Franz Mehring 18960317 Preußische Polizeiwirtschaft

Franz Mehring: Preußische Polizeiwirtschaft

17. März 1896

[Die Neue Zeit, 14. Jg. 1895/96, Erster Band, S. 769-772. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 285-288]

Wie zu erwarten stand, ist die Freie Volksbühne in dem Verwaltungsstreitverfahren unterlegen, den sie gegen den Versuch des hiesigen Polizeipräsidiums, sie unter polizeiliche Zensur zu stellen, anhängig gemacht hatte. Das Oberverwaltungsgericht hat entdeckt, die Freie Volksbühne sei so locker organisiert und ihre Mitgliederzahl sei so groß, dass sie kein bestimmter, in sich abgegrenzter Kreis innerlich untereinander verbundener Personen sei. Sie könne deshalb als kein Verein angesehen werden, womit die von ihr veranstalteten Theatervorstellungen den Charakter öffentlicher Aufführungen erhielten und als solche der polizeilichen Zensur unterlägen. Der Einwand der Freien Volksbühne, dass die preußische Verfassung jede Zensur, also auch die Theaterzensur, verböte, ist von dem Oberverwaltungsgericht als unbegründet zurückgewiesen worden; nach seiner Auffassung ist die Hinckeldeysche Verordnung von 1851, welche öffentliche Theatervorstellungen der polizeilichen Zensur unterwirft, rechtskräftig erlassen und veröffentlicht worden. Wie sie sich mit dem klaren Sinne und Wortlaut der Verfassung vereinigen soll, darüber lässt sich das Oberverwaltungsgericht nicht weiter aus.

Die hohe Behörde ist allerdings so gütig, der Freien Volksbühne noch einen Weg zu weisen, auf dem sie ihr Leben hätte retten können. Sie schlägt diesem proletarischen Vereine vor, er solle sich anders organisieren, nämlich so, dass er einen bestimmten, in sich abgegrenzten Kreis innerlich untereinander verbundener Personen bilde, daraufhin solle er vom Polizeipräsidium die Aufhebung der streitigen Verordnung beanspruchen, und wenn die Polizeibehörde auf ihrem Schein bestehe, nochmals ein Verwaltungsstreitverfahren beginnen. Die Freie Volksbühne hat indessen darauf verzichtet, diesen gewiss in bester Absicht gegebenen Wink zu befolgen. Nicht etwa bloß wegen seiner praktischen Aussichtslosigkeit, sondern weit mehr noch, weil er ihr nicht gut genug war. Das Oberverwaltungsgericht sagt zwar, dass nach seiner unmaßgeblichen oder in diesem Falle leider sehr maßgeblichen Ansicht die Freie Volksbühne kein Verein sei, aber es hütet sich, zu sagen, was denn eigentlich ein Verein sei. Die Definition: ein bestimmter, in sich abgegrenzter Kreis innerlich miteinander verbundener Personen ist weiter nichts als eine im Blauen verschwindende schattenhafte Redewendung, mit der gar nichts Greifbares gesagt ist. Man kann sie drehen und wenden wie eine wächserne Nase, je nachdem es der polizeilichen Willkür beliebt. Möglich, dass es dem Oberverwaltungsgericht mit seinem Ratschlage Ernst gewesen ist. Die Erwürgung der Freien Volksbühne ist eine so banausische Köllerei, dass die halbwegs gebildeten Bürokraten und Bourgeois darüber die Köpfe geschüttelt haben, und vielleicht hätte man ihr, wenn sie sich ein wenig geduckt und geschmiegt hätte, ihr ferneres Leben gestattet. Vielleicht, sagen wir. Aber selbst wenn es sich nicht nur um eine entfernte Möglichkeit, sondern um eine starke Wahrscheinlichkeit oder absolute Gewissheit gehandelt hätte, so wäre es der Freien Volksbühne nicht würdig gewesen, sich auf eine derartige Schattenjagd zu begeben. Sie hat sich vielmehr vorgestern aufgelöst. Sie überlässt neidlos dem preußischen Kultur- und Rechtsstaate den Ruhm, mit dem Polizeistocke darein zu fahren, wenn die arbeitenden Klassen der Kunst wieder die Ehren erwerben wollen, um welche sie von den besitzenden Klassen geprellt worden ist, wenn die arbeitenden Klassen Calderón und Molière, Goethe und Schiller, Lessing und Kleist, Ibsen und Hauptmann bewundern und lieben, „Charleys Tante" und „Die Barrisons" aber, in denen sich das Kunstverständnis der herrschenden Klassen so herrlich widerspiegelt, nicht bewundern und nicht lieben.

In diesem wie in anderen Fällen zeigt die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts, wie wenig damit getan ist, wenn der Liberalismus, statt mit der Polizeiwirtschaft gründlich aufzuräumen, sie vielmehr mit rechtlichen Formen verkleidet. Und nicht nur wenig ist damit getan, sondern die polizeiliche Willkür wird gerade ins Grenzenlose erweitert, sobald ihr die Möglichkeit gewährt wird, sich auf dem „Rechtswege" auszuwachsen. Klebt man an einen Apfelbaum einen Papierstreifen, worauf verfügt ist, er solle künftighin Feigen tragen, so ist das zwar ein kindliches, aber sonst harmloses und unschädliches Vergnügen: der Apfelbaum fährt fort, Äpfel zu tragen, aber die Äpfel werden wegen dieses Papierstreifens nicht saurer als vorher. Ganz anders, wenn auf dem reellen Boden des Polizeistaats ein luftiges Gebäude von rechtlichen Instanzen errichtet wird! Die Bewohner eines solchen Gebäudes wissen instinktiv, dass sie den Boden nicht erschüttern dürfen, auf dem ihre papierne Herrlichkeit beruht, und wer in ihren heiligen Hallen die Festigkeit dieses Bodens zu prüfen unternimmt, den stoßen sie um so unbarmherziger in die polizeiliche Wildnis hinaus. Die Polizei hat davon nur den Vorteil, dass sie als ehrwürdige Vertreterin des ehrwürdigsten Rechts ausstaffiert wird, und wenn das oft genug zu ihrer eigenen Überraschung geschehen mag, so muss man doch anerkennen, dass sie sich bald auf ihren Vorteil verstehen lernt und dass ihr der Appetit beim Essen kommt.

So war es bei der Reichskommission des Sozialistengesetzes, welche die polizeiliche Willkür bei Handhabung der Ausnahmemaßregel bändigen sollte, sie tatsächlich aber gesegnet hat. So ist es heute bei dem Oberverwaltungsgericht. Die liberalen Wirrköpfe, die sich einbilden, Recht und Willkür schlössen sich nicht gegenseitig aus, sondern könnten in anmutiger Harmonie vermischt werden, wenden vielleicht ein, die Reichskommission habe doch manchmal der polizeilichen Willkür gesteuert, und das gleiche gelte vom Oberverwaltungsgericht. Das ist an sich ganz richtig, beweist aber durchaus nicht, was es beweisen soll: Ausnahmen gehören bekanntlich zu jeder Regel, und rechtliche Instanzen, die der polizeilichen Willkür steuern sollen, unterstützen sie wirksamer, wenn sie ihr gelegentlich widersprechen, als wenn sie ihr durchweg beipflichten. Wir sprechen hier nicht von einer absichtlichen Beugung des Rechts; diese Frage scheidet völlig aus, da die Verwerflichkeit der Institutionen sich immer durchsetzt bei noch so großer Tugendhaftigkeit der Personen, in denen sich die Institutionen jeweilig verkörpern. Durchdringt alle Glieder einer Verwaltung das Prinzip der polizeilichen Willkür, so hilft es nichts, ihnen ein Kleid überzuziehen, das nach den Prinzipien des Rechts zugeschnitten ist. Die Natur ist mächtiger als der Schneider: passt das Kleid nicht zum Körper, so muss das Kleid daran glauben und nicht der Körper. Die Praxis der Polizei bestimmt die Theorie des Oberverwaltungsgerichts, nicht umgekehrt.

Das liegt in der Natur der Dinge, deren zwingender Gewalt sich die Personen niemals entziehen können. Durch die Theorie der „lockeren Vereine", die das Oberverwaltungsgericht im Falle der Freien Volksbühne und auch sonst schon aufgestellt hat, wird mit den spärlichen Resten des preußischen Vereinsrechts so gründlich aufgeräumt, wie kein Hinckeldey und kein Richthofen jemals gewagt hätten, damit aufzuräumen. Der ganze Hergang der Dinge ist für die preußische Polizeiwirtschaft äußerst bezeichnend. In dem Verwaltungsstreitverfahren wegen öffentlicher Aufführung von Hauptmanns „Webern" hatte das Oberverwaltungsgericht einen jener Ausnahmefälle statuiert und die „Weber" nicht zwar für alle Theater, aber für eine bestimmte Luxusbühne der Bourgeoisie freigegeben, unter der ausdrücklichen Begründung, dass die öffentliche Aufführung des Dramas eben nur vor einem wohlhabenden Publikum gestattet werden solle. Damit hatte die Polizei schon viel mehr gewonnen als verloren. Ihr allgemeines Verbot der „Weber" war ein wenig eingeschränkt worden; als Pflaster auf die Wunde erhielt sie das kostbare Prinzip, dass sie Arbeiterbühnen doch längst nicht zu gestatten brauche, was sie Bourgeoisbühnen nicht gut verbieten könne. Aber gewisse einflussreiche Kreise hatten sich darauf kapriziert, dass die „Weber" nun einmal nicht öffentlich aufgeführt werden sollten. Der verflossene Polizeiminister Koller schnarchte im brutalsten Polizeitone vor versammeltem parlamentarischen Kriegsvolke das Oberverwaltungsgericht wegen seiner Entscheidung in Sachen der „Weber" an, und der verstorbene Polizeipräsident Richthofen unterwarf mit einem Federstriche alle Vereinsbühnen, welche die „Weber" aufgeführt hatten, der polizeilichen Zensur. Dass für diese beiden Polizeiseelen, von denen keine aus ihrer hinterpommerschen Vorsintflutlichkeit auch nur den blassesten Schimmer literarischer Bildung mitgebracht hatte, die Interessen der Kunst vollkommen gleichgültig waren, verstand sich von selbst. Das Oberverwaltungsgericht aber stand vor der Frage, ob es das seit fünf Jahren von keiner Seite angefochtene Recht der Vereinsbühnen, ohne polizeiliche Zensur zu spielen, vor einem besonders launischen Eingriffe der Polizei wahren wolle oder nicht. In dieser heiklen Lage entdeckte die hohe Behörde glücklicherweise die Theorie der „lockeren Vereine", auf die seit bald fünfzig Jahren die findigsten Polizeigenies nicht verfallen waren, auch in den Zeiten ärgster Reaktion nicht, und die polizeiliche Willkür hat „von Rechts wegen" einen Freibrief, den sie sich aus eigener Kraft niemals erobert hätte.

Das Versiegen der modernen Dramatik hatte die Folge, dass die Freie Volksbühne in den drei letzten Jahren – eben mit Ausnahme der „Weber" – nicht ein einziges Drama aufgeführt hat, das nicht längst für bürgerliche Bühnen die polizeiliche Zensur passiert hatte. Und die Aufführung der „Weber" lag schon um anderthalb Jahre zurück, als der Polizeipräsident seinen Ukas gegen den Verein erließ. Man konnte es verstehen, dass in manchen Parteikreisen die Freie Volksbühne etwas scheel angesehen wurde, angeblich weil sie die Kräfte und die Zeit des klassenbewussten Proletariats zersplittere, obgleich dieser Vorwurf, wenigstens seitdem die Arbeiter sich vor drei Jahren zu eigenen Herren im Hause des Vereins gemacht hatten, sachlich unbegründet war. Aber verstehen konnte man diesen Vorwurf, seitdem sich der Spielplan der Freien Volksbühne notgedrungen auf schon bekannte Stücke von künstlerischem Wert beschränkte. Jedoch welches Interesse die herrschenden Klassen daran haben sollen, einen proletarischen Verein zu sprengen, der den Arbeitern die Meisterwerke der bürgerlichen Kunst vermittelte, also die bürgerliche Gesellschaft von der Seite zeigte, von der sie sich noch am besten ausnimmt, das würde ganz unverständlich sein, wenn es sich nicht zur Genüge erklärte aus der preußischen Polizeiwirtschaft, die mit Begeisterung alles zerstört, was ihrem unbelehrbaren Dünkel in den Weg tritt oder zu treten scheint. Sie hat bei der Vernichtung der Freien Volksbühne nicht einmal den Genuss, der Sozialdemokratischen Partei einen besonderen Tort anzutun; sie schlägt allem ins Gesicht, was je über die edle „Sozialreform von oben", die seit Jahrzehnten mit der „sittigenden" Kraft der Kunst gekrebst hat, zusammengelogen worden ist: hilft aber alles nichts, der gereizte Polizeiknüppel kennt nur das alte brave Programm, dass alles verungenieret werden müsse.

In der Freien Volksbühne hat das klassenbewusste Proletariat bewiesen, dass es die Kunst zu ehren und zu schätzen, dass es ihr eine würdige Stätte zu bereiten weiß. Keine bürgerliche Bühne besitzt auch nur ein entfernt gleich kunstverständiges Publikum, wie die Freie Volksbühne besaß. Um dieses Ergebnisses willen hat sich ihr Leben reich gelohnt. Aber eine neue Kunst auf dem verfaulten Boden der bürgerlichen Gesellschaft zu schaffen, ging auch über ihre Kräfte, und der alten Kunst sandte sie einen letzten Ehrengruß, indem sie lieber von ihr schied, als dass sie ihr unter der wohlwollenden Verwandtschaft der Barbaren Koller und Richthofen huldigte. Es bleibt noch übrig, „Besitz und Bildung" zu diesem neuen schönen Triumphe über den Umsturz zu beglückwünschen.

Kommentare