Franz Mehring 18921026 Zur „Krisis" der Freien Volksbühne

Franz Mehring: Zur „Krisis" der Freien Volksbühne

26. Oktober 1892

[Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 180-184. Nach Gesammelte Schriften, Band 12, S. 246-255]

Durch einen Teil der bürgerlichen Presse wirbelt seit anderthalb Wochen ein lustiges Gestöber von Denunziationen gegen den Verein Freie Volksbühne. Allerlei dunkle Ehrenmänner behaupten mit der sittlichen Entrüstung der gekränkten Unschuld, dass die bisher unpolitische Leitung des Vereins durch den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei gestürzt und durch politische Kreaturen dieses Vorstandes ersetzt worden sei, womit der Verein dem preußischen Vereinsgesetze verfallen wäre.1 Zwar hat der „Vorwärts" bereits erklärt, dass kein Organ der Sozialdemokratischen Partei mit der „Krisis" in der Freien Volksbühne etwas zu schaffen habe, und der gegenwärtige Vorstand des Vereins hat sich dieser Erklärung angeschlossen, aber das hindert die lustigen Denunzianten nicht, lustig weiter zu denunzieren. Sie stützen sich dabei auf die Tatsache, dass Herr Bruno Wille, der bisherige Vorsitzende des Vereins, gewisse Differenzen mit dem Vorstande der Sozialdemokratischen Partei gehabt hat oder noch hat.2 Nun ist die Beweiskraft dieser Tatsache allerdings gänzlich aufgehoben durch die anderweitige Tatsache, dass jene Differenzen genauso alt sind wie der Verein Freie Volksbühne und dass trotz ihrer Herr Wille nicht weniger als dreimal zum Vorsitzenden des Vereins gewählt worden ist, zuletzt noch am 14. Juli d. J. Aber tut nichts – die Gelegenheit, ein aus Arbeiterkreisen erwachsenes und fröhlich gedeihendes Unternehmen der Polizei zu denunzieren, ist zu verlockend, als dass ihr von gewissen Leuten nicht bis zur Besinnungslosigkeit gefrönt werden sollte.

Tatsächlich liegt die Sache gerade umgekehrt, wie sie nach Behauptung der Denunzianten liegen soll. Herr Bruno Wille würde heute noch Vorsitzender der Freien Volksbühne sein, wenn er nicht persönliche und politische Aspirationen in den Verein getragen hätte, die nicht hineingehörten. Herr Wille hat unzweifelhaft Verdienste um den Verein, wenn auch allerdings nicht größere als jedes Mitglied, das seit zwei Jahren seine Vereinspflichten erfüllt hat. Die Bedeutung und der Wert des Vereins liegt nicht in der Frage, ob Müller oder Schulze an der Spitze steht, sondern in der Mitgliedschaft von einigen tausend Arbeitern, die ihre spärliche Muße dazu verwenden, von der heutigen Kultur das kennenzulernen, was wirkliche Kultur ist. Jedes Mitglied des Vereins, das seine paar Erholungsstunden und seine paar Groschen dazu anwendet, die Schöpfungen echter Dichter kennenzulernen, leistet an menschlichem Werte seiner Handlung mindestens dasselbe, wenn nicht viel mehr, als der oder jener akademisch gebildete Mann, der sein bisschen formaler Überlegenheit zur leichteren Abwicklung der äußerlichen Geschäfte in den Dienst des Vereins stellt. Die Mitglieder der Freien Volksbühne sind mündige Frauen und Männer, die selbst sehen, selbst prüfen, selbst wählen, sich selbst bilden wollen; wäre der Verein – so heißt ja wohl das geflügelte Wort? – eine „Hammelherde", der durch einen Nürnberger Trichter von oben herab Interesse für Kunst und Literatur eingeflößt werden soll, so wäre er eine Spielerei, die allerdings sehr viel nützlicheren Dingen zwecklos im Wege stünde.

Hier liegt die wirkliche Meinungsverschiedenheit, die zur sogenannten Krisis der Freien Volksbühne geführt hat. Es ist löblich, dass Herr Wille nunmehr ehrlich genug ist, sie anzuerkennen. Leider hat er das nicht von Anfang an getan. So lange die Beamten des Vereins ganz oder fast ganz aus Unabhängigen3 bestanden, fand Herr Wille, dass der Verein „unpolitisch" sei: als aber im Juli d. J. Herr Julius Türk, ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, zum Kassierer gewählt wurde – nicht als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, sondern weil er um den Verein mindestens so verdient war wie Herr Wille und als alter Duzfreund dieses Herrn mindestens auch die gleiche Bildung besaß –, fand Herr Wille, dass die Politik sich in den Verein dränge. Jedes Wort von Türk wurde auf die Waagschale gelegt; vertrauliche Briefe an einen vertrauten Freund wurden zunächst mit der Brille des Staatsanwalts geprüft, ob sich etwa „ein garstig Wort, pfui, ein politisch Wort" darin fände, das sich auf die Freie Volksbühne bezöge, und dann, falls ein solches Fündchen angeblich oder wirklich gemacht wurde, an die Öffentlichkeit gezerrt; genug, die garstige Hexe „Politik" war mit einem Male in dem bis dahin so „unpolitischen" Vereine, weil ein um den Verein wohl verdientes und für den Posten des Kassierers besonders befähigtes Mitglied außerhalb des Vereins nicht zu den Unabhängigen, sondern zur Sozialdemokratischen Partei gehörte. Dazu kamen auch sachliche Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kassierer und den beiden andern Vorstandsmitgliedern, dem Vorsitzenden Wille und dem Schriftführer Bernhard Kampffmeyer: Meinungsverschiedenheiten namentlich über die Frage, ob die Vorstellungen des neuen Spieljahres teilweise im Lessing-Theater stattfinden sollten oder nicht. Türk bejahte die Frage, die andern beiden Herren verneinten sie, doch ist ihnen daraus natürlich kein Vorwurf zu machen, dass Türk, wie sich inzwischen schon herausgestellt hat, besser zu rechnen verstand als sie.

Derweil nahte die erste Vorstellung heran, und der Verein besaß keinen aktionsfähigen Vorstand. Irgend etwas musste geschehen, um diesem Übelstande abzuhelfen; dass Wille und Kampffmeyer mit Türk nicht mehr zusammenarbeiten könnten und wollten, ließen sie selbst erklären an der Spitze eines, zwölf lange und eng gedruckte Spalten umfassenden Flugblattes, worin das ganze Sündenregister von Türk entrollt wurde. Eine allseitig als notwendig anerkannte Generalversammlung sollte am 4. d. M. den Streit entscheiden. In ihr verteidigte sich Türk in zweistündiger Rede äußerst wirksam gegen die Anklagen des Flugblattes; dann sollte Wille seine Sache führen, weigerte sich dessen aber, weil er nach dem Rechte der freien Selbstbestimmung sprechen würde, wann es ihm beliebe. Die „Kölnische Zeitung" sieht darin die Heldentat eines antiken Charakters; nach Lage der Sache war es einfach eine Obstruktion, die Herr Wille selbst, was ihm durchaus nur zur Ehre gereicht, in der nächsten Generalversammlung mit seiner großen Erregung zu entschuldigen versuchte. Als er sich endlich auf das Drängen der Versammlung zum Sprechen herbeiließ, trat er nochmals den Inhalt des Flugblattes breit; in der Hauptsache aber legte er sich für den Fall, dass ihm nicht Recht gegeben würde, auf Drohungen, besonders auf die Drohung mit der polizeilichen Auflösung des Vereins und auf die Drohung, dass alle Schriftsteller den Verein boykottieren würden. Schließlich war es 3 Uhr geworden, und um Herrn Wille das Wort nicht zu verkürzen, wurde die Generalversammlung auf eine Woche vertagt.

In dieser Zwischenzeit begann die Hetze einer gewissen bürgerlichen Presse gegen den Verein. Teils wurde ihm die polizeiliche Auflösung angekündigt, teils wurde die Rohheit seiner Mitglieder angeklagt, die in dem brutalen Kraftgefühl der „Handarbeiter" die geistige Tätigkeit der „Kopfarbeiter" missachte. Herr Wille hat versichert, dass er diesen Artikeln fern stehe; aber damit ist die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, dass er öffentlich den Ton angeschlagen hatte, den jene Blätter nur fortspannen. Damals nun kamen einige Mitglieder der Freien Volksbühne – man verzeihe diese persönliche Bemerkung, die sich zur Klarstellung der Sache nicht wohl umgehen lässt – mit der Anfrage zu mir, ob ich, wenn Herr Wille den Verein zu sprengen beabsichtige, wie es nach seinen Drohungen den Anschein habe, an seine Stelle zu treten bereit sei. Ich lehnte zunächst ab, da ich es für richtiger hielt, dass die Vereinsmitglieder den angedrohten Boykott der Schriftsteller einfach damit beantworten sollten, dass einige der in den Verein eingelebten Arbeiter den Vorstand bildeten, indessen die Herren wünschten wenigstens einen Schriftsteller von Beruf im Vorstande zu haben, um jenes alberne Gewäsch von der Missachtung der „Kopfarbeit" durch die „Handarbeit" zu widerlegen, und da stellte ich mich ihnen mit Vergnügen zur Verfügung. Wenn die „Kopfarbeiter" anfangen, die „Handarbeiter" zu boykottieren, so hört einfach der Spaß auf; dann gehört jeder „Kopfarbeiter", der auf sich hält, zu den „Handarbeitern". Es freut mich ungemein, dass die Tintenkulis der dem Herrn Wille dienstwilligen Klatsch- und Skandalpresse die Richtigkeit meiner Auffassung bestätigen, indem sie über meinen Entschluss nicht genug schimpfen und zetern können.

In der zweiten Generalversammlung spann Herr Wille seinen alten Faden weiter. Er drohte abermals mit der Polizei; er drohte abermals mit dem Boykott der Schriftsteller; er ließ sich sogar so weit herab, zu drohen, dass die Freie Verlagsanstalt, die nämlich Herr Wille in Person ist, dem Vereine die paar Mark entziehen werde, die sie seither aus dem Ertrage des Vereinsblättchens an die Kasse abgetreten hatte. (Beiläufig bemerkt, wird dies Blättchen von dem neuen Vorstande, wie sich das so für einen Arbeiterverein schickt, gratis redigiert werden. Wir armen Schlucker von „Hammelherde" werden ja längst nicht so schön redigieren wie Herr Wille und seine „Kopfarbeiter", aber der Verein wird schon mit unserm guten Willen vorlieb nehmen.) Ob Herr Wille sich wirklich einbildete, mit diesem Sturzbade von Drohungen seinen persönlichen und politischen Willen dem Vereine aufzwingen zu können, muss hier dahingestellt bleiben; jedenfalls ließ er es nicht auf die Probe des Exempels ankommen. Als die Mehrheit der Generalversammlung nach Schluss seiner Rede einen Schlussantrag annahm, erklärten Herr Wille und Herr Kampffmeyer wegen angeblicher Vergewaltigung der Redefreiheit ihren Austritt aus dem Verein, aber nur etwa der sechste Teil der Generalversammlung folgte ihnen. Die angebliche „Vergewaltigung" bestand darin, dass von den beiden streitenden Teilen Wille und Kampffmeyer ihre Ansicht in einem langen, auf Kosten des Vereins herausgegebenen Flugblatt und in zwei langen Reden Willes, Türk dagegen seine Ansicht überhaupt nur in einer langen Rede dargelegt hatte*.

Was Herr Wille und seine Freunde nach ihrem freiwilligen Austritt dem Verein an Knütteln zwischen die Beine geworfen haben, soll hier unter dem wohltätigen Schleier des Schweigens bleiben; diese – sagen wir mit dem denkbar mildesten Wort – Gehässigkeiten sind teilweise schon im „Vorwärts" an die Öffentlichkeit gelangt, und häufiger als notwendig ist, braucht dies hässliche Treiben nicht beleuchtet zu werden. Alle diese in böser Absicht geschaffenen Hindernisse wurden nun durch die Energie und Umsicht der „Hammelherde" spielend überwunden; das neue Spieljahr der Freien Volksbühne ist mit zwei glänzenden Vorstellungen von Lessings „Nathan" im Lessing-Theater würdig eröffnet worden. Ebenso haben sich alle polizeilichen Denunziationen der dem Herrn Wille dienstwilligen Skandalblätter erfolglos erwiesen. So gibt denn Herr Wille erfreulicherweise der Wahrheit die Ehre: wie der Riese Antäus stellt er sich auf die mütterliche Erde seines wahren Prinzips, und wir wünschen ihm aufrichtig, dass es ihm dabei ebenso wohl gehen möge wie jenem Fabelwesen des Altertums. Im Verein mit den Herren Kampffmeyer und Wildberger sowie mit einigen bürgerlichen Literaten erlässt er einen Aufruf zur Bildung einer Neuen Freien Volksbühne. Wir wünschen dem Unternehmen den besten Erfolg und beschränken uns darauf, die Attacke auf den Verein Freie Volksbühne zurückzuweisen, mit der es sein irdisches Dasein beginnt.

In dem Aufrufe der Herren Wille und Genossen heißt es, die Freie Volksbühne habe durch die letzten Generalversammlungen eine Wendung erhalten, welche befürchten lässt, dass die „ursprüngliche, rein volkspädagogische und echt künstlerische Tendenz dieses Vereins mehr und mehr zurückgedrängt wird", und ferner erklären die Unterzeichner, sie wollten ihrem Verein eine derartige Verfassung geben, „dass eine Leitung durch künstlerische und technische Sachverständige für die Dauer gewährleistet wird". Soweit diese Sätze von der dem Herrn Wille dienstwilligen Presse gegen meine Person ausgebeutet werden, lehne ich großmütig jede Polemik ab; die Leser der „Neuen Zeit" kennen meine Arbeit über Lessing, und wenn sich nach Lessing jedermann seines Fleißes rühmen darf, so werden sie verstehen, dass ich mit Herrn Wille oder mit etwelchen Bourgeoisjüngelchen, von denen auch noch nicht einer trotz aller sonstigen Großmäuligkeit sich eine so ehrliche und schwierige Aufgabe gestellt hat, wie ich in meiner „Lessing-Legende", gleich ob mit oder ohne Erfolg, zu lösen versucht habe, nicht über mein literarisches Wissen und Wollen streiten kann. Nur soweit mit jenen Sätzen der Herren Wille und Genossen eine prinzipielle Frage berührt wird, verdienen sie eine nähere Beleuchtung. Um aber in ihrer Auslegung Herrn Wille nicht Unrecht zu tun, sei zunächst dargelegt, wie sie nach einer offiziösen Notiz in bürgerlichen Blättern „nach Willes Ansicht" verstanden sein sollen. Es heißt da: „Ein Konsortium von Schriftstellern und Künstlern soll die Leitung übernehmen, ohne dass die Beschlüsse der Mitgliederversammlungen etwas Erhebliches an dieser Leitung ändern können – dies ist die aus den letzten Vorkommnissen gezogene Lehre – vielmehr so, dass zwischen der Mitgliedschaft und der Leitung eine freie Vereinbarung waltet. Nur diese Form garantiert Wille, dass nicht abermals eine falsche Demokratie und Sachverständigkeit miteinander verwechselt werden und die Mitglieder, die doch als Zöglinge im volkspädagogischen Sinne gelten, zu indirekten Leitern des Unternehmens werden. Gerade die Erklärung, welche Herr Mehring letzthin im ,Vorwärts' abgegeben hat, wonach er und seine Vorstandskollegen sich im Gegensatz zu dem alten Vorstande als nichts anderes als die ausfuhrenden Organe der Bestimmungen der Mitglieder betrachten und dass sie sich strikte nach den Wünschen der Mitglieder richten würden, dürfte, falls sie ehrlich gemeint ist, nach Willes Anschauung verhängnisvoll für den Verein werden. In der neuen Bühne wird den Mitgliedern nur die Beaufsichtigung der Kassenangelegenheiten überlassen werden und das Recht natürlich, ihre Wünsche zu äußern, ohne dass die Leitung aber gezwungen wäre, diesen Folge zu leisten, falls sie dieselben für falsch und unausführbar hält." Abgesehen davon, dass die erwähnte Erklärung im „Vorwärts" nicht von mir persönlich, sondern von dem Gesamtvorstande des Vereins Freie Volksbühne erlassen und dass darin nicht die „Wünsche der Mitglieder", sondern der Wille der Mehrheit als Lebensprinzip des Vereins angegeben war, legt Herr Wille in dieser Notiz seinen Standpunkt mit erfreulicher Klarheit und Offenheit dar. Es ist der Standpunkt des Hofpredigers Stoecker, der dem „Volke" die größte Liebe entgegenbringt, vorausgesetzt, dass es willig die geistige Speise verzehrt, die er ihm in die Schüssel schneidet.

Um nicht etwa „politisch" zu werden, will ich einfach hierhersetzen, was F. A. Lange vor zwanzig Jahren in einem wissenschaftlichen Werke über den Standpunkt des Herrn Wille und über dessen Neue Freie Volksbühne gesagt hat. Folgendes führt er aus: „In solchen Vereinen werden die Arbeiter … wie reine Kinder behandelt. Wenn ein Arbeiter mit in den Vorstand gewählt wird, so nennt man dies ,den Arbeiterstand heranziehen', und man merkt nicht einmal, dass man den ganzen Stand in demselben Maße beleidigt und zurückstößt, in welchem man sich gegen diese Herangezogenen herablässt. Weil man den Arbeiterstand gar nicht kennt und weil der Arbeiter – dank unserem herrlichen Volksschulwesen! – in der Regel nicht richtig deutsch sprechen kann, geht man von der liebenswürdig naiven Voraussetzung aus, dass er auch nicht denken könne. Hat er einmal abweichende Absichten, so ist natürlich daran, dass er etwa recht haben könne, eigentlich nicht zu denken, aber man kann es doch, ,um die Leute nicht vor den Kopf zu stoßen', so darstellen, als hätte er wenigstens in einem kleinen Nebenpunkte doch wirklich recht. Gelingt es dann, durch dies rücksichtsvolle Verfahren einige Arbeiter zu fesseln, so glaubt man noch wer weiß wie viel für den Stand geleistet zu haben, während dieser sich bitter von diesen Schauplätzen der Demütigung zurückzieht… darin liegt dann wieder jene abscheuliche Verwechslung von Bildung und männlicher Reife. Bildung! Wie schön ist das Wort! Es bezeichnet eines der höchsten Güter, nach welchen wir streben können, wenn es nicht die höchsten alle in sich schließt. Und doch darf es keine, wenn auch nur vorübergehende Scheidewand bilden zwischen berechtigten Menschen und unberechtigten. Selbst wenn du Bildung im höchsten Sinne des Worts besitzest, ist dein Mitmensch dir gegenüber kein Kind. Entweder du erniedrigst ihn zum Sklaven – solange die Kette halten will – oder du anerkennst ihn als freien Mann und in der Hauptsache als ebenbürtig. Das Gängelband gehört nicht in deinen Umgang mit Männern, und wenn du ihnen gegenüber ein Riese von Kenntnissen wärest. Wie vollends, wenn nun die ganze ,Bildung', die sich eine so vornehme Rolle anmaßt, weiter nichts ist als feine Politur der Erscheinung und der Rede, welche sich gegenwärtig oft mit vollendeter Hohlheit verbindet? Wie, wenn Eitelkeit und doktrinäre Verblendung den Gebildeten unfähig gemacht haben, einfache Wahrheiten einzusehen, die das Volk im Leben gewissermaßen mit Händen greift?" Man lese die trefflichen Ausführungen, die aus Rücksichten des Raumes hier etwas verkürzt wiedergegeben werden mussten, nur ausführlicher nach in Langes Buch über die Arbeiterfrage, und man vergesse dabei nicht, zu erwägen, welche Fortschritte in den zwanzig Jahren, seitdem Lange schrieb, auch die formale Bildung der Arbeiter gemacht hat. Und nach dieser sachlichen Kritik von „Herrn Willes Ansicht" sei diesem Herrn die persönliche Anzapfung meiner „Ehrlichkeit" gern geschenkt. Wenn er von der Psychologie der arbeitenden Klassen heute noch nicht einmal soviel versteht wie ein königlich preußischer Professor schon vor zwanzig Jahren davon verstand, so muss man mit einem so ausgesuchten Pech einige Nachsicht haben.

Dies wäre das Kurze und Lange von der sogenannten Krisis der Freien Volksbühne. Braucht es darnach noch eine Erklärung, dass der Verein nach dem Ausscheiden der Herren Wille und Genossen sofort einen großen Aufschwung genommen hat? Oder braucht es darnach noch eine Erläuterung der Tatsache, dass gerade die verrufensten Klatsch- und Skandalblätter, wie das „Kleine Journal", die feurigsten Lobredner des Herrn Wille sind? Ernstere Kreise der bürgerlichen Klassen stehen der Frage allerdings anders gegenüber; die Freie Volksbühne hat in der Krisis, die Herr Wille über sie heraufbeschwor, von bürgerlichen Theaterdirektoren, Schauspielern und auch Schriftstellern sehr dankenswerte Unterstützung erhalten. Die Rechnung der Herrn Wille bewundernden Bourgeoispresse geht nun dahin, den Verein durch das allbekannte Mittelchen des Totschweigens lahmzulegen. Sonst zwar ist diese feige und tückische Waffe für den Verein ganz ungefährlich, aber man hofft, die trefflichen Künstler, die dem Verein ihr Interesse schenken, dadurch mürbe zu machen. Die Rechnung stimmt nicht, denn Künstler, denen es Ernst ist um ihre Kunst, ziehen das dankbare und willige Verständnis eines von aller Blasiertheit freien Publikums immer der feilen und schalen Reklame in Blättern vom Schlage des „Kleinen Journals" vor. Aber angenommen, wenn auch keineswegs zugegeben, dass der saubere Plan gelänge, was wäre damit bewiesen? Doch nichts anderes, als dass ein, wie Herr Blumenthal in einer neulich veröffentlichten Erklärung sagte, „ehrliches und lauteres Streben" der arbeitenden Klassen, sich mit der wirklichen Kultur der heutigen Gesellschaft zu durchdringen, systematisch totgeschlagen wird. Wer diesen Beweis führen kann und will, mag ihn freilich führen. Die geilen Halluzinationen, in denen die „reine Volkspädagogik" der „naturalistischen Dichter" den Arbeiter stets nur im Bordell und in der Schnapskneipe sieht, werden deshalb doch nicht zur Wahrheit werden.

1 Gemäß dem preußischen Vereinsgesetz durften die Freien Volksbühnen nur als „unpolitischer" Verein existieren, der rein künstlerischen Zwecken diente; andernfalls wäre die Organisation gezwungen gewesen, die zur Aufführung gelangenden Stücke der Polizeizensur vorzulegen.

2 Dr. Bruno Wille war einer der Berliner Führer der parteifeindlichen, halbanarchistischen Fraktion der „Jungen". Zum Vorstand des Vereins – vor der Spaltung – gehörten ferner Karl Wildberger, einer der führenden Köpfe der Parteiopposition in Berlin, Kampffmeyer und andere.

3 Nach ihrer Niederlage innerhalb der Sozialdemokratischen Partei (besonders nach dem Erfurter Parteitag 1891) versuchte sich eine Gruppe der „Jungen" als „Unabhängige" Sozialdemokratie zu organisieren; jedoch verlief der Versuch nach kurzer Frist im Sande.

* Beiläufig sei bemerkt, dass die neuestens wieder von der „Kölnischen Zeitung" aufgewärmten Lügen über einen turbulenten Verlauf der Versammlung zur höheren Ehre des Herrn Wille erfunden worden sind. Die Versammlung verlief in der würdigsten Weise bis auf einzelne Ruhestörungsversuche, die durchweg von Anhängern des Herrn Wille ausgingen. Mit der Lüge beispielsweise: Willes Rede sei durch das „Gebrüll: Sie sind ein Ochse!" gestört worden, steht es tatsächlich so, dass während der mit voller Ruhe angehörten Rede Willes einer seiner Anhänger plötzlich in den Saal hinein schrie, irgendein unbekannter Mann habe privatim Herrn Wille einen „Ochsen" genannt. Die Art, wie Herr Wille diesen Zwischenfall ausnützte, konnte natürlich über den Zusammenhang nicht täuschen. Um noch ein zweites Beispiel anzuführen, so stand nicht weit von dem Schreiber dieser Zeilen eine hervorragende Zierde der Unabhängigen, die unausgesetzt über die „Hammelherde", über das „sozialdemokratische Gesindel" usw. fluchte. Die Mehrheit begnügte sich, diese ersten Proben „unpolitischer" und „reiner Volkspädagogik" und „echt künstlerischer Bestrebungen" mit gelassenem Humor entgegenzunehmen.

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