Volk missbrauche, und wo sie pomphaft einen „sehr interessanten Artikel" von John Henry Mackay über die Seelenreinheit politischer Mörder ankündigt, verdient dies Organ des Herrn Gumplowicz eine kurze Kritik.

Trotz ihres wenig über vier Jahre zählenden Lebensalters hat die „Freie Bühne" schon drei Phasen hinter sich, denen allerdings gemeinsam war die Verseuchung durch Nietzsche, das Kokettieren mit dem Anarchismus, das schmeichelnde Kitzeln aller korrupten Bourgeoisinstinkte und das bald offene, bald versteckte Kratzen des klassenbewussten Proletariats. In der ersten Phase waren die Herren Brahm und Schienther die Macher. Über diese berühmten Männer ist indessen nicht mehr viel zu sagen, seitdem sich Herr Brahm auf die Leitung eines kapitalistischen Theaters zurückgezogen hat, das nach dem unverdächtigen Zeugnis des Oberverwaltungsgerichts ausschließlich von der ganz unverdächtigen Bourgeoisie besucht wird, und seitdem Herr Schienther sich der Tante Voß gegen gute Verköstigung unter der Bedingung verdungen hat, innerhalb ihrer Spalten den ganzen himmelstürmenden Naturalismus und Nietzscheanismus an den Nagel zu hängen.

In ihrer zweiten Phase wurde die „Freie Bühne" von dem Musenhof am Müggelsee beherrscht. Es war trotzdem nicht ihre schlechteste Zeit. Herr Wilhelm Bölsche, der eigentliche Redakteur, besaß gediegene naturwissenschaftliche Kenntnisse und hatte mitunter auch ganz hübsche literarische Einsichten. In seinem Lehrer Haeckel gewann die „Freie Bühne" einen mit Recht berühmten Gelehrten zum Mitarbeiter. Leider kaprizierte sich Herr Haeckel darauf, den Politikus zu spielen, was ihm nun einmal nicht gegeben ist! Als Kritiker des Sozialismus leistete er ungefähr dasselbe, was Herr Stoecker als Kritiker des Darwinismus leistet. Er mischte aus den abgelegten Redensarten der Freihandelshausierer einen ebenso unfehlbaren Sozialistentod, wie ihn Herr Bruno Wille aus Ibsen und Nietzsche in der „Philosophie des reinen Mittels" zusammenbraute. Rührend war aber jedenfalls das Solidaritätsbewusstsein dieser sozialistentöterischen Phalanx. Herr Wilhelm Bölsche feierte Herrn Julius Hart, Herr Julius Hart feierte Herrn Bruno Wille, Herr Bruno Wille feierte Herrn Heinrich Hart, und Herr Heinrich Hart feierte Herrn Wilhelm Bölsche. Die Leser der „Freien Bühne" konnte sich alle Abend schlafen legen in dem beruhigenden Bewusstsein: Welch reicher Himmel, Stern bei Stern!

Indessen, als sie eines schönen Morgens erwachten, waren alle schönen Sterne verschwunden, und am Himmel der deutschen Gegenwart und Zukunft strahlte als einsame Sonne Herr Otto Julius Bierbaum. Zu unserer Schande müssen wir gestehen, dass wir sonst nichts von der Person und den gewiss unsterblichen Werken dieses Herrn wissen, als dass er nach den Auskünften der drei von ihm herausgegebenen Hefte der „Freien Bühne" die Qualitäten mindestens von Dante, Shakespeare, Cervantes und Goethe, vielleicht auch noch von Homer, Sophokles und Pindar in sich vereinigen muss. Doch ein tieferes Studium dieser äußerst merkwürdigen „Individualität" müssen wir uns versagen, da es uns hier nur darauf ankommt, die „politischen" Leistungen der „Freien Bühne" in ihrer dritten Phase zu beleuchten. Da schreibt nun Herr Otto Julius Bierbaum oder lässt seinen gleichwertigen Knownothing1 schreiben: „Der Marxismus ist eben doppeldeutig wie alles Hegeltum … Marx und Lassalle handelten 1849 revolutionär, indem sie ihre Mitbürger zur bewaffneten Steuerverweigerung aufforderten, dagegen hat Friedrich Engels in seinen alten Tagen aus seiner und seines Freundes Lehre eine Beschwichtigungsdoktrin gemacht, eine neue Auflage des Eiapopeia, womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel." Es erübrigt an dieser Stelle vollständig, dem blöden Geschwätz die Ehre einer Widerlegung anzutun; sehen wir zu, wie Herr Otto Julius Bierbaum seinerseits den „großen Lümmel" behandeln will!

Er lügt zunächst in die Welt hinein, dass die „entrüsteten Leitartikel aller Parteien" das Epitheton „Mordbube" allen politischen Attentätern „wahllos verliehen". Wir sagen: er lügt, denn da er die sozialdemokratische Presse zu kennen behauptet, muss er wissen, dass die gar nicht entrüsteten Leitartikel der größten Partei in Deutschland nicht einmal die Ravachol und Vaillant2, geschweige denn „alle politischen Attentäter" als „Mordbuben" behandeln, sondern in den anarchistischen Verbrechen der Gegenwart, soweit sie von Polizeispitzeln angestiftet werden, die bewussten, soweit sie aber von Narren oder genasführten Tollköpfen verübt werden, die unbewussten Produkte einer gesellschaftlichen Korruption erblicken, wie es eben wieder der englische Dichter William Morris in vortrefflicher Weise dargelegt hat. Nun antwortet vielleicht das Organ des Herrn Gumplowicz: Das ist ja Hose wie Jacke, denn schmeichelhaft ist die Auffassung der sozialistischen Presse für die Personen der anarchistischen Verbrecher ja auch nicht. Nach Ansicht der „Freien Bühne" ist aus diesen Verbrechen für „alle ruhig Urteilenden" vielmehr die Moral zu ziehen, dass „die politischen Morde, so fürchterlich sie auch sein mögen, keinesfalls ein sicheres Anzeichen für die Schändlichkeit dessen sind, der sie vollzieht, denn oftmals wird eine Bluttat von einem Individuum begangen, das außerhalb des Bannkreises der politischen Leidenschaften, durch die es verblendet wurde, nicht fähig wäre, auch nur ein Tier zu töten". Um diesen epochemachenden Gedanken zu gebären, gebraucht die „Freie Bühne" noch den Bologneser Professor Ferrero als Geburtshelfer, und obendrein verspricht sie, „über dieses Thema einen sehr interessanten Artikel von John Henry Mackay" zu veröffentlichen.

Vor solchen bourgeois-anarchistischen Denkriesen schrumpft die schwächliche „Beschwichtigungsdoktrin" von Engels allerdings in ihr Nichts zusammen. Aus der sinnlichen Kutschersprache des gewöhnlichen Lebens eine revolutionäre Theorie zu drehen, ist eine Tat von schwindelerregender Größe. Dass ein politischer Mörder kein gemeiner Mörder und ein gemeiner Mörder kein politischer Mörder ist, sagt schon die Sprache. Aber damit nicht genug: Die „sehr interessante" Entdeckung des Herrn John Henry Mackay ist ein Gemeinplatz, den sich die rückständigsten Historiker seit Jahrzehnten an den Schuhen abgelaufen haben. So schreibt Treitschke („Deutsche Geschichte" 3, 754): „Der Fanatiker kann in allem Übrigen ein unschuldiges Kind sein; nur für den einen Gedanken, der ihn wie eine fixe Idee beherrscht, tritt er jedes sittliche Gebot mit Füßen." Ja, vor mehr als siebenzig Jahren war sich der deutsche Philister bis in seine ultramontane und sogar bis in seine lutherisch-theologische Spielart hierüber klar. Siehe die Urteile von Görres und de Wette über Sand, den Mörder Kotzebues! Sollten das die „gebildeten Geister" der „Freien Bühne" nicht wissen? O, sie werden es schon wissen, aber in einer Zeit, wo Vaillants Kochtopf in Frankreich zu reaktionären Gewaltstreichen benutzt worden ist und die Halluzinationen des Herrn Gumplowicz in Deutschland als hochpolitische Aktion anerkannt werden, kann der abgedroschene Gemeinplatz lutherischer Theologen und preußischer Historiker gegenüber der sozialdemokratischen „Beschwichtigungsdoktrin", die in Narrenstreichen keine Heldentaten zu erblicken vermag, in „sehr interessanter" Weise verwertet werden. Das ist der Witz des Bourgeois-Anarchismus.

Doch diesem Witze würde die eigentliche Würze fehlen, wenn neben dem Beschwichtigungshofrat Engels und dem revolutionär wiedergeborenen Treitschke nicht noch der brünstige Götzendienst vor der Korruption der kapitalistischen Gesellschaft erschiene. So schreibt die „Freie Bühne" über Bismarcks Fahrt nach Kanossa: „Es zeigte sich wieder die gewaltige Suggestionskraft der großen Persönlichkeit. Wie alles ihm entgegenbrandete in starker strömender Bewegung, dem stillen unbeweglich sitzenden hohen Alten, der so sonderbar unberührt dreinschaute." Das geht noch weit über die Leistungsfähigkeit der korrupten Börsenpresse hinaus. Die sah doch nur einen Zipfel von Bismarcks Mantel, und Bismarck selbst hat beklagt, dass er in der geschlossenen Kutsche, worin er gefahren sei, von seinem getreuen Mob nicht habe gesehen werden können. Aber die brennende Sehnsucht der „Freien Bühne" sieht die Kutschenwände durch und durch. Physikalische Gesetze scheinen dem entgegenzustehen, allein Herr Otto Julius Bierbaum wird mit seinem kleineren Vorläufer Goethe erklären: Hier ist ein Wunder, glaubet mir!

Ein Glück, dass ein nach eigener glaubwürdiger Versicherung so ausgezeichneter Dichter vor jedem Verdachte sicher ist! Sonst könnte man auf die Vermutung verfallen, dass das Organ des Herrn Gumplowicz nicht bloß für Geisteskranke und Leute mit perversen Instinkten, sondern – für ganz andere Zwecke geschrieben und herausgegeben wird.

1 Knownothing – (engl.) Nichtswisser, Ignorant.

2 Mehring spielt auf anarchistische Attentate in Frankreich an.

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