Franz Mehring 19100902 Der Krieg gegen die Freien Volksbühnen

Franz Mehring: Der Krieg gegen die Freien Volksbühnen

2. September 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 849-852. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 311-315]

Herrn v. Jagow, den Berliner Polizeipräsidenten, haben die Lorbeeren, die er sich im Kampfe gegen die Wahlrechtskundgebungen erworben hat, nicht auf lange befriedigt; er dürstet nach neuem Ruhme gleich echten Kalibers, und so hat er sich die beiden Freien Volksbühnen dazu ausersehen, um einen Streich zu führen, der unzweifelhaft geeignet ist, den Glanz seines Namens zu mehren, wo immer edles Borussentum die Vorwacht russischer Barbarei hält.

Über die Freien Volksbühnen ist in diesen Spalten oft genug gesprochen worden. Sie haben nicht alle die Hoffnungen erfüllt, die vor zwanzig Jahren bei ihrer Gründung auf sie gesetzt wurden, aber das war nicht ihre Schuld, sondern die Schuld von Umständen, über die sie keine Macht hatten, und ob man ihren Wert für die Kultur der Volksmassen nun höher oder geringer einschätzen mag, so tritt dieser akademische Streit gänzlich zurück vor der Tatsache, dass sie sich seit zwanzig Jahren für die Massen als ein Kulturbedürfnis erwiesen haben. Sie haben vielen Tausenden die Kenntnis der großen Dramatiker aus alter wie aus neuer Zeit vermittelt, und es kann gar kein besserer Beweis für ihre ästhetisch und moralisch gleich erfreuliche Wirksamkeit erbracht werden, als dass sie mit ihrem klassischen Spielplan in demselben Maße gedeihen, worin das kapitalistische Theater mit seinen bloßen Amüsierbedürfnissen verfällt.

Kein Wunder aber auch, dass sie in gleichem Maße den Polizeistock reizten, zwischen sie zu fahren. Sicherlich waren sie ihm immer ein Gegenstand patriotischen Grolles, aber früher hatte dieser Groll wenigstens einen gewissen Sinn. Die Freien Volksbühnen waren mit dem Falle des Sozialistengesetzes entstanden, was sie in jeder Polizeiseele mit einer höchst ärgerlichen Erinnerung verknüpfte; sie hatten durch ihre Organisation als Vereine die Theaterzensur ausgeschaltet, um auch Dramen aufführen zu können, die das polizeiliche Missfallen erregten, und so war es – immer in borussischem Sinne – begreiflich, dass Herr v. Koller im Jahre der seligen Umsturzvorlage auch die Freien Volksbühnen abzuwürgen versuchte, indem er ihre Vorstellungen für öffentlich und zensurpflichtig erklärte. Die Freien Volksbühnen lösten sich darauf freiwillig auf und klagten – wenigstens die eine, die in engerem Zusammenhang mit der Berliner Arbeiterbevölkerung stand, ob auch die andere, ist uns nicht genau erinnerlich – gegen das Polizeipräsidium, wurden aber vom Oberverwaltungsgericht abgewiesen. Das Gericht erklärte damals, das Verhalten der Polizei sei solange gerechtfertigt, als die Organisation des Vereins nicht geändert sei. Darauf taten sich die Freien Volksbühnen von neuem auf, indem sie alle Änderungen in ihrer Organisation vornahmen, die das Oberverwaltungsgericht für notwendig erklärt hatte.

Seitdem sind sie von der Polizei unbehelligt geblieben. Es gab dafür einen an sich freilich unerfreulichen Erklärungsgrund, nämlich die Dürre der dramatischen Produktion. Sie zeitigte keine Dramen, die durch ihren literarischen Wert die Ästhetiker des Alexanderplatzes in gerechten Zorn versetzt hätten, und der Streit um die Theaterzensur verlor jede praktische Bedeutung. Seit ihrem Wiederauftreten nach dem Köller-Streich haben die Freien Volksbühnen wohl durchweg Stücke aufgeführt, die auf den öffentlichen Bühnen die Zensur passiert hatten. Eben dadurch verloren sie einen Teil der Bedeutung, die sie hätten haben können, aber für den Verlust dieses Goldstücks schienen sie wenigstens den Bettelpfennig erworben zu haben, vor polizeilichen Querelen geschützt zu sein.

Allein Herr v. Jagow ist ein sorgsamer Haushalter und lässt auch Bettelpfennige nicht umkommen. Urplötzlich erließ er vor ein paar Wochen im schönsten Polizeistil an die Berliner Theaterdirektoren einen Ukas, worin sie aufgefordert wurden, Vorstellungen, die von den Freien Volksbühnen in ihren Theaterräumen veranstaltet würden, künftig als öffentliche zwecks Stellung des vollen Sicherheitsdienstes in der vorgeschriebenen Form anzumelden und die zur Aufführung bestimmten Theaterstücke rechtzeitig zuvor in zwei gleichlautenden Exemplaren zur Zensur einzureichen. Selbst hartgesottene Reaktionäre erschraken über diesen Geniestreich; wozu ohne die leiseste Aussicht auf irgendeinen Profit immer neues Öl ins Feuer schütten, das unter den Gesäßen der edlen Brot- und Fleischwucherer schon lustig genug flackert? So verlor selbst Herr v. Jagow die stolze Haltung des altmärkischen Granden und verkündete einem Ausfrager der bürgerlichen Presse, nur die zärtliche Sorge um Leib und Leben der Volksbühnenmitglieder habe ihn zu seiner Verfügung veranlasst, nur die Notwendigkeit des vollen Sicherheitsdienstes, zu dem denn freilich auch die Theaterzensur gehöre, auf die es ja aber gar nicht ankomme, da die Freien Volksbühnen seiner Erinnerung nach überhaupt keine zensurwidrigen Stücke aufgeführt hätten.

Es hat gewiss seinen eigenen Reiz, die unnahbare Würde eines Berliner Polizeipräsidenten sich in Redewendungen verlieren zu sehen, denen der Stempel der bitteren Verlegenheit aufgedrückt ist. Indessen würden die Freien Volksbühnen sehr töricht handeln, wenn sie sich dadurch beschwichtigen ließen und Herrn v. Jagow wegen seines Ukases nicht im Verwaltungsstreitverfahren belangten. Da er sich darauf stützt, dass die Freien Volksbühnen keine Vereine mit erkennbaren Grenzen seien, obgleich sie genau so organisiert sind, wie es das Oberverwaltungsgericht vor fünfzehn Jahren für notwendig erklärt hat, wenn sie die Rechte von Vereinen beanspruchen wollten, so wird Herr v. Jagow entweder eine Nase besehen oder das Oberverwaltungsgericht wird seine eigenen Gründe aufessen müssen. Auf das eine wie das andere können es die Freien Volksbühnen mit gutem Gewissen ankommen lassen. Aber auch sonst würden sie gegen ihre eigenen Kulturzwecke verstoßen, wenn sie um der praktisch geringen Bedeutung willen, die die Zensurfreiheit augenblicklich für sie hat, des Dichterwortes vergäßen: Um einen Strohhalm groß sich regen, Steht Ehre auf dem Spiel.

Es ist nun aber der Berliner Polizeipräsident nicht allein, der einen Krieg gegen die Freien Volksbühnen führt. Würdig stellt sich ihm der Berliner Kommunalfreisinn an die Seite, der sogar die schwierige Aufgabe zu lösen weiß, an kulturschädlichen Tendenzen das altmärkische und hinterpommersche Junkertum noch zu übertreffen. Kann Herr v. Jagow immerhin noch den mildernden Umstand für sich geltend machen, dass er als Mitglied einer kulturfeindlichen Klasse nicht über seinen Schatten zu springen vermag, so schlägt der Berliner Kommunalfreisinn all seinen pompösen Redensarten von den Kulturzwecken, die er zu fördern vorgibt, mit plumper Faust ins Gesicht, indem er die Freien Volksbühnen einfach durch eine Steuer zu erdrosseln sucht. Hat die Theaterzensur augenblicklich keine praktische Bedeutung für die Freien Volksbühnen, so ist die Lustbarkeitssteuer, die der Berliner Kommunalfreisinn plant, allerdings fähig, sie einfach zu erschlagen.

Man kann in diesem Falle den Geldprotzen, die im Berliner Kommunalfreisinn das große Wort führen, ihre Heuchelei urkundlich bescheinigen. Im Februar 1905 fasste die Berliner Stadtverordnetenversammlung den Beschluss, dass eine Lustbarkeitssteuer, jedenfalls eine Billettsteuer eingeführt werden solle, unter überwiegender Heranziehung der teuren Plätze im Zirkus, und Theater, überhaupt bei Veranstaltungen, die von Fremden viel besucht würden, wobei kulturellen und gemeinnützlichen Bestrebungen in schonender Weise Rechnung zu tragen sei. Gleichviel, was sonst gegen eine solche Lustbarkeitssteuer einzuwenden sein mag, worauf es hier nicht ankommt, so war damit der Plan in ganz schlauer Weise eingefädelt, indem der Schein erweckt wurde, als solle nur reichen Leuten ein wenig von ihrem Überfluss abgezwackt werden, um den Stadtsäckel zu füllen. Dieser Schein wurde noch dadurch verstärkt, dass bei dem latenten Theaterkrach in Berlin die kapitalistischen Theaterdirektionen die Eintrittspreise in unsinniger Weise herauf schrauben, so dass man sagen konnte; wenn das reiche oder wohlhabende Publikum sich in dieser Weise von jedem beliebigen Theaterdirektor schröpfen lässt, weshalb soll der Geldbeutel dieses Publikums nicht noch um ein paar Groschen für das städtische Gemeinwohl erleichtert werden? Natürlich blieb die Resolution aber auf dem Papier; niemand donnerte heftiger gegen sie als der Moniteur des Magistrats, die „Vossische Zeitung"; sie erklärte, selbstverständlich aus den edelsten Beweggründen von der Welt, die Lustbarkeitssteuer für ein Ungetüm, das für immer vom Leben zum Tode gebracht und begraben werden müsse.

Trotzdem hatte diese Übung aber ihren praktischen Zweck. Nach fünf Jahren taucht das Ungetüm wieder auf unter der Begründung, dass sich die Stadtverordnetenversammlung ja schon grundsätzlich für eine Lustbarkeitssteuer ausgesprochen habe, und die biedere Tante Voß nickt dazu ehrwürdig mit ihrem greisen Haupte. Selbstverständlich ist jetzt nicht mehr die Rede „von der überwiegenden Heranziehung teurer Plätze", von der Schonung „kultureller und gemeinnützlicher" Bestrebungen, sondern gleich im ersten Paragraphen figurieren unter den „öffentlichen Lustbarkeiten" solche, die „von Korporationen, Vereinen, geschlossenen Gesellschaften" veranstaltet werden, also in erster Reihe die Freien Volksbühnen. Und nachdem sich Genosse Heimann in glänzender Rede gegen diese Barbarei erhoben hatte, kam ein Haupt des. Kommunalfreisinns und erklärte mit zynischem Lakonismus: „Ich möchte warnen, dass man gewisse Grenzen nicht überschreite, denn sonst würde sich die Steuer nicht lohnen; es wäre viel Geschrei und nichts dahinter." „Steuern, die rationell sind und etwas bringen", müssen nach der – vom kapitalistischen Ausbeuterstandpunkt aus ja auch ganz richtigen – Ansicht dieses Wackeren von den arbeitenden Klassen erhoben werden.

Einstweilen ruht der famose Entwurf in einem Ausschuss. Begraben wird er darin aber nicht bleiben, denn der Kommunalfreisinn, der für die nichtigsten byzantinischen Zwecke Hunderttausende aus dem Fenster zu werfen, aber für künstlerische Zwecke in seinem angeborenen Banausentum nichts übrig zu haben pflegt, trachtet nun einmal danach, die Freien Volksbühnen, die sich das Berliner Proletariat mit seinen Pfennigen aufgebaut hat, als die einzigen Lichtpunkte in der Berliner Theatermisere auszulöschen. Wie sollte es ihn auch nicht reizen, die Arbeiter ans geistige Hungertuch zu binden, nachdem der Schnapsblock1 sie ans leibliche Hungertuch gebunden hat!

Immerhin – da die Courage nicht unter seinen sonstigen Heldeneigenschaften mitzählt, so kann ihm vielleicht noch die Hölle so heiß gemacht werden, dass er auf seinen herostratischen Plan verzichtet. Und einheizen werden die Berliner Arbeiter ihm hoffentlich tüchtig.

1 Gemeint ist das Zusammengehen der Konservativen und des Zentrums 1909 im Reichstag bei der Festlegung von unterschiedlichen Steuersätzen für kontingentierten und nichtkontingentierten Branntwein, die den Junkern beträchtliche Mehreinnahmen brachten.

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