Franz Mehring 19100722 Bücherschau (Gustav Billeter, Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendun

Franz Mehring: Bücherschau

Gustav Billeter, Wilhelm Meisters theatralische Sendung

22. Juli 1910

[Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 604-606. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 71-73]

Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Mitteilungen über die wiedergefundene erste Fassung von Wilhelm Meisters Lehrjahren. Von Gustav Billeter. Zürich 1910, Verlag von Rascher & Komp. 111 Seiten.

Die Goethegesellschaft, die in diesem Sommer ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feierte, musste bei dem festlichen Anlass manch unliebsames, aber deshalb nicht unverdientes Wort der Kritik hören. Sie hat in der Tat viel weniger dazu beigetragen, das Leben und die Werke Goethes im Gedächtnis der Nation lebendig zu erhalten, als vielmehr die Freude an dem Schaffen des Genius durch alexandrinische Wortklauberei zu ersticken. Aber eine Genugtuung ist ihr doch geworden; gleichsam zum Angebinde ihres Festtages hat Herr Gustav Billeter, Professor am Züricher Gymnasium und Privatdozent an der Züricher Universität, eine Abschrift des ersten Entwurfs von Goethes „Wilhelm Meister" aufgefunden, und dies „seit Jahrzehnten wichtigste literaturhistorische Ereignis", wie eine bekannte literarische Zeitschrift den Fund nennt, bietet den Goethephilologen eine willkommene Gelegenheit, ihren abgetriebenen Gaul frisch aufzuzäumen.

Vorläufig freilich müssen sie sich noch gedulden. Um das Urheberrecht an dem aufgefundenen Manuskript hat sich ein weitläufiger Streit entsponnen, aus dem ein Sanitätsrat Vulpius als Sieger hervorgegangen ist. Es kennzeichnet beiläufig die Goethekenntnis der bürgerlichen Presse, dass sie – vom „Berliner Tageblatt" bis zur „Deutschen Tageszeitung" – diesen Herrn zu einem „direkten Nachkommen von Goethes Frau" macht und es ausgerechnet dem „Vorwärts" überlässt, den richtigen Sachverhalt anzugeben. Goethes und seiner Frau direkte Nachkommen sind seit einem Vierteljahrhundert ausgestorben; Herr Sanitätsrat Vulpius ist ein Enkel oder gar schon Urenkel des berüchtigten Schauerromanfabrikanten Vulpius, der durch seine Schwester mit Goethe verschwägert war, aber mit unserer klassischen Literatur keinen anderen Zusammenhang hat, als dass ihn Schiller in einem seiner Briefe an Körner lustig schildert: „eine kleine dürre Figur in weißem Frack und grüngelber Weste, krumm und sehr gebückt", von devotem und untertänigem Wesen.

Dieses Wesen muss der Verfasser des „Rinaldo Rinaldini" auf seine Nachkommen vererbt haben. Denn Herr Sanitätsrat Vulpius, dem dank der Verrücktheit des kapitalistischen Erbrechts die Verfügung über den sogenannten Ur-Meister zugefallen ist, hat bestimmt, dass dessen Veröffentlichung in der sogenannten Sophienausgabe von Goethes Werken erfolgen solle, die schon mehr als 125 Bände umfasst, gegen tausend Mark kostet und in einzelnen Bänden nicht abgegeben wird, also vom profanen Volk nicht gekauft werden kann. Aber sie ist getauft auf den Namen einer Großherzogin, die ihre Sorge für dies Patenkind dadurch betätigt hat, dass sie ihm aus höfischer Prüderie herrliche Dichtungen Goethes fernhält, und so muss denn wohl ein echter Reichspatriot, wie Herr Sanitätsrat Vulpius zweifellos ist, seinen kostbaren Schatz unter den Schutz eines so erlauchten Namens stellen.

Im Zweifel, ob man über die Komödie weinen oder lachen soll, darf man sich immerhin für den heiteren Teil der Alternative entscheiden. So gar wichtig ist die ganze Sache nicht. Wenn auch der Genuss des „Ur-Meisters", zu dessen Herausgeber der Züricher Universitätsprofessor Harry Maync bestimmt ist, nur denen beschieden sein wird, die reich mit irdischen Glücksgütern gesegnet sind, so hat doch Herr Billeter, der Entdecker des Manuskripts, als Finderlohn die Erlaubnis erhalten oder sich genommen, einige Kosthäppchen daraus zu veröffentlichen.

Es ist begreiflich, dass er möglichst großes Wesen daraus macht; er sagt, mit diesem Manuskript habe nicht nur die deutsche, sondern die Weltliteratur „eine der köstlichsten Schöpfungen wiedererhalten"; nur einer habe so erzählen können, und auch er nur einmal in seinem Leben; Herr Billeter fragt unmutig, wie Goethe dies „wunderliebliche Gebilde" habe zerstören können usw. Man mag ihm, wie gesagt, solche überschwängliche Redensarten hingehen lassen, aber deshalb brauchen unbefangene Urteilet kein Hehl daraus zu machen, dass nach diesen Proben der „Ur-Meister", wie inzwischen auch Herr Maync erfreulicherweise in einem Vortrag anerkannt hat, eben nur der erste, noch sehr unvollkommene Entwurf eines künstlerischen Werkes ist und sich mit diesem Werke selbst nicht entfernt vergleichen lässt.

Ob es im Sinne Goethes gehandelt heißt, eine vorläufige Skizze, die er selbst verworfen hat, nun noch nachträglich herauszugeben, ist eine Frage, die verschieden beantwortet werden wird, von denen, die den Dichter Goethe bewundern, ehren und lieben, und von denen, die in Goethe eine wehrlose Beute philologischer Kleinkrämerei erblicken. Jedoch wenn es den Goethepedanten trotz allen heißen Bemühens noch nicht gelungen ist, den Dichter der Nation zu entfremden, so steht zu hoffen, dass der Spektakel über den „Ur-Meister" auch keine allzu nachteiligen Folgen haben wird. Goethe kann ja manchen Puff aushalten.

Hat er doch auch schon den einzigen wenn nicht Entschuldigungs-, so doch Erklärungsgrund der Goethephilologie geahnt:


Sage, wie es dir nur gefällt,

Solch zerstückeltes Zeug zu treiben?"

Seht nur hin: für gebildete Welt

Darf man nichts anders beginnen und schreiben.


Und nun gar, wo Besitz und Bildung sich paaren, da müssen die Goethe sich bescheiden, und die Vulpius haben ihr unveräußerliches Patriotenrecht: in ihrer schwarzweißroten Tracht noch viel mehr als ehedem in ihrer weißgrüngelben.

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