Franz Mehring 19000700 Die Freie Volksbühne

Franz Mehring: Die Freie Volksbühne

Juli 1900

[Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Zweiter Band, S. 530-536. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 290-299]

In diesem Sommer vollendet die Freie Volksbühne ihr zehntes Lebensjahr.1 So geziemt sich wohl ein Rückblick auf ihre Geschichte, um die Bilanz eines Unternehmens zu ziehen, das nach seinem ursprünglichen Zweck eine literarische Organisation der deutschen Arbeiterklasse werden sollte, wie die Sozialdemokratische Partei ihre politische und die Gewerkschaften ihre ökonomische Organisation sind.

Die Freie Volksbühne wurde 1890 gegründet, in prinzipiellem Gegensatz zu den damals und auch schon früher hervorgetretenen bürgerlichen Versuchen, das revolutionäre Proletariat durch Theaterspiele zu „bilden" und zu „beruhigen". Besonders tat sich darin der heitere Sozialistenfresser Georg Adler hervor, und gegen ihn polemisierend schrieb Kautsky in der „Neuen Zeit" 92, S. 252: „Die Aufgabe der Freien Volksbühne geht dahin, Dramen, die ihrer Tendenz wegen bisher nicht zur Aufführung gelangen konnten, die dem Proletariat vorenthalten wurden, diesem in der Darstellung zugänglich zu machen. Darin liegt die Bedeutung der Freien Volksbühne. Wenn sie dieser ihrer Aufgabe untreu würde, wenn sie sich darauf beschränkte, Dramen, die auch auf anderen Bühnen gegeben werden, zur Aufführung zu bringen, wenn ihr einziger Unterschied von den anderen Bühnen in der Höhe des Eintrittspreises läge, wenn sie zu einer dramatischen Volksküche herabsänke, dann würde sie allerdings dem Ideal des Herrn Adler nahekommen, aber auch jede kulturhistorische Bedeutung verlieren. Die Frage, ob man für 50 Pfennig bloß auf der vierten Galerie oder gelegentlich auch im Parkett einen Platz findet, hat für das Proletariat wenigstens bisher noch nicht die Bedeutung einer ,sozialen Frage' gewonnen." Aus einer Fülle gleichartiger Zeugnisse hebe ich gerade dies hervor, weil es mir am nächsten liegt; wer die damaligen Vorgänge miterlebt hat, wird nicht bestreiten, dass Kautskys Meinung eben die war, die zur Gründung der Freien Volksbühne führte.

Stellen wir diesem ihrem ursprünglichen Programm nun ihren Spielplan aus dem letzten Jahre entgegen, so wie ihn ihr gegenwärtiger Vorsitzender im „Vorwärts" vom 10. Mai ds. Js. veröffentlicht hat, und zwar im Sinne einer rühmlich vollbrachten Leistung: „Goethes ,Faust', Freytags ,Journalisten', Dreyers ,Winterschlaf, Lessings ,Minna von Barnhelm', Schnitzlers ,Vermächtnis', Ibsens ,Rosmersholm', Shakespeares ,Hamlet', Björnsons ,Neuvermählte', ,Die Töchter des Herrn Dupont' von Brieux, zwei Einakter von Hartleben, einer von Sudermann und einer von Schnitzler." So verschieden diese Stücke sonst sein mögen, so haben sie das eine Gemeinsame, die gespieltesten Stücke der bürgerlichen Bühne zu sein. Es kommt gar nichts darauf an, ob das eine oder das andere davon wegen seiner literarischen Minderwertigkeit vielleicht nicht in den Spielplan der Freien Volksbühne gehört; mit solchen Lückenbüßern muss jede Bühne rechnen, auch die idealste. Das Fatale dieses Spielplans sind vielmehr gerade seine Juwelen, denn mit ihnen kommt er dem Ideal des Herrn Georg Adler allerdings nahe. Hätte irgendwer 1890 vorhersagen können, dass die Freie Volksbühne im zehnten Jahre ihres Bestehens stolz darauf sein würde, Dramen aufzuführen, die seit zwanzig, seit fünfzig und selbst schon seit hundert Jahren bis zur Bewusstlosigkeit auf dem bürgerlichen Theater abgespielt worden sind, so wäre die Freie Volksbühne nicht entstanden. Das damals so frische und kräftige Klassenbewusstsein der Berliner Arbeiter hätte dann einfach dekretiert: Weg mit der Spielerei!

Die Schuld an dieser unerfreulichen Entwicklung tragen nun freilich nicht Personen, sondern Verhältnisse. Die Blüte des nationalen Dramas, auf die man vor zehn Jahren hoffte, blieb aus, und was von jungen Talenten vorhanden war, wurde sehr bald von dem kapitalistischen Theater gekapert. In den beiden ersten Jahren der Freien Volksbühne konnte sie noch einigermaßen aus dem vollen wirtschaften; sie spielte Anzengruber, Gogol, Ibsen, Hauptmann, Halbe, Pissemski, Zola, genug, sie segelte ganz munter nach dem Kompass ihres ursprünglichen Programms. Allein sie wollte äußerlich nicht recht gedeihen, blieb in der Zahl ihrer Mitglieder und damit auch in ihren Mitteln beschränkt und musste sich deshalb auf ein entlegenes Vorstadttheater beschränken, wo die künstlerische Darstellung viel zu wünschen übrigließ. Es kam darüber zu einer Krisis, auf deren Einzelheiten natürlich nicht näher eingegangen werden soll. Sachlich spitzte sie sich auf die Frage zu, ob der Verein ein pädagogisches Unternehmen sein solle, wobei die Schriftsteller die Lehrer und die Arbeiter die Zöglinge spielten, so dass diese zwar etwa bei der Kassenverwaltung etc., aber keineswegs bei der künstlerischen und literarischen Leitung mitzureden hätten, oder ob der Verein, wie jeder Arbeiterverein, durchaus auf demokratischer Grundlage organisiert sein müsse. Diese Stellung der Frage führte zu heftigen Reibungen zwischen den Schriftstellern und den Arbeitern, und als die Schriftsteller die Arbeiter zu boykottieren versuchten, brach der Verein auseinander. Der bisherige Vorsitzende Wille, fast alle dem Verein angehörenden Schriftsteller und eine Minderheit der Arbeiter schieden aus, um die Neue Freie Volksbühne zu gründen, während die große Mehrheit der Arbeiter in dem alten Vereine blieb und mich zum Vorsitzenden wählte.

Soll ich heute ganz objektiv, keinem zuliebe und keinem zuleide, über die damaligen Kämpfe schreiben, so muss ich sagen, dass die Spaltung des Vereins sich als logische Folge ergab aus dem inneren Widerspruch des ganzen Volksbühnenproblems. Man braucht nur einen Blick auf die fernere Entwicklung der beiden Vereine zu werfen, um das sofort zu erkennen. Die Neue Freie Volksbühne ist dem ursprünglichen Programm in hohem Grade treu geblieben; der kleine Kreis ästhetisch und literarhistorisch gebildeter Schriftsteller, der an ihrer Spitze steht, unabhängig von der Wahl durch die Generalversammlung, hat mit einer gewiss anerkennenswerten Findigkeit und Konsequenz immer noch Stücke aufzufinden gewusst, die nicht auf die bürgerliche Bühne gelangen können, aber von literarischem Werte und für das Proletariat anregend sind. Mag er dabei auch „experimentiert" und manchen Missgriff begangen haben: wer nicht wagt, kann nicht gewinnen. Allein die Neue Freie Volksbühne ist immer ein kleiner Verein mit ärmlichen Mitteln geblieben; der Mangel einer demokratischen Organisation hat sie gehindert, unter den Arbeitern tiefe Wurzeln zu schlagen – und was helfen ihr die schönsten Stücke, wenn sie stets auf deren ganz unzulängliche Darstellung angewiesen ist? Umgekehrt die Freie Volksbühne. Sie hat zehnmal soviel Mitglieder und zehnmal soviel Mittel, kann sich was leisten und leistet sich auch was, aber sie hat sich von ihrem ursprünglichen Programm so weit zurückgezogen, dass sie stolz darauf ist, im zehnten Jahre ihres Bestehens „Faust" und „Hamlet" aufzuführen!

Wenn ich nun den näheren Zusammenhang dieser Erscheinung untersuche, so will ich mich bei nebensächlichen, wenn auch an sich nicht unwichtigen Punkten gar nicht erst lange aufhalten. Beispielsweise dabei nicht, dass von vornherein schon die Leitung einer Volksbühne ungleich ängstlicher, behutsamer und vorsichtiger sein wird, wenn der Verein nicht 6-700, sondern 6-7000 Mitglieder zählt. Es ist, selbst bei Voraussetzung aller sonstigen Tapferkeit, ein wesentlicher Unterschied, ob man einmal oder sechsmal das Fegefeuer der Arbeiterkritik zu passieren hat, deren Fehler nicht gerade übergroße Blödigkeit ist. Aber davon ganz abgesehen, so ist es überaus schwierig, mit einem literarischen Ausschuss von dreizehn alljährlich von der Generalversammlung neu gewählten, untereinander meist ganz unbekannten, überwiegend aus Arbeitern bestehenden Mitgliedern das ursprüngliche Volksbühnenprogramm auszuführen. So sehr ich heute noch wie vor acht Jahren die Auffassung vertrete, dass ein Arbeiterverein ohne demokratische Organisation weder eine Existenzberechtigung noch eine Existenzmöglichkeit hat, so sehr muss ich anerkennen, dass ich damals die tatsächlichen Schwierigkeiten, die der demokratischen Organisation der Freien Volksbühne entgegenstehen, ganz beträchtlich unterschätzt habe. Schon die dreizehn Mitglieder des Ausschusses vollzählig zusammenzubringen, ist eine Aufgabe, die ich nur ein einziges Mal in den drei Jahren, wo ich den Vorsitz führte, zu lösen so glücklich war, und zwar in der ersten Sitzung nach der Krisis von 1892, wo die Gemüter noch in erregter Kampfstimmung waren. Später ist es mir nie wieder so gut geworden. Bald waren diese zugegen, bald jene; bald kannten die einen dies Stück, aber nicht jenes, bald die anderen jenes Stück, aber nicht dieses; genug, ein praktisches Einarbeiten zur Durchführung eines konsequenten Programms war ganz unmöglich, geschweige denn, dass eine Mehrzahl vielbeschäftigter, in ihren spärlichen Mußestunden schon durch den gewerkschaftlichen oder politischen Kampf hart beanspruchter Leute sich nun noch auf dem laufenden über die zeitgenössische Literatur hätten halten können. Das erfordert eben doch auch eine ganze Kraft, wie denn unser alter Freund Schweichel als Ästhetiker und Literarhistoriker von Beruf acht Jahre lang literarisch die zuverlässigste Stütze des Ausschusses gewesen ist. Nicht als ob ich irgendeinem anderen Mitglied Fleiß und Pflichttreue absprechen wollte; hätten sie es daran fehlen lassen, so wäre der Karren überhaupt nicht vorwärtsgekommen. Aber die Verhältnisse sind stärker als die Personen; gerade aus Gewissenhaftigkeit, in dem drückenden Gefühl einer Verantwortlichkeit, von der man empfindet, dass man ihr doch nicht gerecht werden könne, rettet man sich zu Stücken, die dadurch eine sichere Garantie bieten, dass sie schon unsere Großväter und Väter entzückt haben.

Nichts ist irriger, als wenn Conrad Schmidt in einer Polemik, auf die ich noch zurückkomme, die Freie Volksbühne auf diese Weise „groß" werden lässt. „Groß" begann sie unter meinem Vorsitz zu werden, und meine Kollegen wie ich sind nie auch nur einen Augenblick über die Ursache dieser „Größe" zweifelhaft gewesen. Sie bestand einfach darin, dass die Freie Volksbühne nach ihrer demokratischen Reorganisation die Mittel gewann, die Hälfte ihrer Vorstellungen in einem Theater ersten Ranges, im Lessing-Theater, zu geben. Dadurch komplizierte sich die künstlerische und literarische Aufgabe des Vereins nun aber wieder ganz bedeutend. Für die Hälfte seiner Vorstellungen war er an den Spielplan einer Bühne gebunden, die auf alles andere eher eingerichtet war als auf den Kunstgenuss des Proletariats. Zwar wurde in den Kontrakten abgemacht, dass die Direktion alljährlich ein oder zwei Stücke auf Verlangen des Ausschusses neu einstudieren müsse, aber sie behielt sich ein Einspruchsrecht gegen die Wahl dieser Stücke vor, wie sie von ihrem Standpunkt aus auch nicht wohl anders konnte. Mit dieser Bedingung war also tatsächlich nicht mehr erreicht als eine Anweisung auf den guten Willen der Direktion. Für die volle Hälfte des Spielplans war die freie Bestimmung des Vereins eingeschränkt auf einen zähen Kleinkrieg mit einer bürgerlichen Theaterleitung, die sich von vornherein die günstigere und im letzten Ende uneinnehmbare Position gewahrt hatte.

Wäre nur wenigstens diese Einschränkung wirklich mit dem erkauft worden, womit sie erkauft werden sollte! Aber hier zeigte sich der innere Widerspruch des Volksbühnenproblems noch in einer anderen Weise. Man ging zum Lessing-Theater, um bei einem mehr oder minder anfechtbaren Spielplan wenigstens gute Schauspieler zu haben und – man kam vom Regen in die Traufe. Die holde Illusion, dass die Schauspieler eines Luxustheaters vor dem dankbaren und genussfrischen Arbeiterpublikum mit besonderem Feuer spielen würden, entpuppte sich als das, was sie war, sobald die Sache zur Gewohnheit wurde, sobald jeden Sonntagnachmittag gespielt werden musste. Es begann – nicht immer, aber häufig – eine Nachlässigkeit in der Darstellung einzureißen, die von den Arbeitern als Verhöhnung empfunden wurde, und mit Recht. Selbst die Logenschließer hielten es ihrer Würde für angemessen, die Vereinsmitglieder fühlen zu lassen, dass diese „nur Arbeiter" seien. Auf den Wunsch vieler Mitglieder und im Auftrag des Ausschusses habe ich deshalb wiederholt an die Direktion geschrieben, im günstigsten Falle mit vorübergehendem, niemals mit dauerndem Erfolg. Die Verhältnisse waren auch hier stärker als die Menschen. Es kam schließlich so weit, dass die Vorstellungen auf dem Vorstadttheater, die der Verein selbst einrichtete, auch schauspielerisch die besseren waren.

Alles das enthüllte sich nicht gleich am ersten Tage, aber im Laufe dreier Jahre doch so weit, dass, als die Freie Volksbühne dem Köller-Streich erlag, mir als ihrem damaligen Vorsitzenden dies Ende nicht allzu schreckhaft erschien. Ich war längst zweifelhaft geworden, ob das Spiel die Kerze lohne, und wenn nun ein ehrenhafter Tod auf dem Schlachtfeld alle Zweifelsqualen abschnitt, um so besser! Die literarische Organisation des Proletariats ist eine angenehme Beigabe, aber keine unbedingte Notwendigkeit seines Klassenkampfes. Jedoch den Berliner Arbeitern war die Sache liebgeworden, und als es möglich war, die Freie Volksbühne wieder aufzutun, zögerten sie nicht lange damit. Aufs Neue den Vorsitz zu übernehmen, lehnte ich ab; auf meinen Vorschlag wählte die Generalversammlung dann Conrad Schmidt.

Über die nunmehrige Entwicklung der Freien Volksbühne will ich mich nicht verbreiten. Ich habe die Schattenseiten der Sache für die Zeit geschildert, wo ich in erster Reihe für sie verantwortlich war, und kann auch den Schein vermeiden, als wolle ich Personen zur Last legen, was doch nur durch die Verhältnisse verschuldet ist. Eben auch den Verhältnissen war es zuzuschreiben, dass die alten Überlieferungen des Vereinslebens durch seine gewaltsame Unterbrechung abgerissen wurden. Während man früher doch immer gegen den Strom zu schwimmen und alljährlich wenigstens durch ein oder ein paar neue Stücke das ursprüngliche Programm aufrechtzuerhalten suchte, lässt man sich jetzt vergnügt vom Strome treiben und ist noch von der „Größe" des Vereins erbaut, wenn er durch eine, an sich gewiss höchst verdiente, Huldigung nur den Geschmack der Ahnen ehrt. Die Dürre der dramatischen Produktion ist eine haltlose Ausrede, denn dass sich trotz dieser an sich ja unbestreitbaren Dürre noch manches erreichen lässt, zeigt die Neue Freie Volksbühne.

Man wendet vielleicht ein, das bisschen, was sich der überwältigenden Ungunst der Verhältnisse abringen ließe, mache den Kohl doch auch nicht fett. In einem Sinne gewiss nicht, aber in einem anderen Sinne kommt es allerdings gewaltig viel darauf an, ob sich ein Arbeiterverein seines Prinzips bewusst bleibt oder nicht. In jenem Falle schadet er wenigstens nicht, wenn er auch den Umständen nach nicht viel vor sich bringen kann; in diesem Falle schädigt er aber den Emanzipationskampf seiner Klasse, und die Sozialistenfresser von Bismarcks Oberoffiziösem Hahn bis zu Herrn Georg Adler wissen ganz gut, weshalb sie immer auf dem prinziplosen Theaterspielen als einem höchst probaten Mittel zur „Bildung" und „Beruhigung" der Arbeiterklasse herum geritten sind. Dass sich die Anfänge solcher Schädigung auch schon in der Freien Volksbühne bemerkbar machen, zeigen ein paar kleine Vorkommnisse, mit denen der Verein in sehr eigentümlicher Weise die Vollendung seines zehnten Lebensjahres gefeiert hat.

In seiner Generalversammlung vom April dieses Jahres wählte er einen Redakteur der „Zukunft" in seinen Ausschuss, zur selben Zeit, wo dies Blatt in seiner abgeschmackten Radaumanier den von den Arbeiterabgeordneten des Reichstags geführten Obstruktionsfeldzug gegen die kunst- und theaterfeindlichen Paragraphen der lex Heinze verhöhnte. Dadurch wurde der Schein hervorgerufen, als sei in der Freien Volksbühne gänzlich jener natürliche sittliche Takt erloschen, der jeden Arbeiterverein in jedem Augenblick instinktiv empfinden lässt, was er seiner Klasse schuldet.

Ich sage: der Schein wurde hervorgerufen, denn die Generalversammlung hat eben nur einen „Herrn Doktor Berthold aus Hamburg" gewählt, der ihr vom Vorstandstisch vorgeschlagen wurde. Wäre ihr gesagt worden: „Dieser Herr aus Hamburg lebt seit Jahren in Berlin, er ist von der Sozialdemokratie zur Bismärckischen ,Zukunft' hinübergewechselt, hat mit seinem Busenfreund Harden gemeinsam die Stiefel des Säkularmenschen geputzt und Arm in Arm mit Herrn Georg Adler unter seiner verantwortlichen Zeichnung des Blattes die schäbigste Sozialistenfresserei betrieben, während jetzt das von ihm mit redigierte Blatt die von euren politischen Vertrauensmännern geführte Bewegung gegen die kunstfeindliche lex Heinze in kindischer Weise verspottet", so wäre Herr Berthold nicht gewählt worden. Das versteht sich ja von selbst. Aber was dann noch übrigbleibt, ist doch auch schlimm genug. Wozu sind denn vor acht Jahren die erbitterten Kämpfe um die demokratische Organisation des Vereins geführt worden, wenn seine Generalversammlung bei der Wahl des Ausschusses jede Sorgfalt vermissen lässt? Das wäre früher ganz unmöglich gewesen, und ich wäre schön angekommen, wenn ich als Vorsitzender auf mein ehrliches Gesicht hin beansprucht hätte, dass irgendein Vetter aus Bremen in den Ausschuss gewählt werden solle.

Vernachlässigt der Verein somit in unzulässiger Weise seine Pflichten als Arbeiterverein, so überspannt er in gleich unzulässiger Weise die Rechte, die er als Arbeiterverein zu haben glaubt. In einer Kritik der letzten Vorstellung, die in dem eben ablaufenden Spieljahr stattfand, machte der Theaterkritiker des „Vorwärts" ein paar oder eigentlich nur einen bescheidenen Reformvorschlag. Er führte eingehend aus, dass der Verein ohne eigene Schuld, allein durch die Macht der Verhältnisse, in seinem Wirkungskreis außerordentlich eingeschränkt worden sei, aber er meinte, in etwas ließe sich das ursprüngliche Programm der Freien Volksbühne doch auch jetzt noch durchführen und schlug vor, einen Dramaturgen anzustellen, der dem Ausschuss aus der Flut der zeitgenössischen Produktion dasjenige zur Prüfung vorlegen solle, was sich etwa im Sinne des ursprünglichen Programms zur Aufführung eignen könnte. Ob sich dieser Vorschlag praktisch durchführen lässt, mag zweifelhaft sein, und in diesem Punkte habe ich auch meine Bedenken, aber es ist ein ebenso diskutabler wie wohlwollender Vorschlag, und wenn er sich durchführen ließe, was der sorgfältigsten Prüfung wert ist, so würde allerdings ein wesentlicher Teil der Hindernisse beseitigt sein, die jetzt einer fruchtbaren Tätigkeit des Ausschusses entgegenstehen. Was nun aber antwortet der Vorsitzende der Freien Volksbühne in einer gereizten Erklärung darauf? Schlaikjer wolle den Charakter, wodurch der Verein „groß geworden" sei, durch eine nagelneu von ihm erfundene Radikalkur vernichten; er wolle den Verein zu einer „experimentierenden Sezessionsbühne" machen und „Arbeitergroschen" für einen Spezialdramaturgen verschwenden. Über das, wodurch der Verein „groß geworden" ist, habe ich mich schon ausgelassen. Mit dem Schlagwort der „experimentierenden Sezessionsbühne" ist gar nichts gesagt, solange man nicht weiß, was darunter verstanden werden soll, denn mit einigem Mangel an gutem Willen lässt sich derselbe Vorwurf den ursprünglichen Gründern der Freien Volksbühne machen, die allerdings auch neue Stücke aufführen und nicht bloß einen Abklatsch der bürgerlichen Bühne herrichten wollten. Endlich aber was das Verwüsten von Arbeitergroschen anbetrifft, so hat sich der selige Puttkamer hoffentlich aus Vergnügen über die geistige Anleihe im Grabe umgedreht, aber sonst würde sich ein Arbeiterverein mit einem Jahresetat von 50-60.000 Mark, von denen 20-30.000 Mark unter den drückendsten Bedingungen und für sehr mäßige Leistungen einer Luxusbühne zugebilligt werden, der traurigsten Pfennigfuchserei schuldig machen, wenn ihm 2-3000 Mark zu viel wären für ein Mittel, das ihm wesentlich erleichtern könnte, seine prinzipiellen Zwecke zu erreichen.

Aber damit nicht genug! Schlaikjer kommt in seinem Artikel auch auf die schauspielerische Seite der Vorstellungen zu sprechen. Er lässt auch hier dem Verein alle Gerechtigkeit widerfahren und sagt ausdrücklich: „Die Freie Volksbühne hat im Ostendtheater mit einem zusammengestellten Ensemble Vorstellungen herausgebracht, die ausgezeichnet waren, und selbst wo sie das nicht waren, merkte man – im allgemeinen – Ernst und Eifer." Schlaikjer fügt nur hinzu, im Lessing-Theater, wo ein eingespieltes Ensemble zu Hause sei, müsse man höhere Ansprüche stellen; da dürfe man nicht dulden, dass die Sache laufe, wie sie könne, und die Schauspieler unerlaubte Possen trieben; je länger dieser unerträgliche Zustand dauere, um so rücksichtsloser und schärfer werde er ihn bekämpfen. Hier mutet also Schlaikjer dem Verein gar nicht einmal etwas zu; er will ihn nur in einer schwierigen Position unterstützen, was ihm ohnehin schon als dem Theaterkritiker des „Vorwärts" oblag. Wollte der Verein trotzdem dagegen etwas einwenden, so konnte er vielleicht sagen: „Wir sind ganz zufrieden mit dem, was uns im Lessing-Theater vorgesetzt wird, und wollen unsere delikaten Beziehungen zu diesem Luxustheater durch keine Kritik gefährdet sehen", obgleich dieser Einwand nur beweisen würde, dass sich bei all der Theaterspielerei auch das ästhetische Urteil der Vereinsmitglieder seit sechs Jahren sehr abgestumpft hat.

Allein was antwortet der Vorsitzende des Vereins nun wirklich? Er teilt den Lesern des „Vorwärts" die ihnen längst bekannte Tatsache, dass ein Drama Schlaikjers im Schiller-Theater aufgeführt worden ist, noch einmal mit und fügt hinzu: „Das Lessing-Theater bildet, nach seinen Kritiken zu schließen, den negativen Gegenpol zum Schiller-Theater: so wie dort alles Licht, ist hier alles Schatten. Es ist das eine Privatmeinung von Herrn Schlaikjer, mit der, wenigstens was das Schiller-Theater betrifft, seine Leser ja hinlänglich bekannt sind." Hier wird Schlaikjer also mit dürren oder vielmehr, was die Sache noch viel schlimmer macht, mit verhüllten Worten beschuldigt, aus Gründen privaten Eigennutzes seine Pflicht als Theaterkritiker zu verletzen. Auf diese Insinuation brauchte Schlaikjer nun gar nicht einmal zu antworten. Wer seine Theaterkritiken im „Vorwärts" verfolgt hat, der weiß auch, dass ihr nicht entfernt einziger, aber vielleicht einleuchtendster und jedenfalls für das sozialdemokratische Zentralorgan erfreulichster Vorzug ihre unbedingte Ehrlichkeit ist, und zudem ist es ein alter, bisher noch nicht erschütterter Rechtsgrundsatz, dass der Ankläger die Richtigkeit, aber nicht der Angeklagte die Nichtigkeit der Anklage zu beweisen hat. Gleichwohl ließ sich Schlaikjer dazu herab, ausführlich und überzeugend nachzuweisen, dass es bei seiner kritischen Berichterstattung über das Schiller-Theater durchaus mit rechten Dingen zugegangen sei. Nun hätte man erwarten sollen, dass der Ankläger entweder seinen Beweis führen oder durch eine ehrliche Zurücknahme seiner verdächtigenden Anspielung seine Übereilung wieder gutmachen würde. Allein weder das eine noch das andere geschah, sondern der Ausschuss der Freien Volksbühne erließ eine Erklärung, worin er sich in Sachen Schlaikjers mit seinem Vorsitzenden „solidarisch" erklärte. Hier wird also die Autorität, die der gewählten Vertretung eines Arbeitervereins naturgemäß in den Augen aller Arbeiter anhaftet, dazu benutzt, einen Kritiker moralisch totzuschlagen, dem man auf dem Wege reeller Beweisführung nichts anhaben kann. Die Sache wäre völlig unbegreiflich, wenn sie sich nicht bis zu einem gewissen Grade dadurch erklärte, dass nach den mir zugegangenen Informationen die Ausschusssitzung, worin die famose „Solidaritätserklärung" beschlossen wurde, nach alter Sitte nur sehr schwach besucht gewesen ist und die anwesenden Arbeiter dagegen gestimmt haben, wenn sie auch leider in der Minderheit geblieben sind.

Darnach ist wohl klar, dass die Freie Volksbühne in eine Zwitterstellung geraten ist, die nicht dauern kann. Steht ihr die Theaterspielerei über allem anderen, so mag sie ehrlich erklären: Wir wollen gar keine Freie Volksbühne im ursprünglichen Sinne des Wortes, wir wollen gar keine literarische Organisation der Arbeiterklasse sein, wir wollen nur nach unseren besten Kräften Theater spielen wie die besseren bürgerlichen Theatervereine auch. Stellt sich die Freie Volksbühne auf diesen Standpunkt, so ist es selbstverständlich ihr unanfechtbares Recht, Herrn Berthold oder wenn sie sonst will Herrn Lauff in ihren Ausschuss zu wählen und jede noch so sachliche und wohlmeinende Kritik der Arbeiterklasse als eine unverschämte Anmaßung zurückzuweisen. Oder aber die Freie Volksbühne hält ihre bisherigen Ansprüche auch fernerhin aufrecht, und dann hat sie nachgerade den dringendsten Anlass, sich zu erinnern, dass diesen Ansprüchen auch Pflichten entsprechen, und endlich einmal mit all dem trödelhaften Wesen aufzuräumen, das sich – ich wiederhole noch einmal, durch die Schuld der Verhältnisse und nicht der Personen – in sie eingeschlichen hat.

Da in der Person Schlaikjers die ganze Theaterkritik der Parteipresse angegriffen war, so glaubte ich mich mit einigen Zeilen im „Vorwärts" über die „Solidaritätserklärung" äußern zu sollen.2 Das hat, wie man mir sagt, „allgemeine Missstimmung" im Verein erregt. Ganz so arg wird das nun wohl nicht sein; ich weiß nicht erst seit heute oder gestern, dass gerade die ältesten und treuesten Mitglieder des Vereins längst nach einem kräftigen Wörtlein lechzen. Aber sonst mag es mit der „allgemeinen Missstimmung" nicht ohne sein; sie würde vortrefflich zu allem anderen stimmen. Nur beirren lasse ich mich dadurch nicht. Ich bin in kritischer Zeit auf Wunsch der Arbeiter in die Bresche getreten und habe jahrelang, so gut ich konnte, für den Verein gearbeitet; dadurch habe ich mir das Recht erworben, ihn auch einmal zu warnen, wenn er sich auf abschüssigen Wegen befindet, und vom Gebrauch dieses Rechtes lasse ich mich durch keine „Missstimmung" abhalten. Auch bin ich überzeugt, dass die Arbeiter, die dem Verein angehören und diese Ausführungen ein wenig überdenken wollen, darin nichts als die Stimme eines alten Freundes hören werden. Dagegen mache ich kein Hehl daraus, dass mir Bannflüche von „Solidaritätserklärungen", zumal wenn Leute von der „Zukunft" daran mitwirken, so gleichgültig sein werden wie der Wind, der durch den Schornstein pfeift.

1 Der Verein Freie Volksbühne war 1896 unter veränderten Satzungen wieder gegründet worden. Mehring datiert hier nach der ersten Gründung vom 29. Juli 1890.

2 Mehring schrieb im „Vorwärts", Nr. 115, 2. Beilage des „Vorwärts", Berliner Volksblatt vom 19. Mai 1900:

Da Sie gestern eine Erklärung veröffentlicht haben, worin sich der Vorstand und der Ausschuss der Freien Volksbühne mit Schmidt solidarisch erklären, so wollen Sie mir, als dem Theaterkritiker der ,Neuen Zeit' gestatten, mich mit Schlaikjer solidarisch zu erklären. Ich weiß wohl, dass durch dergleichen tönende, aber keineswegs überzeugende Redewendungen in der Sache nicht das geringste entschieden wird, aber ich bin zunächst auf diese Form des Protestes angewiesen, nachdem der Vorstand und der Ausschuss der Freien Volksbühne für ihren Angriff auf die Freiheit der Kritik innerhalb der Parteipresse die gleiche Form gewählt haben. In der ,Neuen Zeit' werde ich demnächst aus der Kenntnis, die ich mir als mehrjähriger Vorsitzender der Freien Volksbühne erworben habe, sachlich nachweisen, dass Schlaikjers im ,Vorwärts' an ihr geübte Kritik ebenso wohl erwogen, wie wohltuend war, und alles andere eher verdient hätte als persönliche Verdächtigungen, deren mangelnder Beweis durch die ausgiebigsten ,Solidaritätserklärungen' nicht ersetzt werden kann."

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