Franz Mehring 18930713 Freie Volksbühnen

Franz Mehring: Freie Volksbühnen

13. Juli 1893

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Zweiter Band, S. 481-485. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 266-271]

Mit der Ausdehnung der Arbeiterbewegung wächst äußerlich und innerlich ihr Drang, möglichst weite Strecken des öffentlichen Lebens zu erobern, nicht nur auf ökonomischem und politischem, sondern auch auf künstlerischem und literarischem Gebiete an der Emanzipation des Proletariats zu arbeiten. Die Erscheinung ist zu begreiflich, als dass sie hier auf ihre inneren psychologischen Zusammenhänge untersucht zu werden brauchte; sie tritt auch zu klar in die Augen, als dass ihr äußerer Umfang einer besonderen Feststellung bedürfte. Was hier mit einigen Worten geprüft werden soll, ist vielmehr nur ihre Bedeutung für den proletarischen Emanzipationskampf. Es sind darüber verschiedene Ansichten innerhalb der Sozialdemokratischen Partei nicht nur möglich, sondern auch vorhanden, und eine Klärung dieser Ansichten ist um so wünschenswerter, als in der klassenbewussten Arbeiterschaft mehrerer großen Städte der Drang nach der Gründung Freier Volksbühnen immer stärker hervortritt. Wir knüpfen unsere Betrachtungen deshalb an dieses bezeichnendste Symptom der ganzen Erscheinung an; hier steht ein gewisses Maß praktischer Erfahrungen zur Verfügung, und was von der grundsätzlichen Bedeutung der Freien Volksbühnen für die Arbeiterbewegung gilt, das gilt ungefähr ebenso von jedem anderen Gebiete künstlerischer oder literarischer Tätigkeit, auf dem sich die klassenbewussten Arbeiter betätigen möchten oder schon zu betätigen versuchen.

Über das Verdienst, die Freien Volksbühnen erschaffen zu haben, streiten sich bekanntlich mehrere Leute herum. Wir haben weder den Beruf und die Neigung, den Schiedsrichter in diesem Streite zu spielen, schon deshalb nicht, weil die Freien Volksbühnen, soweit sie sich als lebensfähig erwiesen haben, einzig und allein der klassenbewussten Arbeiterschaft ihr Dasein verdanken. Der Gedanke, durch billige oder unentgeltliche Theatervorstellungen das Proletariat zu „bilden" und zu „beruhigen", d. h. über seine Klasseninteressen weg zu täuschen, ist sehr alt und wurde schon in den siebenziger Jahren von den verbissensten Feinden der Arbeiterklasse eifrig erörtert. Er spielte selbst keine ganz geringe Rolle in dem Schwindel des Bismärckischen Staatssozialismus. Bismarcks damaliger Oberoffiziöse, der Geheime Oberregierungsrat Hahn, orakelte in einer eigenen Schrift über das „Deutsche Theater und seine Zukunft"; seine Ausführungen gipfelten in dem Vorschlage einer königlich preußischen Volksbühne, und vom Standpunkte der „Volkspädagogik" gebührt ihm der Lorbeer, um den sich andere Leute so heftig gerauft haben oder noch raufen. Bei dieser Seite der Sache brauchen wir uns hier nicht weiter aufzuhalten, denn für die Leser der „Neuen Zeit" versteht es sich von selbst, dass alle „Volkspädagogik", die den Arbeiter mit der heutigen Gesellschaft „versöhnen" und ihn in seinem Befreiungskampfe abwendig machen will, ein Larifari ist, das nicht schnell genug mit dem Besen von der Tenne gefegt werden kann, gleichviel, von wem es ausgeht.

Darüber sind sich die klassenbewussten Arbeiter auch vollkommen klar, oder wenn sie es anfangs vielleicht nicht in vollem Maße waren, so sind sie es sich doch sehr schnell geworden. Das bewies die Energie, womit sich die Mitglieder der hiesigen Freien Volksbühne im vergangenen Herbste von allen „volkspädagogischen" Velleitäten befreiten. Seitdem hat diese Bühne einen schnellen Aufschwung genommen; sie steht heute ganz auf eigenen Füßen, allein durch die Kraft der klassenbewussten Arbeiterschaft aufrechterhalten; und sie gedeiht in demselben Maße, in welchem die bourgeoisen „Volksunternehmungen" dieser Art, sowohl die der anarchistischen wie die der freisinnigen Spielart, dahinsiechen und nur durch wehmütige Appelle an die Börsen „wohlhabender und wohlwollender Gönner" sich noch eine Galgenfrist zu erkaufen suchen. Das Gedeihen der hiesigen Volksbühne weckt nun aber anderwärts im Reiche den Trieb der Nacheiferung, und damit tritt die Frage in ein Stadium, das ihre sachliche Erörterung in der sozialistischen Presse notwendig oder doch wünschenswert macht. Es würde ebenso ein Fehler sein, die neue Erscheinung allzu geringschätzig wie allzu überschwänglich zu beurteilen; es kommt darauf an, zu untersuchen, was sie leisten und was sie nicht leisten kann, und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen für die Beantwortung der Frage, ob der Trieb nach Gründung Freier Volksbühnen innerhalb der Arbeiterpartei befeuert oder gezügelt werden muss.

Von vornherein liegt auf der Hand, dass die Schaubühne für die Emanzipation der arbeitenden Klasse niemals auch nur entfernt die gleiche Bedeutung haben kann, wie sie, namentlich in Deutschland, für die Emanzipation der bürgerlichen Klasse gehabt hat. So beschränkt unser Press- und Vereinsrecht sein, so mangelhaft auch noch das allgemeine Wahlrecht sein mag, so tritt hinter diesen Hebeln des proletarischen Emanzipationskampfs das Theater doch vollständig in den Hintergrund. Es ist ganz richtig, wenn Karl Frenzel sagt, das Jahr 1848 habe den überwältigenden Einfluss des Theaters im deutschen Volk gebrochen. Diese Ansicht eines gebildeten Bourgeoiskritikers zeugt von einer ebenso scharfen Auffassung der historischen Entwicklung wie der preiswürdige Tiefsinn eines verkannten Genies aus Gründeutschland: die Beteiligung der Arbeiter an der sogenannten „Volksbühnen-Bewegung" sei unendlich wichtiger als ihre Beteiligung an der Wahlbewegung, von dem Gegenteile zeugt. In dem Emanzipationskampfe des Proletariats wird das Theater nie eine entscheidende oder auch nur besonders einflussreiche Rolle spielen; darüber können sich nur unheilbare Wirrköpfe täuschen.

Dagegen hieße es, das Kind mit dem Bade verschütten, wenn man hieraus gleich den Schluss ziehen wollte, mit den Freien Volksbühnen sei lieber ganz aufzuräumen. Energischen Charakteren liegt diese Schlussfolgerung ja im allgemeinen nahe, und dem Parteikassierer im besonderen müsste es als eine sehr menschliche Empfindung nachgesehen werden, wenn er auf die 30 bis 40.000 Mark, mit denen der diesjährige Etat der Freien Volksbühne abschließen wird, nicht mit ungemischtem Wohlwollen blicken würde. Es ist aber doch sehr die Frage, ob von dieser Summe auch nur 30 oder 40 Pfennig ohne die Freie Volksbühne in die Parteikasse geflossen sein würden. Denn schließlich lebt auch der eifrigste Parteimensch nicht von der Politik allein, und die Stunden der Erholung, der geistigen Auslösung und Erfrischung sind nirgends so wohl angebracht wie im Theater. Denn in allem Wechsel der Zeiten wird der Bühne doch immer die Aufgabe bleiben, das menschliche Herz zu erheben und zu erfreuen.

Ein Wichtigeres noch kommt hinzu. Gerade die hohe Bedeutung, die das Theater für den Emanzipationskampf der bürgerlichen Klassen gehabt hat, wird vorgeschrittene Arbeiterkreise immer außerordentlich anziehen. Je mehr die Arbeiterbewegung in die Breite und namentlich in die Tiefe wächst, um so stärker wird sie darnach streben, sich die Welt des schönen Scheins wiederzuerobern, die in ihrer eigenen Vorgeschichte eine so bedeutsame Wirklichkeit gewesen ist. Dieser Trieb, der ursprünglich aus der Arbeiterklasse hervorbricht, ist unzerstörbar, und ihn zerstören wollen, würde ein gefährlicher Missgriff sein. Die proletarische Entwicklung vollzieht sich nicht nach einer einseitigen Schablone, und das ist nicht die letzte Ursache ihrer Kraft. Neue Quellen sprudeln auf, wo niemand sie vermutet hätte. Man kann sie nicht verschütten; man darf nur und man muss dann freilich auch dafür sorgen, dass sie zuletzt doch wieder in den großen Strom des Kulturfortschritts münden, den die Arbeiterbewegung darstellt.

Nun ist aber der gesunde Sinn der hiesigen Arbeiter von den vielleicht überschwänglichen Hoffnungen, die bei Gründung der Freien Volksbühne hier oder dort gehegt sein mögen, längst zur nüchternen Wirklichkeit zurückgekehrt. Von den vier- oder fünftausend Mitgliedern des Vereins ist sich wohl jedes darüber klar, dass es ein Unding wäre, wenn das Proletariat auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Ära der dramatischen Kunst eröffnen wollte. Das Theater ist heute ein Monopol des Kapitals und sogar des Großkapitals; die Freien Volksbühnen sind darauf angewiesen, in denjenigen bürgerlichen Theatern zu spielen, die vorurteilsfrei genug sind, ihnen Spielraum zu gewähren. Aber hier tritt nun ein eigentümliches Dilemma ein. Große Theater mit guten schauspielerischen Kräften erheischen auch bei aller billigen Gesinnung ihrer Direktionen eine für Arbeitermittel schwer erschwingliche Pacht, und ferner behalten sich die Direktionen aus einem Selbsterhaltungstriebe, der ihnen gar nicht zu verdenken ist, ein Vetorecht bei Feststellung des Spielplans vor; in kleinen Theatern, die wohlfeiler zu haben sind und die von dem Wohlwollen der großen Bourgeoisie weniger abhängen, lassen wieder die schauspielerischen Verhältnisse viel zu wünschen übrig. Die hiesige Volksbühne steuert zwischen der Scylla und Charybdis durch, indem sie die eine Hälfte ihrer Vorstellungen in einem großen, die andere Hälfte in einem kleineren Theater gibt, dessen schauspielerische Kräfte sie durch das Engagement von Gästen zu ergänzen sucht. Auf diese Weise ist es ihr gelungen, ihren Mitgliedern eine Reihe teils vortrefflicher, teils immer noch befriedigender Monatsvorstellungen für den Monatsbeitrag von 55 Pfennig zu geben, doch waren dabei manche Schwierigkeiten zu überwinden, die vielleicht in keiner anderen Stadt wie Berlin zu überwinden gewesen wären.

Noch schlagender fast spiegelt sich die Unmöglichkeit, in der sich das Proletariat befindet, eine Erneuerung der dramatischen Kunst auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft herbeizuführen, in einer anderen Tatsache wider. Gibt es ein Erzeugnis der modernen Dramatik, um dessentwillen die Gründung einer Freien Volksbühne sich verlohnte, so sind es Hauptmanns „Weber". Nun, die Aufführung dieses Dramas ist vom Dichter selbst der Freien Volksbühne wiederholt mit derselben Energie verboten worden, womit die Polizei die Aufführung der „Weber" auf der bürgerlichen Bühne verboten hat. Wir sagen das nicht Herrn Hauptmann zum Trotz: er will nicht der Dramatiker des revolutionären Proletariats sein, und wenn er vor endgültiger Austragung seines Streits mit der Polizei sein Drama nicht dem Beifall eines Arbeiterpublikums aussetzen mag, so handelt er aus Gründen, die vom bürgerlichen Standpunkt durchaus zu verstehen sind. Aber weil hier gerade gar keine persönliche Laune oder Querköpfigkeit, sondern ein ganz berechtigtes und logisches Verfahren des Dichters vorliegt, kennzeichnet die Tatsache selbst in wahrhaft drastischer Weise, wohin es mit der dramatischen Kunst in der kapitalistisch-polizistischen Gesellschaft gekommen ist.

Im Allgemeinen ist die dramatische Produktion der Gegenwart viel zu arm an guten Stücken, als dass sich von ihnen der Spielplan einer Freien Volksbühne bestreiten ließe. Unter vielen Dutzenden, die ihr eingereicht wurden, hat die hiesige Volksbühne in diesem Spieljahre nur zwei aufführen können: den „Freien Willen" von Faber und „Andere Zeiten" von Bader1, beide mit großem Erfolge, der durch das Lästern der Bourgeoisblätter über diese „Tendenzstücke" eine willkommene Bestätigung erhielt. Besonders Fabers treffliches Schauspiel musste dieser Presse ein Gräuel sein, denn es schilderte mit einer Ehrlichkeit und Konsequenz, die diesen jungen Dichter überhaupt in der vorteilhaftesten Weise auszeichnet, die Gewissenskonflikte, in die ein Schriftsteller, der es mit sich und seiner Sache ernst meint, innerhalb der kapitalistischen Presse geraten muss. Baders Schauspiel war eine sehr beachtenswerte, wenn auch noch mannigfach unbeholfene Anfängerarbeit, die den ökonomisch-politischen Konflikt zwischen Bourgeoisie und Proletariat in einigen derben Kampfszenen auf die Bühne brachte An diesem Stücke zeigte sich aber, dass die dramatischen Interessen der Arbeiter doch einer tiefern Quelle entspringen als einem agitatorischen Bedürfnis; bei aller Anerkennung, die sie dem rühmlichen Streben des Verfassers schenkten, machten sie gar kein Hehl daraus, wie viel noch an dem Gelingen fehlte. Sonst musste die Freie Volksbühne häufiger, als ursprünglich beabsichtigt war, auf die klassische Literatur zurückgreifen, doch ist darin wohl nicht ohne weiteres eine ungünstige Entwicklung zu sehen. In der sogenannten Moderne steckt viel vermuffte Bourgeoisfäulnis, und wenigstens wir haben nie einen Fortschritt darin gesehen, als in einer glücklicherweise sehr vorübergehenden Zeit eine gewisse Naturalistenclique einen glücklicherweise nur geringen Teil der Arbeiter beeinflusste, so dass diese in Goethe und Schiller Gespenster von vorgestern, dagegen in jedem unreifen Jüngling, der möglichst unverständliches Zeug in möglichst zerhackter und zerbrochener Sprache hervor zu stammeln wusste, einen Deuter von Zukunftsrunen sahen. Schließlich ist der proletarische Sozialismus aus unserer klassischen Literatur erwachsen, und die Erkenntnis dieses historischen Zusammenhangs hat einen hohen Wert gerade für das Proletariat. Politik gehört gewiss nicht in die Freien Volksbühnen, aber ebenso wenig jene ästhetische Seichtbeutelei, welche die dramatische Literatur aus der allgemein geschichtlichen Entwicklung löst, um sie zum Gegenstande eines geistreichelnden Subjektivismus zu machen. Stücke wie Goethes „Egmont" oder Calderóns „Richter von Zalamea" liegen dem Interesse der heutigen Arbeiterklasse gewiss im allgemeinen sehr fern, aber die kritische Analyse, die sie an der Hand des historischen Materialismus in dem Vereinsblatte der Freien Volksbühne2 fanden, traf bei den Mitgliedern auf ein schnelles Verständnis.

In den gezogenen Grenzen werden Freie Volksbühnen immer berechtigte und förderliche Werkzeuge des proletarischen Emanzipationskampfes sein. Und wo sie einmal als solche bestehen, da wird der gesunde Klasseninstinkt ihrer Mitglieder stets dafür sorgen, dass sie die ihnen gesteckten Schranken nicht überschreiten, dass sie nicht in zwecklose Theaterspielereien entarten, dass sie sich nicht Aufgaben stellen, welche sie in der heutigen Gesellschaft unmöglich erfüllen können, dass sie nicht nutzlos Kräfte verzehren, die auf anderen Gebieten nützlich zu verwenden wären. Eher könnte die Gefahr drohen, dass die Bedingungen, unter denen sie heutzutage überhaupt entstehen und bestehen können, an manchen Orten verkannt würden, und deshalb schien es uns angezeigt, sie einmal auf ihre inneren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu untersuchen.

1 Siehe Franz Mehrings Besprechungen vom November 1892 und Januar 1893.

2 Das Vereinsblatt der Freien Volksbühne war von 1892 bis zur Selbstauflösung 1894 „Die Volksbühne. Eine Monatsschrift von Franz Mehring". Jede Nummer stellte zugleich ein in seiner Art vorbildliches Programmheft dar. Die meisten Artikel stammten aus der Feder Mehrings. Die Hefte enthielten das Programm der jeweiligen Vorstellung; die Analyse des zur Aufführung gelangenden Dramas; grundsätzliche Artikel zu literarischen Fragen; zum Teil Neudrucke von Seltenheiten der revolutionären Literatur (zum Beispiel zahlreiche Gedichte Georg Weerths, Engels' Übersetzung des „Vikar von Bray"; Wilhelm Wolffs hervorragende Schrift über den schlesischen Weberaufstand) sowie Artikel und Notizen über das Vereinsleben.

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