Franz Mehring 18921124 Ein letztes Wort in Sachen der Freien Volksbühne

Franz Mehring: Ein letztes Wort in Sachen der Freien Volksbühne

24. November 1892

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band. S. 317-323. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 256-265]

Wenn ich mir nochmals das Wort in einer schon reichlich erörterten Angelegenheit erbitte, so geschieht es wesentlich im Interesse eines Dritten. Wenige Tage nachdem ich zum Vorsitzenden der Freien Volksbühne gewählt worden war, stellte mich Ledebour deshalb brieflich. In meinem damaligen Wunsche, unsere freundschaftlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten, legte ich ihm in einem langen Privatschreiben dar, weshalb ich trotz mangelhafter Befähigung für das Vereinswesen dennoch in einen von der bürgerlichen Presse geboykotteten und der Polizei denunzierten Arbeiterverein eingetreten sei. Ich sprach ihm mein lebhaftes Bedauern über unsere sachliche Meinungsverschiedenheit und den Wunsch nach einer mündlichen Unterhaltung darüber aus. Hierauf schwieg Ledebour. Sein Freund Wille aber überschüttete etwa gleichzeitig meinen Kollegen Türk in der „Zukunft" mit verleumderischen Angriffen, und der Herausgeber dieser Wochenschrift verweigerte die Aufnahme einer ihm von Türk eingesandten Berichtigung. Türk wollte sein Manuskript nunmehr der „Neuen Zeit" einsenden, doch gerade weil ich wusste, dass sich die Loyalität der Redaktion seinem Ansinnen nicht versagt hätte, machte ich ihn auf die stete Raumbedrängnis dieses Blattes aufmerksam, und so gab er seine Absicht auf. Um so erstaunter war ich nun freilich, aus der letzten Nummer der „Neuen Zeit" zu ersehen, dass Willes Freund Ledebour die Loyalität der Redaktion beansprucht hat, um unter der Maske eines von mir „Angegriffenen" die Verunglimpfungen Türks nun gar noch aus der „Zukunft" in die „Neue Zeit" zu übertragen. Hier nun, wo mit dem ehrlichen Namen eines ehrlichen Mannes gespielt wird, ist eine Klarstellung der Sachlage notwendig, und wenn ich denn schon das Wort ergreifen muss, so will ich freilich auch gleich Ledebours sonstige Entstellungen, Verschweigungen und Unwahrheiten nach Gebühr kennzeichnen.

Ledebour erfindet aus freier Faust, dass ich meine Wissenschaft von Willes Tätigkeit in der Freien Volksbühne von Türk habe. Ich habe sie vielmehr von einigen dreißig Mitgliedern, die dem Verein seit Anbeginn zugehört haben; sie alle, von denen jeder gerade so glaubwürdig ist wie Ledebour, haben mir nicht nur gesagt, sondern auch durch schlüssige Beweise erhärtet, dass Türk viel mehr für den Verein gearbeitet hat als Wille, und dass Willes Anspruch, „ausschließlich" die Freie Volksbühne geschaffen zu haben, eine, um in Ledebours Kraftstil zu sprechen, „windige Prahlerei" ist.

Meinen schonenden Lakonismus, dass Türk als alter Duzfreund Willes mindestens die Bildung dieses Herrn besitze, benützt Ledebour zu einer Vorlesung über den Verkehr mit Arbeitern. Ich habe triftige Gründe, jede Belehrung darüber aus seinem Munde mit höflichem Dank abzulehnen. Ich will ihm aber gern die „alte Duzfreundschaft" dahin erläutern, dass – wie ich wiederum nicht von Türk, sondern von ganz andern, ebenso beweiskräftigen wie glaubwürdigen Leuten weiß – Wille von Türk Freundschaftsdienste angenommen hat, die Ehrenmänner schlechterdings nur von mindestens gleich gebildeten, das heißt in diesem Zusammenhange: von mindestens gleich kräftig für den Kampf ums Dasein ausgerüsteten Freunden annehmen können. Wenn Ledebour aber mich auf Türks „Freundschaft" festnageln will, so ist mir das sehr schmeichelhaft: ich kenne Türk zwar noch nicht zwei Monate, aber er hat in dieser Zeit als mein Kollege einen Fleiß, eine Unermüdlichkeit und eine uneigennützige Bescheidenheit bewiesen, die ich früher wohl an früheren Kollegen nicht in ebenso viel Jahren trotz sehnsüchtigen Suchens zu entdecken vermocht habe.

Ledebour erfindet weiter aus freier Faust, sein Freund Wille sei nicht von vornherein dagegen aufgetreten, dass „Türk nach dessen einmal bewiesener Taktlosigkeit überhaupt wieder mit einem Vertrauensposten im Verein betraut wurde". Wille hat sich vielmehr mit Händen und Füßen gegen Türks Wahl zum Kassierer gesträubt und gerade dadurch das erste Misstrauen der Vereinsmitglieder gegen sich erweckt. Doch untersuchen wir zunächst Türks angebliche „Taktlosigkeit"! Nachdem der Verein durch das Oberverwaltungsgericht unter das preußische Vereinsgesetz gestellt worden war, weil er „auf öffentliche Angelegenheiten einwirken" wolle, hat Türk nach Ledebours Angabe öffentlich erklärt: „Wir wollen auf öffentliche Angelegenheiten einwirken und sind stolz darauf." Aber als der Handel noch schwebte und nur erst der hiesige Polizeipräsident dem Verein die Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten nachsagte, erklärte Herr Wille in einer von ihm „im Auftrage des Vorstandes" herausgegebenen Druckschrift: „Der Vorstand würde gegen diese an und für sich ehrende Auffassung nichts eingewendet haben, wäre er nicht der Meinung gewesen, die Freiheit der Freien Volksbühne müsse aufs äußerste verteidigt werden." Ich bin nun der allerletzte, Herrn Wille daraus einen Vorwurf zu machen, dass er vor einem polizeilichen Angriffe die Flagge nicht strich, sondern erst recht entfaltete, wie ich denn auch Türks Äußerung höchst angemessen finde. Man muss sich ja mit dem preußischen Vereinsgesetz einrichten, indessen ein Arbeiterverein braucht vor einem reaktionären Gesetze, dessen reaktionäre Urheber es selbst in der Reaktionszeit der fünfziger Jahre nur als eine vorübergehende Erschwerung des Vereins- und Versammlungsrechts zu rechtfertigen wagten, doch auch nicht gerade auf dem Bauche zu liegen. Jedenfalls aber – was dem einen recht ist, das ist dem andern billig, und wenn Ledebour über Türks „Taktlosigkeit" klagen und die Leser der „Neuen Zeit" zu Richtern darüber aufrufen will, was „jene Worte des Herrn Türk unter solchen Umständen zu bedeuten hatten", dann hätte er gefälligst auch mitteilen sollen, dass Wille unter noch erschwerenderen Umständen dasselbe gesagt hatte wie Türk.

Nun aber weiter! Türk stand als Mitbegründer des Vereins nicht nur zu Wille, sondern auch zu dem ganzen Musenhof in Friedrichshagen am Müggelsee in vertraulicher Duzfreundschaft. Da hat er denn ein- oder ein paarmal in engem Freundeskreise sich dahin ausgelassen, die Unabhängigen möchten sich doch nicht mit gar zu großer Ungeniertheit in den Vereinsämtern einrichten, nicht andere Elemente herausbeißen, nur Unabhängige als Drucker beschäftigen usw. Das müsse auf die Dauer zwischen den beiden Richtungen, die bisher friedlich in dem Vereine zusammengearbeitet hätten, scharfe Reibungen hervorrufen und den Verein gefährden. Diese in vertraulichem Freundeskreise und bei sehr triftigen Anlässen getanen Äußerungen sind die „politischen Zänkereien", die Türk nach Ledebours Behauptung in den Verein getragen hat. Als nun am 14. Juli d. J. die Vorstandswahlen stattfanden, wurden die Unabhängigen Wille und B. Kampffmeyer zum Vorsitzenden und Schriftführer gewählt, eine Tatsache, die am schlagendsten beweist, dass, wenn bei der Wahl des Kassierers neben dem Unabhängigen Wildberger auch der Sozialdemokrat Türk vorgeschlagen wurde, nicht politische Gesichtspunkte mitspielten, sondern die Ansicht einer Minderheit, dass der Kaufmann Türk für den Kassiererposten technisch befähigter sei als der Tapezierer Wildberger. Nun verfielen Wille und Genossen auf den verwünscht gescheiten, aber für sie allerdings verhängnisvoll gewordenen Gedanken, Türks persönlichen Charakter zu verdächtigen; sie warfen dem armen Kerl, der beiläufig für ein Jahresgehalt von 1080 Mark den weitaus größten Teil seiner Arbeitszeit dem Vereine widmet, gemeine Geldgier vor; er wolle den Verein schröpfen u. a. m. Dies „reine Mittel" wirkte dann so auf das Gerechtigkeitsgefühl der Mitglieder, dass Türks Minderheit zur Mehrheit wurde.

Zwei Tage nach seiner Wahl richtete Türk in begreiflicher Erregung einen langen, langen Schreibebrief an seinen Duzfreund Bölsche in Friedrichshagen, um sich von den ihm gemachten Vorwürfen zu reinigen und ermächtigte den Adressaten, das Schreiben auch einigen andern Freunden, u. a. Ledebour und den Gebrüdern Hart, zu seiner, Türks, persönlichen Rechtfertigung zu zeigen. Nach eingehender Zurückweisung der ihm gemachten Vorwürfe führte Türk in diesem Briefe mit vollem Rechte aus, er sei verdächtigt worden, nicht weil er schlechte Dinge getan habe oder schlechter Dinge fähig sei, sondern weil er als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei vom Vorstande habe ferngehalten werden sollen, und in diesem Zusammenhange machte er die Schlussbemerkung, unter diesen Umständen habe er um den Posten des Kassierers kämpfen und siegen müssen, denn seine Ehre und die Ehre der Sozialdemokratischen Partei habe auf dem Spiele gestanden. Dieser vertrauliche, in leidenschaftlicher Erregung geschriebene Brief ist dann in die Öffentlichkeit gezerrt worden, um durch die Schlussbemerkung zu erhärten, dass Türk als Werkzeug der Sozialdemokratischen Partei gehandelt habe, und Ledebour ist heute noch so geschmackvoll, feierlich dagegen zu protestieren, dass Türk seine Ehre mit der Ehre der Sozialdemokratischen Partei verbinde.

Sehr viel weniger feierlich, aber um ebenso viel gröber muss ich mir verbitten, die Veröffentlichung jenes Briefes unter meinen moralischen Schutz zu stellen. Ich habe vor zwei Jahren einen Privatbrief veröffentlicht, worin Herr Lindau eine Schauspielerin aufforderte, binnen 24 Stunden Berlin zu verlassen, widrigenfalls er als Kritiker ihre Existenz vernichten würde, und ich habe diesen Brief erst dann veröffentlicht, als Lindau ein Jahr lang der Drohung die Tat hatte folgen lassen und der über Fräulein v. Schabelsky verhängte Hungerboykott nicht anders zu brechen war. Wenn Ledebour diese meine Handlungsweise auf dieselbe Stufe stellen will mit dem unanständigen Vertrauensbruche, der an Türks Briefe begangen worden ist, so kann ich das Urteil darüber auch einmal den Lesern der „Neuen Zeit" überlassen. Aus der Güte der Waffe, die Ledebour wählt, mögen sie auf die Güte der Sache schließen, die er verteidigt.*

Soviel zu Türks Rechtfertigung! Er hat gewiss seine Schwächen, wie jeder Mensch, aber von dem Schmutze, den Wille und Ledebour nach ihm werfen, bleibt auch nicht ein Stäubchen an ihm haften.

Nun noch einiges über Ledebours Polemik gegen meinen Aufsatz in Nr. 6 der „Neuen Zeit". Ich habe seine Einwände genau geprüft und halte meine Ausführungen Wort für Wort aufrecht – bis auf einen Nebenpunkt, bei dem ich eine Handvoll verliere, um drei Handvoll zu gewinnen. Um nicht parteiisch gegen Wille und Kampffmeyer zu sein, hatte ich gesagt, sie hätten nicht nur gegen Türk intrigiert, sondern auch „sachliche Meinungsverschiedenheiten" mit ihm gehabt. Ledebour beweist nun sehr breitspurig, aber sonst gar nicht uneben, dass diese sachlichen Meinungsverschiedenheiten viel geringer gewesen seien, als ich angenommen hatte, und dann freilich: um so schlimmer für Wille und Kampffmeyer! Leider erlaubt sich Ledebour auch bei diesem kleinen Triumphe eine große Verdrehung. Eine geringe Erhöhung der Mitgliederbeiträge will er meiner Leitung des Vereins und Türks falschen Kalkulationen auf die Rechnung setzen; tatsächlich ist die Erhöhung schon unter Willes Vorsitz beschlossen und nicht durch falsche Kalkulationen von Türk veranlasst worden.

Je breiter Ledebour diesen Nebenpunkt tritt, um so scheuer schleicht er sich an der für den ganzen Streit entscheidenden Frage vorbei, ob nämlich Herr Wille durch die Drohung einerseits mit der Polizei, andererseits mit einem Boykott der Schriftsteller zweitausend steifnackige Arbeiter unter das kaudinische Joch seiner persönlichen und politischen Velleitäten1 zu zwingen versucht habe. Dass Herr Wille in den beiden Generalversammlungen vom 4. und 12. v. M. im Beisein von Polizeibeamten den Verein als einen politischen denunzierte, falls ihm, Wille, nicht Recht gegeben würde, will Ledebour als „eine leider allzu sehr verspätete Warnung vor den gefahrdrohenden Taktlosigkeiten des Herrn Türk" aufgefasst wissen. Da ich schon gezeigt habe, welche Bewandtnis es mit diesen angeblichen „Taktlosigkeiten" hat, brauche ich das einzige Argument, womit Ledebour die Denunziationen seines Freundes zu beschönigen versucht, nicht weiter zu beleuchten. Um so mehr aber muss ich darauf hinweisen, dass Herr Wille inzwischen durch seinen in der „Zukunft" veröffentlichten Artikel den bitteren Ernst seiner Denunziationen bewährt hat. In diesem Artikel schimpft er zunächst dieselben Vereinsmitglieder, die er vor Jahr und Tag als „denkende Arbeiterschaft" verherrlichte, „Herdenproletarier" und „von Unverstand und Demagogie durchseuchte Demokratie" und beleuchtet dann den politischen Charakter der Freien Volksbühne 1. dadurch, dass Türk dem Verein eine sozialistische, ja sozialdemokratische Richtung geben wolle und 2. dadurch, dass ich eine Erklärung des Vorstandes im „Vorwärts" veröffentlicht habe: dem „Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei", wie Herr Wille noch für den äußerst unwahrscheinlichen, aber von umsichtigen Denunzianten doch auch zu berücksichtigenden Fall erläutert, dass die Polizei den „Vorwärts" in einem plötzlichen Anfall von Geistesverwirrung für eine Kinderfibel hält. Bei dieser Philosophie des reinen Mittels hat der gute Herr Wille das glückliche Talent, zweierlei zu „vergessen". Erstens „vergisst" er, dass er in der schon erwähnten vereinsoffiziellen Druckschrift geschrieben hat: „Wenn der Polizeipräsident in der Freien Volksbühne Sozialismus wittert, so irrt er allerdings nicht. Man muss eben bedenken, dass der Sozialismus keineswegs lediglich eine politische Partei, sondern eine Weltanschauung ist, die sich auf allen geistigen Gebieten, und nicht zum mindesten in der Kunst, betätigt. Die Freie Volksbühne kultiviert die sozialistische Weltanschauung auf dem Gebiete der Dichtung, Bühnenkunst und literarischen Kritik, ist aber deswegen durchaus kein politischer Verein." Und zweitens „vergisst" Herr Wille, dass ich als Erbschaft von ihm die gewohnheits- und teilweise selbst statutenmäßige Verpflichtung überkommen habe, die Bekanntmachungen des Vorstandes im „Vorwärts" zu veröffentlichen. „Arbeiter-Tageszeitung" in § 4 der Statuten, „Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei" in Nr. 4 der „Zukunft": und da spielt sich Herr Wille noch als gekränkter Biedermann auf, wenn man die Katze eine Katz und ihn einen Denunzianten nennt.

Was den Boykott der Schriftsteller angeht, so behauptet Ledebour, ich sei durch meine Gewährsmänner arg hinters Licht geführt worden. In Wirklichkeit habe Dupont, ein Freund Türks, am 4. Oktober die Schriftsteller im Verein für überflüssig erklärt, und erst daraufhin habe Wille vor einer Schriftstellerhetze gewarnt. Es tut mir leid, dass ich mich von Ledebour nicht arg hinters Licht führen lassen kann. Am 4. Oktober hat zuerst Werner, ein Freund Willes, mit dem Boykott der Schriftsteller gedroht, und erst daraufhin hat mein Kollege Dupont gesagt: wenn die Herren uns drohen wollen, dann werden wir auch ohne sie fertigwerden. Werner plauderte nur aus, was längst beschlossene Sache und auch längst öffentliches Geheimnis war; vorsichtige Schweigsamkeit gehört gerade nicht zu den Tugenden des Musenhofs am Müggelsee. Immerhin will ich einräumen, dass Duponts dem Größenwahn des literatus vulgaris2 so trefflich heimleuchtende Replik am 4. Oktober Herrn Wille schwer gereizt haben mag, aber am 12. Oktober reizte ihn kein Mensch, und da hat er in den dürrsten, nacktesten Worten mit dem Boykott der Schriftsteller gedroht, ebenso wie mit den pekuniären Schädigungen, die er dem Verein zufügen würde, falls er nicht Recht erhielte. Ledebour wird mir doch hoffentlich nicht ausreden wollen, was ich, zehn Schritte von Wille entfernt sitzend, mit eigenen Ohren gehört habe.

Ledebour für seine Person will am 12. Oktober aus dem Verein ausgetreten sein, weil Bernhard Kampffmeyer, der in einem auf Kosten des Vereins herausgegebenen Flugblatt alle seine Schmerzen über Türk urkundlich der Mit- und Nachwelt überliefert hatte, nach zwei langen Reden Willes nicht auch noch zum Worte gelassen worden ist. Natürlich respektiere ich Ledebours Beweggründe. Schade nur, dass er ein bisschen zu viel beweisen will! Er sagt, beim Krache in der „Volks-Zeitung" habe er sein Schicksal ja auch an meines geknüpft, und ebenso sei er aus dem Verein Berliner Presse wegen eines ungerechten Urteils in der Lindau-Sache ausgetreten. Ledebour meint: „Unrecht bleibt Unrecht, ob nun hundert Schriftsteller oder zweitausend Arbeiter es sanktioniert haben." Von diesem erhabenen Standpunkt aus übersieht Ledebour leider einige kleine Unterschiede. Als ihm in der „Volks-Zeitung" gekündigt wurde, kündigte ich mit umgehender Post, aber als ich vor Ablauf meiner Kündigungsfrist aufs Pflaster geworfen wurde, blieb Ledebour. Ebenso schied er erst geraume Zeit nach dem Lindau-Urteil aus dem Verein Berliner Presse aus. Ich mache ihm weder aus dem einen noch aus dem anderen den mindesten Vorwurf, aber da er zweitausend anständige Arbeiter mit den Boykottmännern der „Volks-Zeitung" in eine doch wirklich etwas bei den Haaren herbeigezogene Parallele bringt, so muss er sich auch die Kritik dieser Parallele gefallen lassen. Hätte er den Motiven jener Arbeit dieselbe geduldige Prüfung erwiesen wie den Motiven dieser Profitwüteriche, so würde er bei seinem scharfen Verstande alsbald entdeckt haben, dass die zweitausend Arbeiter der Partei Wille-Kampffmeyer etwa einen dreifach so großen Spielraum gelassen hatten wie der Partei Türk und dass sie bei drängender Zeit die wichtigsten Vereinsinteressen nicht von der ungewissen Frage abhängig machen durften, ob Kampffmeyer loyaler handeln würde, als Wille mit seinem Obstruktionsversuche gehandelt hatte.

Einer bewussten Teilnahme an dem Schriftstellerboykott ist Ledebour natürlich unfähig, aber deshalb bleibt dieser Boykott doch eine Tatsache. Von den Beweisen, die ich dafür besitze, will ich hier nur einen anführen, der den Lesern zugleich einen ergötzlichen Einblick in die Hexenküche der kapitalistischen Presse gewähren kann. Zwei Tage nach meiner Wahl schrieb mir ein bürgerlicher Schriftsteller – ich nenne die unbekannte Größe X –, der Verein habe mit meiner Wahl zum Vorsitzenden einen „großen Gewinn" gemacht. Die bürgerliche Presse wolle ihn ja allgemein boykottieren, und in besonders gemeingefährlicher Weise zeichneten sich dabei der Richterkuli Y und der Spitzkuli Z aus (Richter und Spitz sind die Besitzer der „Freisinnigen Zeitung" und des „Kleinen Journals"). Wenn einer, so würde ich mit der „Bande" fertig werden; er, nämlich X, könne mich freilich öffentlich nicht unterstützen, aber „hinter den Kulissen" sei er zu jeder Tat bereit. Na, das war ja gerade kein Überfluss an Heldenmut, aber für die Verhältnisse eines kapitalistischen Pressjünglings war es doch ganz wacker, und ich weinte eine stille Träne der Rührung. Kaum hatte ich sie aber getrocknet, als mir ein unbekannter Wohltäter die Nummer des „Kleinen Journals" zusandte, worin der Aufruf zur Bildung der Neuen Freien Volksbühne stand. Ich werfe einen Blick auf die Unterschriften und siehe da! Voran der Philosoph des reinen Mittels im würdevoll wallenden Mantel und hinterdrein die drei ersten Paladine der „reinen Volkspädagogik": rechts der Richterkuli Y, links der Spitzkuli Z und zwischen beiden mit der ehrpusseligsten Miene von der Welt – Freund X. Durch eine dritte Person ließ er mir dann sagen, er schere sich den Teufel um die neue Gründung, aber unterzeichnen habe er auf Tod und Leben müssen; Y, der Richterkuli, habe ihm die Pistole auf die Brust gesetzt; er habe wahrhaftig nicht anders können. Ja freilich, er konnte nicht anders, und ich verlange von keinem Schelm mehr, als er hat. So ein kapitalistischer Pressboykott klebt zusammen wie Pech und Schwefel; der einzelne kann aus dem – mit Erlaubnis! – Drecke nicht heraus. Aber wenn ich solche, um mit meinem Landsmann Reuter zu sprechen, „Poppiren" in der Tasche habe, so treffliche Originalhandschriften mit so schön deutlich ausgeschriebenen Namen, da soll sich Ledebour doch nur ja nicht aufs hohe Pferd setzen und mich abkanzeln, weil ich „bedauerlicherweise fast nur vom Hörensagen mir ein Urteil über Personen und Dinge bilde und vieles obendrein ganz missverstehe". Ich habe leidlich scharfe Augen und Ohren, und ein Sicherheitskommissar bin ich in meiner Art auch.

Ja, „Poppiren" muss der Mensch haben, wenn er durch die Welt kommen will, und noch ist die Tinte der Briefe kaum trocken, in denen alle die Blätter, die mich jetzt als einen literarischen Nichtswisser zu beschimpfen suchen, weil ich der schamlosen Vergewaltigung eines Arbeitervereins entgegengetreten bin, literarische Beiträge von mir erbaten oder sogar „erflehten" – von der „Freien Bühne" an bis zur „Zukunft" hin. In der „Freien Bühne" nennt Herr Julius Hart mich einen Zaunkönig, der sich an den Adler Wille klammert, um in die Höhe zu gelangen. Mit solchem blödsinnigen Bombast wollen die Minnesingerlein des Musenhofes am Müggelsee mich kujonieren. Du lieber Himmel! Kindisch genug ist auch Ledebours und Harts Gezeter darüber, dass ich das frühere Repertoire der Freien Volksbühne beschimpft haben soll. Wo denn um Himmels Willen? Ob ich es nun billige oder nicht: auch nicht mit der leisesten Andeutung habe ich öffentlich davon gesprochen. Dass ich die Sorte von „Naturalismus", die ewig um den Kehricht des Kapitalismus grinst, die den arbeitenden und kämpfenden Proletarier nicht kennen will, sondern nur den verkommenen Lumpenproletarier schildert – diesen dann freilich manchmal mit der Sicherheit des wahlverwandten Instinktes –, nicht für eine Wiedergeburt der Kunst, sondern für ihren scheußlichsten Verfall halte, das weiß Ledebour seit manchem Jahr, und Hart sollte es wenigstens wissen, wenn er über meine Schriftstellerei orakeln will. Und wenn derlei „Naturalisten" sich im Gefolge des Herrn Wille auch als „reine Volkspädagogen" auftun und die Freie Volksbühne zu boykottieren versuchen, dann darf ich ihnen hoffentlich doch noch sagen, dass sie mit der etwaigen Zerstörung dieser volkstümlichen Kunststätte die Arbeiter doch nicht in die Vergnügungsstätten des Lumpenproletariats treiben werden, wo diese Sorte „Dichter" sie allein zu suchen weiß. Hart benützt seine aus den Fingern gesogene Behauptung obendrein dazu, mich mit Gerhart Hauptmann, den ich wiederholt ausdrücklich von jenen „Naturalisten" unterschieden habe, hintereinander zu hetzen. Das ist echt Friedrichshagener Originalgewächs. Ganz im Stile des von Hart mit redigierten Flugblatts, dessen literarische Vollendung wenigstens insofern nicht angezweifelt werden kann, als es eine unabsehbare Fülle des gräulichsten Altweiberklatsches auf einen immerhin noch absehbaren Raum zusammengedrängt hat.

Soweit ich sehe, habe ich damit alles berührt, was Ledebour vorgebracht hat. Und da ich in dieser Sache öffentlich nicht mehr das Wort zu nehmen gedenke, so will ich zum Schluss noch eins feststellen. Als Wille und Genossen am 12. Oktober freiwillig aus dem Verein ausschieden, befand sich ein noch nicht abgerechneter Teil des baren Vereinsvermögens, etwa 2000 Mark nach ihrer eigenen Angabe, in ihrer Hand. In der sicheren Voraussetzung, dass bei einem wirklichen Arbeiter, einem „Herdenproletarier", wie Herr Wille sagen würde, in Geldsachen immer auf Anstands- und Feingefühl zu rechnen ist, wandten wir uns an Wildberger und waren alsbald mit ihm einig. Er versprach als früherer Kassierer die Herausgabe des Geldes, und wir sicherten ihm selbstverständlich seine gerechten Gegenforderungen zu: Erstattung von Barauslagen an die früheren Vorstandsmitglieder, Übernahme von Druckkosten, pekuniäre Sicherstellung für alle Kosten einiger gegen den früheren Vorstand angestrengter Prozesse etc. Nun legte sich Herr Wille ins Mittel und beanspruchte für die Verwaltung seines Ehrenamts als Vorsitzender nachträglich eine Geldentschädigung. Diese Forderung ist vom Vorstand und der Generalversammlung des Vereins einstimmig abgelehnt worden; die Freie Volksbühne wird nicht der erste Arbeiterverein sein, der praktisch das schimpfliche Prinzip der Besoldung von Ehrenämtern einführt. Wegen dieses Entschädigungsanspruchs hielten nun Wille und Genossen widerrechtlich das in ihren Händen befindliche Barvermögen des Vereins hinter sich, denn, um es noch einmal zu wiederholen, alle ihre sonstigen Forderungen sind ihnen, wie Wildberger in unserer Generalversammlung – vom 31. Oktober – anerkannte, von uns zugesichert worden. Möglich, dass Adler Wille in den Ätherhöhen, in denen er nach Versicherung des Herrn Julius Hart schwebt, solche Kleinigkeit vergessen hat wie die paar Arbeitergroschen, die er hinter sich hält. Aber dann möchte ich Herrn Julius Hart – falls ihm anders seine „Schriftstellerwürde" gestattet, auf das Gezwitscher eines kleinen Zaunkönigs zu hören – doch hiermit gebeten haben, mit wendender Wolkenpost seinen großen König der Lüfte daran zu erinnern, dass er auf Erden noch ein etwas unsauberes Nest zu bereinigen hat.

* Dabei will ich bemerken, dass Herr Julius Hart, anscheinend der unverschämteste Fabulist des Musenhofs am Müggelsee, in der „Freien Bühne" behauptet, ich hätte bisher nur eine ziemlich gehässige Gesinnung gegen das „lächerliche" Unternehmen, nämlich die Freie Volksbühne, an den Tag gelegt. Die Wahrheit ist, dass ich den Verein seit zwei Jahren privatim und öffentlich als ein höchst dankenswertes Unternehmen vorgeschrittener Arbeiterkreise anerkannt, aber seit ebenso langer Zeit Herrn Wille privatim und öffentlich eine „lächerliche" Persönlichkeit genannt habe, weil er in einem Atemzuge die angebliche Korruption der Sozialdemokratischen Partei bejammerte und den Hungerboykott des Herrn Lindau als „reines Mittel" anerkannte.

1 Velleitäten – Launen.

2 literatus vulgaris – ironisch: gemeiner Literat.

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