Franz Mehring 18930700 Zum dritten Stiftungsfest der Freien Volksbühne

Franz Mehring: Zum dritten Stiftungsfest der Freien Volksbühne

Juli 1893

[Die Volksbühne, 1. Jg. 1892/93, Heft 9, S. 3-6. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 272-274]

Mit einem frohen Feste schließt das dritte Spieljahr der Freien Volksbühne. Ihre Mitglieder dürfen dies Fest feiern mit dem Bewusstsein, ein ehrliches Stück Arbeit vollbracht zu haben und somit ein gutes Stück Weges vorwärtsgekommen zu sein. Die Mitgliederzahl des Vereins hat sich in diesem Jahre nahezu verdoppelt; seine Finanzen sind geregelt und gestatten ein stetiges Wachstum seiner Leistungen. Vor allem aber hat sich die Freie Volksbühne fester und klarer als ein dienendes Glied in den großen Emanzipationskampf der arbeitenden Klasse eingefügt.

Um diese Frage drehten sich die heftigen Kämpfe, unter denen das dritte Spieljahr unseres Vereins begann. Es liegt uns fern, heute alten Streit zu erwecken; ein Tag des Festes wäre am wenigsten dazu geeignet. Aber wir fügen auch unseren damaligen Gegnern kein persönliches Leid zu, wenn wir darauf hinweisen, dass der Kampf sich im letzten Grunde um eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit bewegte. Sie mögen im guten Glauben gewesen sein, wenn sie in der Freien Volksbühne ein „pädagogisches" Unternehmen sahen; wir lebten der besseren Gewissheit, dass unser Verein nur dann gedeihen könne, wenn seine Mitglieder nicht die Gegenstände einer noch so wohlgemeinten Erziehungskunst seien, sondern als freie Männer und Frauen prüfend und wählend, erobernd und erwerbend, und sei es auch manchmal tastend und irrend, die Geistesschätze der dramatischen Weltliteratur sich zu eigen machten.

In dieser Auffassung haben wir uns am wenigsten durch das Schelten über die angeblich „politische" Wendung beirren lassen, die unser Verein nach den Vorwürfen seiner Gegner genommen haben sollte. Die Freie Volksbühne ist in ihrem dritten Spieljahre so wenig „politisch" gewesen wie in ihren beiden ersten; sie wird es auch in Zukunft nicht sein. Jene Vorwürfe beruhen auf einem logischen Denkfehler. Weil der proletarische Emanzipationskampf in erster Reihe ein politischer Kampf ist, deshalb soll überall „Politik" sein, wo mit diesem Kampfe wirklicher Ernst gemacht wird. Tatsächlich beruht aber die Emanzipation der arbeitenden Klasse durchweg auf der Selbstbefreiung und Selbsterziehung der Arbeiter; nicht sowohl darauf kommt es an, ob ein Arbeiterbildungsverein oder eine Gewerkgenossenschaft gegründet wird, als in welchem Sinne sie gegründet werden. Die Arbeiter sind keine Kinder, die an einem pädagogischen Gängelbande geleitet werden müssen; sie sind Kämpfer für eine große Sache, für die größte Sache, die jemals die Menschheit bewegt hat, und in jedem dieser Kämpfer lebt das Bewusstsein, das der Weltdichter unserer bürgerlichen Literatur als sterbender Greis in die Worte gefasst hat:


Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben,

Das ist der Weisheit letzter Schluss:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie erobern muss.


Selbstbefreiung und Selbsterziehung der Arbeiter: das musste auch das Prinzip werden, auf dem die Freie Volksbühne beruhte, wenn sie anders ihren Aufgaben gerecht werden sollte. Die Durchführung dieses Prinzips enthielt scheinbar eine Beschränkung, tatsächlich eine Erweiterung und Vertiefung ihrer Wirksamkeit. Scheinbar eine Beschränkung, denn wenn man Selbstbefreiung und Selbsterziehung der Arbeiterklasse über alles setzt, so tritt das politische und gewerkschaftliche Leben weitaus in die erste Reihe, und alles andere kommt erst hinterher. Tatsächlich eine Erweiterung und Vertiefung, denn alles, was sich die Arbeiter aus eigener Kraft erwerben, und sei es zunächst auch noch so wenig, ist unendlich viel mehr wert als ganze Scheffel ausbündiger Weisheit, die ihnen von oben her durch den Nürnberger Trichter eingeschüttet werden oder doch wenigstens eingeschüttet werden sollen. Dies eben meinten wir, wenn wir sagten, dass die Freie Volksbühne den großen Erfolg ihres dritten Spieljahres vor allem der Tatsache verdanke, dass sie sich fester und klarer als ein dienendes Glied in den großen Emanzipationskampf der arbeitenden Klasse gefügt habe. Indem sie auf den Anspruch verzichtete, von sich aus eine Welt umwälzen zu können, hat sie sich eben dadurch vor der sonst unvermeidlichen Gefahr behütet, eine leere und prahlerische Spielerei zu werden. Indem sie die Selbstbefreiung und Selbsterziehung der Arbeiter als ihren leitenden Grundsatz anerkannte, ist sie ein wirkliches Werkzeug der proletarischen Emanzipation geworden, ein Werkzeug, das sich mit anderen an Schärfe und Wucht nicht messen kann, aber an seinem Teile doch auch die Arbeiter aus den Fesseln unwürdiger Abhängigkeit befreien hilft

Wenn uns der Erfolg unseres dritten Spieljahres dessen vergewissern kann, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben, so dürfen wir deshalb noch lange nicht auf unseren Lorbeeren ruhen. Gewiss sind auch manche Fehler und Missgriffe begangen worden; gewiss haben wir nicht alles erreicht, was wir erstrebten; der bisher erreichte Erfolg darf uns nur ein Antrieb sein, es künftig noch besser zu machen. In der heutigen Welt, wie sie nun einmal ist, wird sich freilich das ideale Ziel einer Volksbühne niemals erreichen lassen, schon deshalb nicht, weil der Volksbühne die dramatische Volksdichtung fehlt. Was wir davon irgend fördern konnten, hat der literarische Ausschuss nach Kräften zu fördern gesucht, sicher, den Wünschen der Mitglieder durchaus zu entsprechen, wenn er auch einmal einem mehr oder minder unvollkommenen Erstlingswerke, falls es anders nur den ernsten Problemen der Gegenwart gerecht zu werden suchte und ein wirkliches Talent verriet, die Bühne öffnete. Aber es blieb immer zu wenig, als dass sich die Förderung der zeitgenössischen Dramatik in dem ursprünglich wohl beabsichtigten Umfange erreichen ließ. So haben wir häufiger auf die klassische Dichtung zurückgreifen müssen, ein Zwang, der denn freilich auch fördernd und stärkend auf den Verein zurückgewirkt hat. Es könnte ein verhängnisvoller Irrweg werden, wenn in einer einseitigen Bevorzugung der modernen Dramatiker der oft sehr überlebte Geist verkannt würde, den sie unter einschmeichelnden Formen verbergen. Dagegen ist es eine geist- und herzstärkende Erfrischung, inmitten alles Abgestorbenen und auch schon Totgeborenen der klassischen Literatur den revolutionären Samen zu suchen und zu finden, aus dem doch auch die proletarische Bewegung erwachsen ist, wie der mächtige Eichbaum aus der unscheinbaren Eichel.

Doch es soll hier kein Programm der Freien Volksbühne entworfen werden. Ihr Programm wird bleiben, was es in diesem Spieljahr war: Selbstbefreiung und Selbsterziehung des Proletariats auf literarischem Gebiete, und das Mittel zu diesem Zwecke wird wie bisher so auch fortan Geist, Kraft, Wille der Mitglieder sein. Als im ersten Hefte dieser Monatsschrift ausgesprochen wurde, den Mitgliedern der Freien Volksbühne gebühre das entscheidende Wort, da wussten gewisse Kindsköpfe der bürgerlichen Presse nicht genug zu zetern über diese angebliche Schmeichelei der Massen. Nun, die Freie Volksbühne schmeichelt nicht der Arbeiterklasse, aber sie vertraut ihr, und damit hat sie sich auf den einzigen Fels gegründet, der in unserer literarisch nicht minder als ökonomisch und politisch zerfahrenen Zeit unerschütterlich ist.

Kommentare