Franz Mehring 19080207 Berliner Theater (Kaiser Karls Geisel von Gerhart Hauptmann - Die Räuber im Deutschen Theater)

Franz Mehring: Berliner Theater

Kaiser Karls Geisel von Gerhart Hauptmann - Die Räuber im Deutschen Theater

7. Februar 1908

[Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 675-679. Vgl. Gesammelte Schriften, Band 10, S. 245-248 und Band 11, S. 333-335]

In einem bürgerlichen Blatte stand dieser Tage zu lesen: „Unser Theater treibt wie ein Wrack vor Wind und Wellen. Das Wort ist nicht minder wahr, als es scharf ist, versteht sich unter künstlerischem Gesichtspunkt, der allein maßgebend sein darf. Das heutige Theater ist ein kapitalistischer Geschäftsbetrieb geworden, wie jeder andere auch: die einzelnen Bühnen befehden sich in heftiger Konkurrenz, und es mag sein, dass die einen dabei gute Geschäfte machen, während die anderen verkrachen. Aber mit der Kunst hat das alles nichts zu tun, und es ist eine undankbare Aufgabe, nach ihren letzten Spuren da zu suchen, wo tatsächlich die rücksichtslose Spekulation das entscheidende Wort führt.

Solcher Spuren hat der vergangene Monat im Berliner Theaterbetriebe zwei aufzuweisen, die an dieser Stelle erwähnt zu werden verdienen: die Aufführung eines neuen Dramas von Gerhart Hauptmann im Lessingtheater und die Neueinstudierung von Schillers Erstlingsdrama im Deutschen Theater. „Kaiser Karls Geisel" nennt sich das „Legendenspiel", wie Hauptmann das neueste Kind seiner dramatischen Muse getauft hat. Es ist ein missratenes Kind, gleich so vielen seiner älteren Geschwister; jede Bühne hätte es mit Hohnlachen abgewiesen, wenn es nicht von Gerhart Hauptmann, sondern von einem Dichter mit noch unbekanntem Namen verfasst worden wäre, und insofern gehört es auch nur in das Kapitel von dem Theater als reiner Kapitalsanlage. Allein der Dichter selbst hat es nicht so gemeint. Denn sonst hätte er nicht den sechzigjährigen Kaiser Karl vier lange Akte hindurch stöhnen und wimmern lassen über seine greisenhafte Liebe zu einer Geisel, die an seinem Hofe lebt: einem Sachsenmädchen, das noch ein halbes Kind, aber schon eine ganze und noch dazu eine pervers veranlagte Dirne ist. So was hält das kapitalistische Parkettpublikum nicht aus, und es ist am Ende nicht die schlimmste seiner Sünden; bei aller Abneigung gegen seinen schlechten Geschmack und bei aller Anerkennung des guten Willens, womit Hauptmann sich allein von seinen dichterischen Zwecken leiten lässt, ist es doch nicht möglich, dies „Legendenspiel" zu retten.

Es bleibt nun einmal bei dem, was Lessing irgendwo im „Laokoon" sagt: „Ein gieriger Blick macht das ehrwürdigste Gesicht lächerlich, und ein Greis, der jugendliche Begierden verrät, ist sogar ein ekler Gegenstand." Homer lässt die trojanischen Greise beim Anblick der Helena in bewunderndes Entzücken verfallen, aber es ist ein augenblicklicher Funke, den ihre Weisheit sogleich erstickt, nur bestimmt, der Helena Ehre zu machen, aber nicht, sich selbst zu schänden; sonst wären diese trojanischen Greise alte Gecken. Solch ein alter Geck und nichts anderes ist Kaiser Karl in Hauptmanns „Legendenspiel". Das Drama entbehrt jeglicher Handlung, nicht etwa nur in äußerlichem Sinne, sondern auch im Sinne einer psychologischen Entwicklung; alle anderen „handelnden Menschen", die darin auftreten, sind bloße Nebenfiguren, einschließlich der Geisel selbst; der Kaiser hat so gut wie allein das Wort, und in unendlichen Monologen voll stelzbeiniger Verse trägt er seine Liebesqual vor, bis er im vierten Akte eine halbe Stunde am offenen Sarge der für ihn so spröden und für junge Kerle so willigen Schönen jammert, die inzwischen von einem patriotischen Kanzler vergiftet worden ist, weil sie den Kaiser in seinen Sachsenschlächtereien und sonstigen christlichen Kulturtaten lähmt. Nachdem er sich ausgeweint hat, schwingt er natürlich zum Schlusse wieder sein Schlachtschwert und verspricht, das alte Mordgeschäft mit frischen Kräften zu beginnen.

Das Drama fiel gänzlich ab, und es wäre allzu wohlfeil, das totgeborene Kind noch zu sezieren. Eher drängt sich eine melancholische Betrachtung über das Schicksal des Dramatikers Hauptmann als solchen auf. Es sind jetzt gerade zehn Jahre her, als er seinen letzten leidlichen Erfolg erreichte mit dem „Fuhrmann Henschel"; seitdem ist es mit ihm unaufhaltsam bergab gegangen, anfangs langsamer, mit gelegentlicher Unterbrechung, die wieder leise Hoffnung zu schöpfen gestattete, seit der tanzenden Pippa aber in einer Art galoppierender Schwindsucht. Wenn anders dies Talent, um in seinem eigenen Märchenstil zu sprechen, nicht durch den Blick einer bösen Fee gelähmt worden ist, so ist es gänzlich erschöpft; der Strom ist völlig im Sande verronnen, während der Dichter noch in einem Lebensalter steht, das große Talente erst auf der vollen Höhe ihrer Schaffenskraft zu sehen pflegt.

Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass die letzten Getreuen, die sich nicht mit dem Schwarme verlaufen mögen, sondern in unerschütterlicher Treue zur Fahne des Dichters stehen, ihm noch die dramatischen Lorbeeren zu retten suchen, indem sie sagen, man verstehe den genialen Poeten nur nicht, der viel persönliches Erleben in sein Dichten zu legen wisse und in seiner Gedankentiefe mühsam erschlossen werden wolle. Diese Rede geht jetzt wieder um, wie sie schon bei manchem früheren Drama Hauptmanns umgegangen ist, jedoch bei aller Achtung vor der Freundestreue, die sie beseelt, ist sie in der Tat nicht tragisch und selbst nicht einmal ernsthaft zu nehmen. Wenn der achtzigjährige Goethe oder auch der siebzigjährige Ibsen, nach glorreich vollbrachten Tagewerken, dem Alter ihren Tribut zollen und ihr Erleben nicht mehr in plastischen Gestalten zu verkörpern, sondern nur noch in dunklen Runen davon zu singen und zu sagen wissen, so wollen wir uns in allem Respekt mit diesen Runen abmühen. Aber wenn ein lebensfrischer Dichter um sein vierzigstes Lebensjahr herum, ein Dichter, der so wenig wie eine historische je eine philosophische Anlage und Bildung verraten, sondern seine Begabung gerade nur in der mikroskopisch feinen und kleinen Beobachtung der alltäglichen Wirklichkeit bekundet hat, wenn ein solcher Dichter uns mit mystischem Tiefsinn kommt, nicht einmal, sondern wiederholt, und mit ganz nüchternen Intervallen dazwischen, so lassen wir uns dadurch ein für allemal nicht verblüffen. Das ist nicht künstlerischer Drang, sondern künstliche Mache, mag sich Hauptmann selbst, der beiläufig in seinen neunzehn Dramen noch nicht das kleinste Scherflein zum Gedankenschatze der Nation gespendet hat, auch selbst für einen philosophischen Dichter halten.

Noch nicht das kleinste Scherflein, es sei denn, dass man meine, er habe in seiner „Versunkenen Glocke" seine eigene Dichtung treffend gekennzeichnet mit dem Worte: Im Tale klingt sie, in den Bergen nicht. Er konnte sich einen großen dichterischen Namen nur in einer Zeit schaffen, wo der kastilische Quell nicht in mächtigen Sprüngen von den Bergen stürzte, sondern langsam durch eine dürre Ebene sickerte, oder richtiger: nur in einer solchen Zeit konnte ihm ein großer, dichterischer Name geschaffen werden. Wir an unserem Teil haben uns an dieser Stelle über Art und Umfang seines Talentes nie irgendwelchen Illusionen hingegeben und ihn nicht einmal entfernt den Kleist und Hebbel gleichzustellen vermocht, als der korybantische Lärm erscholl, dass er selbst über Goethe und Shakespeare emporrage. Aber dessen ungeachtet oder auch gerade deshalb beklagen wir das klägliche Erlöschen seiner Dichterkraft; mäßige Talente, wie Hauptmann immer nur eines gewesen ist, bedürfen vor allem der Selbstkritik, und an seinem frühzeitigen Ende als Dichter trägt die Clique, die ihm mit jedem Mittel der Reklame einen tönernen Ruhm fabrizierte, einen großen Teil der Schuld. Hätte er ihren Lockungen zu widerstehen und auf dem Wege weiter zu wandeln gewusst, den er mit den „Webern" und dem „Biberpelz" zu beschreiten begann, so wären ihm glücklichere Lose gefallen, aber dazu gehört eben ein großer Dichter, der in seiner Weise immer auch ein großer Charakter ist.

Von der greisenhaften Nichtigkeit des „Legendenspiels", das Hauptmann mühsam zurecht fabriziert hat, hob sich in leuchtender Jugendfrische Schillers revolutionärer Erstling ab, den das Deutsche Theater in neuem Gewande herausbrachte. Diese Bühne bemüht sich, die reichen Mittel und Möglichkeiten des kapitalistischen Geschäftsbetriebs in den Dienst künstlerischer Zwecke zu stellen, indem sie klassische Dramen mit aller dramaturgischen und schauspielerischen Kunst herausbringt, über die ein modernes Theater verfügt. Es ist unzweifelhaft ein interessanter und lehrreicher Versuch, und die Tortur, die einem „König Karls Geisel" bereitet, wird reich vergolten durch den Genuss, womit die Fülle der Gesichte in Schillers „Räubern" überrascht. Aber ein künstlerischer Genuss im reinen Sinne des Wortes ist es auch nicht; der wildgewachsene Baum des Waldes verkümmert in einem prunkenden Luxuspark.

Herr Max Reinhardt, der Direktor des Deutschen Theaters, hat seine rastlose Arbeit zunächst an Dramen Shakespeares und Schillers gesetzt, an den „Sommernachtstraum", den „Kaufmann von Venedig", „Was ihr wollt", ferner an „Kabale und Liebe" und nun neuestens an die „Räuber", die das eigentliche Ereignis im Berliner Theaterleben dieses Winters sind. Bei der Auswahl von Shakespeares Dramen hat Herr Reinhardt sicherlich einen feinen Geschmack bewährt, indem er solche wählte, die in gewissem Sinne zeitlos sind: den „Sommernachtstraum" mit seiner reinen Feen- und Phantasiewelt, wo übernatürliche Wesen mit höheren Naturkräften in die Menschenwelt hineinspielen, oder den „Kaufmann von Venedig" und „Was ihr wollt", wo zwar das eigentlich Unnatürliche und Wunderbare fortfällt, die Handlung aber immer noch einen märchenhaft-phantastischen Charakter trägt und Situationen vorführt, die in der wirklichen Welt so nicht denkbar sind. Ungleich schwieriger liegt die Sache bei Schillers Dramen, und nun gar bei seinen revolutionären Jugenddramen, die mit allen Fasern im Boden ihrer Zeit, einer ganz bestimmten, historisch scharf umrissenen Zeit wurzeln.

Ganz freilich lässt sich kein Drama, auch Shakespeares Feen- und Märchenlustspiel nicht, von der Bühne lösen, auf der es einst zum Leben erwacht ist. Wie sah denn Shakespeares Bühne aus? Ein rohes Brettergerüst, wo die Frauenrollen von Männern gespielt wurden und junge, adelige Tagediebe mitten auf der Szene herumlungerten; das Parterre ein offener, unbedeckter Hofraum, in der Mitte der übelriechende, zum allgemeinen Gebrauch bestimmte Bottich; ein Publikum von Gesellen und Lehrlingen, von Bootsleuten und Werftarbeitern, das während der Aufführungen aß und trank, rauchte und Karten spielte; auf der Galerie käufliche Schönheiten, denen das Theater als gefällige Kupplerin diente, und erst versteckt hinter ihnen ehrbare Bürgersfrauen, die der Versuchung des Theaterbesuchs nicht widerstehen konnten, aber nur mit Masken vor dem Gesicht zu erscheinen wagten. Ohne Shakespeares Bühne ist Shakespeares Drama niemals völlig zu verstehen, und es nimmt um so fremdere Züge an, je weiter sich die Bühne, auf der es heute erscheint, von seiner mütterlichen Bühne entfernt hat. Schillers Bühne stand der heutigen Bühne nun freilich schon viel näher, aber wie anders war auch noch sie! Als das Hoftheater in Mannheim am 13. Januar 1782 zum ersten Male die „Räuber" aufführte, machte es die ungewohnte Ausgabe von 12 Gulden 18 Kreuzern, um für die Szene am Turme einen „Mond mit blechernem Spiegel" anzuschaffen, und wie begeistert war der junge Dichter über diesen Mond, dessengleichen er noch auf keiner Bühne gesehen hatte; „er lief gemächlich über den Theaterhorizont und verbreitete nach Maßgabe seines Laufes ein natürliches schröckliches Licht in der Gegend". Es war diese Szene, die bei der ersten Aufführung die mächtige Wirkung des Dramas entschied.

Um gleich hieran anzuknüpfen, so versagt in der Aufführung der „Räuber", wie sie gegenwärtig das Deutsche Theater inszeniert, gerade diese Szene vollständig, weil sie das – für die Dichtung ganz nebensächliche – Tun und Treiben der Räuber am Turme bis ins kleinste hinein darzustellen unternimmt. Das Lagern der Bande auf dem schwellenden Moosteppich, unter ragenden Bäumen, das allmähliche Ersterben des Räuberlieds im Räuspern und Schnarchen der Schläfer, das nächtliche Waldleben in all seinen menschlichen und tierischen Lauten, dann das Hämmern und Meißeln des Räubers Moor an der Pforte des Hungerturmes – alles das ist mit einem Raffinement ausgeklügelt und dargestellt, wogegen jener blecherne Mond mit seinem „schröcklichen" Scheine freilich ganz im Dunkeln verschwinden mag. Aber über diesem unzähligen Detail, das die Spannung des Hörers viel mehr zerstreut als konzentriert, geht die dramatische Wirkung der Szene ganz verloren, und die Illusion, die gesteigert werden soll, wird vielmehr völlig zerstört. Was hilft auch die noch so naturgetreue Nachahmung eines schwellenden Moosteppichs, wenn unter jedem Räuber, der sich zum Schlafe darauf wirft, die Bretter der Bühne ächzen und knarren! Man darf niemals der Phantasie des Hörers alles vorwegnehmen, wenn man sie nicht aus Mangel an Nahrung töten will; auch hier gilt das Wort Schillers vom Meister des Stils, der sich gerade in dem zeigt, was er weise verschweigt.

Wie die „Räuber" im Sturm und Drang gedichtet worden sind, so wollen sie auch im Sturm und Drang gespielt sein. Eine Darstellung, die nicht nur jedes leise Spiel des dichterischen Schaffens, sei es nun wirklich oder auch nur möglich, herauszuholen bemüht ist, sondern auch jeden geistreichen oder selbst nicht geistreichen Einfall der Regie und der Schauspieler hineintragen will, treibt nur die Plumpheit der Intrige, die krassen Unwahrscheinlichkeiten der Handlung, die Sorglosigkeit in der Motivierung, die schon Goethe an Schiller hervorhob, um so schärfer hervor. Franz Moor, von jeher ein Lieblingsobjekt für den Witz denkender Künstler, wird im Deutschen Theater höchst modern gespielt, feminin-pervers, sozusagen im Hardenstile; es ist gar keine unbeträchtliche Leistung, aber aus dem Geiste Schillers ist sie nicht geboren.

Und wenn nur etwas von der minutiösen Sorgfalt, die auf alles bühnentechnische Drum und Dran verwandt wird, dem Texte des Dichters zugute gekommen wäre! Man konnte es dem Hoftheaterintendanten Dalberg nicht so sehr verdenken, wenn er für die erste Aufführung des Dramas allerlei Zugeständnisse von dem Dichter beanspruchte, die den revolutionären Charakter des Dramas mildern sollten, Zugeständnisse, zu denen sich Schiller nur schweren Herzens bequemte. Aber heute sollte man doch den unverfälschten Dichter spielen, gerade aus den künstlerischen Tendenzen heraus, von denen sich das Deutsche Theater in seiner Inszenierung klassischer Dramen leiten lässt. Tatsächlich wird das Drama aber immer noch kastriert, wenn auch nicht mehr so arg wie einst von Dalberg; an gelegentlichen derben Worten lässt man sogar mehr passieren, als der kapitalistische Wohlanstand sonst zu dulden pflegt; aber es kommen doch noch hässliche Vandalismen vor, so die Streichung der Sätze, in denen der Räuber Moor sein Rächeramt an den schurkischen Höflingen und Ministern rühmt, die sonst für die irdische Gerechtigkeit unerreichbar seien. Durch diesen groben Riss in den Text werden gewissermaßen die revolutionären Wurzeln des Dramas zerschnitten. Man raubt ihm die historische Wirklichkeit, die es einmal gehabt hat, und damit auch die ästhetische Wahrheit, die ihm selbst durch das gelungenste Schnarchkonzert im nächtlichen Waldesdunkel nicht wiedergegeben werden kann.

Umzubringen sind die „Räuber" bei alledem nicht, trotz aller „Schillerhasser" des modernen Naturalismus, der gekommen und gegangen ist, ohne dem mächtigen Block auch nur ein Steinchen abzubröckeln. Und sicherlich verdient es von wegen des guten Willens alle Anerkennung, wenn sich das kapitalistische Theater auf diesen Fels retten will. Allein seine Liebe ist noch gefährlicher als sein Hass, denn sie bröckelt wirklich ein Stückchen von dem harten Stein ab.

Kommentare