Franz Mehring 19090219 Bücherschau Ludwig Geiger, Goethe und die Seinen

Franz Mehring: Bücherschau

Ludwig Geiger, Goethe und die Seinen

19. Februar 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Erster Band, S. 788/789. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 84-86]

Ludwig Geiger, Goethe und die Seinen. Quellenmäßige Darstellungen über Goethes Haus. Leipzig 1908, R. Voigtländers Verlag. 388 Seiten.

Unter den „Seinen" Goethes versteht der Verfasser die „Familie der freien Wahl" oder, um die etwas weitläufigen Auseinandersetzungen des Vorwortes nach dem kürzeren Inhaltsverzeichnis zusammenzufassen, die Gattin Goethes, dann seine Nachkommenschaft und endlich Haus und Hausverwandte, zu denen er die Freunde H. Meyer und Zelter, die Sekretäre Riemer und Eckermann, Schauspieler, Diener usw. zählt.

Ob dies Buch eine Lücke in der Literatur über Goethe ausfüllt, wie Herr Geiger andeutet, wagen wir nicht zu entscheiden, da nicht leicht zu sagen ist, wo in dieser Literatur die Lücken anfangen und wo sie aufhören. Wenn wir es dennoch mit einem günstigen Vorurteil zur Hand nahmen, so geschah es, weil ein ebenso berühmter oder noch berühmterer Goetheforscher als Herr Geiger im „Literarischen Echo" einen Bannstrahl gegen diesen schleuderte. Herr Georg Witkowski zürnte nämlich: „So kann er (Geiger) behaupten, dass in dem Verhältnis Schillers und Goethes bei aller Hochachtung des Älteren für den Jüngeren, bei aller Ehrerbietung, die dieser jenem zollte, etwas Unausgeglichenes und Fremdes liege, das eine wirkliche Intimität nicht gestattete. Geiger wagt es sogar, von der Fortdauer eines wirklichen Gegensatzes in den Jahren nach 1794 zu reden, und leistet sich die Behauptung, dass sich beide von der Erinnerung an eine lange Feindseligkeit nicht recht befreien konnten. Er hätte nicht erst in der literarischen Notiz am Schlusse zu bemerken brauchen, dass diese .Ausführungen' im Gegensatz zu den üblichen Anschauungen stehen." Zu den üblichen Anschauungen der Goetheforschung nämlich, denn das Verdikt, das Herr Witkowski nach Feststellung des verbrecherischen Tatbestandes fällt, lautet dahin, dass Herr Geiger „im Banne konventioneller Begriffe" stehe. Das heißt, aus dem Goetheforscherlichen ins Deutsche übersetzt, dass Herr Geiger von dem Briefwechsel Goethes und Schillers dieselbe Anschauung gewonnen hat wie jeder Mensch, der ihn mit gesunden Augen gelesen hat.

Nicht ganz so arg, aber doch immer noch hart genug wird Herr Geiger gescholten, weil er das andere Verbrechen begangen hat, Goethes Verhältnis zu Christiane Vulpius als vernünftiger Mensch zu betrachten. Innerlich hängen beide Verbrechen zusammen, denn wenn es nie zu einer wirklichen Intimität zwischen Goethe und Schiller gekommen ist, so trug offenbar die Hauptschuld daran, dass unter allen giftigen Klatschbasen in Weimar, die Goethes und Christianens Verhältnis mit ihrem Gezischel verfolgten, Schillers Frau weitaus die giftigste war. Dafür wird sie in der bürgerlichen Literaturgeschichte als Idealbild echter Weiblichkeit gefeiert, während Christianens Andenken von jedem beliebigen Pedanten beschmutzt wird, nur weil sie eine arme Arbeiterin war und einige Jahre ohne Pfaffensegen mit Goethe zusammengelebt hat.

Es ist immerhin erfreulich, dass sich gegen dieses Übermaß der Narretei neuerdings eine gewisse Reaktion geltend macht und namentlich auch Herr Geiger in seinem hier besprochenen Buche alles urkundliche Material an Briefen und Gedichten zusammenstellt, das auf Goethes Geliebte und spätere Frau helles Licht zu werfen geeignet ist. Es ist nicht einmal ganz vollständig, namentlich das zärtliche Gedicht „War schöner als der schönste Tag", das der achtzigjährige Goethe ein halbes Menschenalter nach Christianens Tode ihr widmete, hat Geiger übersehen. Aber was er mitteilt, genügt vollständig, um zu erhärten, dass Goethe in Christianen immer seine echte und wirkliche Lebensgefährtin erblickt hat, womit alles gesagt ist, was sich über die ganze Sache überhaupt zu sagen verlohnt. Die aktenmäßige Feststellung dieser Tatsache sieht schon viel zu philiströs aus, doch ist Herr Geiger entschuldigt, da es die systematische Verunglimpfung einer toten Frau abzuwehren gilt. Die höhnische und völlig sinnlose Bemerkung Witkowskis, Geiger wolle Christianen einen „Heiligenschein aufzwingen", zeigt den heftigen Widerstand der fanatischen Goethephilister, sich die wehrlose Beute entreißen zu lassen. Nach demselben Forscher sollen die Verse, die Goethe unter dem frischen Eindruck von Christianens Tode geschrieben hat, nur eine „kahle Antithese" sein, während die peinliche Gleichgültigkeit, die Goethe beim Tode seines einzigen Sohnes zeigte, „den Heros in seiner erhabensten Selbstüberwindung" offenbaren soll. Goethe muss die heutigen Goetheaner vorausgeahnt haben, als er schrieb: Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage! oder auch als er meinte: Wahrlich, sie treiben's toll!

Nachgerade wäre es an der Zeit, mit den Herren gründliche Abrechnung zu halten, aber dazu ist Herr Geiger freilich nicht der Mann, und wir wären auch nicht verwegen genug, es einem bürgerlichen Schriftsteller anzuraten. Genug, dass Geigers Buch in einigen wesentlichen Punkten die Dinge darstellt, wie sie tatsächlich gewesen sind. Ein allzu erquickliches Bild bieten diese „quellenmäßigen Darstellungen über Goethes Haus" nicht. Zum Teil lag das an den entsetzlich kleinen Verhältnissen des sogenannten „Musenhofs von Weimar", zum Teil auch an Goethe selbst, der namentlich nicht ohne große Schuld an dem elenden Untergang seines Sohnes und seiner Enkel war.

Es ist gewiss splitterrichterlich, dem alternden Genius alle seine großen und kleinen Schwächen aufzurechnen, aber wenn sie als ebenso viele Tugenden ausposaunt werden, so muss man sie wenigstens beim richtigen Namen nennen. Der Goethekultus, wie er heute von Goethebünden und Goethegesellschaften betrieben wird, ist gerade auch vom Standpunkt ästhetischer Kultur eine durch und durch reaktionäre Erscheinung, der nur zu wünschen wäre, dass ihr einmal ein Panther in den Nacken spränge wie einst der junge Goethe den Pedanten und Philistern seiner Zeit.

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