Franz Mehring 19090000 „Die Räuber"

Franz Mehring: „Die Räuber"

1909

[Die Volksbühne. Eine Sammlung von Einführungen in Dramen und Opern, Nr. 23, Berlin 1909. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 239-244]

Das erste Schauspiel Schillers, das der kaum zwanzigjährige Jüngling schrieb, ist vielleicht sein genialster Griff überhaupt geblieben; von einzelnen seiner Szenen sagt ein bürgerlicher Literaturhistoriker nicht ohne Grund, dass sie an tragischer Kraft alles im dramatischen Schaffen des Dichters überböten. Er selbst dachte allzu bescheiden von seiner ersten Tragödie, wenn er ihr nur darum Unsterblichkeit verhieß, weil sie das Beispiel einer Geburt verewige, die der naturwidrige Beischlaf der Subordination und des Genius in die Welt gesetzt habe; unter den unzähligen Klagschriften gegen die „Räuber" schien ihm namentlich die eine zuzutreffen, die ihm vorwarf, Menschen geschildert zu haben, zwei Jahre vorher, ehe ihm noch ein Mensch begegnet sei.

Schiller spielte damit auf seine traurige Jugend an, auf die acht Jahre, die er auf der Karlsschule hatte zubringen müssen, der „Sklavenplantage", die der Herzog Karl Eugen von Württemberg eingerichtet hatte, um sich einen Stamm willenloser Werkzeuge zu drillen. Schillers Vater war ein Offizier des Herzogs und musste sich mit schwerem Herzen fügen, als ihm sein einziger zwölfjähriger Sohn entrissen wurde. Nicht geringer war der Widerstand des Knaben selbst, aber er fügte sich nicht in stummem Verzicht, sondern bewahrte in seinem Herzen den Groll und Trotz und Zorn über die ihm angetane Gewalt, und allen ausgeklügelten Zuchtmitteln des Despotismus gelang es nicht, ihn zu brechen. Vielmehr rankte sich an den eisernen Gittern, die die Karlsschule von der Außenwelt abschlossen, sein dichterisches Talent empor; sein erstes Schauspiel war ein revolutionäres Manifest, ein Löwe, der seine Pranke gegen die Tyrannen erhob, wie ihn das Bildchen auf dem Titel der ersten Buchausgabe zeigt.

So dürftig und kleinlich das deutsche Leben im Jahre 1780 war, so war die Karlsschule selbst von diesem Leben systematisch abgesperrt, und daraus erklärt sich, dass der junge Schiller im Räuber den Revolutionär sah. Es war keine rein phantastische Vorstellung. In ökonomisch rückständigen Ländern, wo keine starke Bourgeoisie, kein trotziges Kleinbürgertum, kein kampffähiges Proletariat dem Absolutismus und dem Fanatismus gegenüberstehen, erscheint rebellischen Gemütern das Räubertum leicht als die einzig mögliche Form der Auflehnung gegen Gesellschaft und Staat. Noch in reiferen Jahren hat Schiller einen württembergischen Räuber, den Sonnenwirt, zum Helden einer Erzählung gemacht, und noch im Jahre 1869 schrieb Bakunin: „Das Räubertum gehört zu den ehrenhaftesten Formen des russischen Volkslebens. Der Räuber ist der Held, der Schirmer und Rächer des Volkes, der unversöhnliche Feind des Staates und jeder vom Staate begründeten sozialen und bürgerlichen Ordnung." Sogar heute braucht man nur auf den Balkan oder auf Süditalien zu blicken, um volkstümliche Anschauungen zu finden, die keine scharfe Grenze zwischen dem Helden und den Räubern ziehen.

So ist es der Räuber Moor, der in Schillers Schauspiel die Schandtaten des Herzogs von Württemberg und seiner feilen Werkzeuge straft, Schandtaten, für die es keinen rächenden Arm gab, als eben den Arm des Räubers. „Diesen Rubin zog ich einem Minister vom Finger, den ich auf der Jagd zu den Füßen seines Fürsten niederwarf. Er hatte sich aus dem Pöbelstaub zu seinem ersten Günstling emporgeschwungen, der Fall seines Nachbars war seiner Hoheit Schemel – Tränen der Waisen hoben ihn auf. Diesen Demant zog ich einem Finanzrat ab, der Ehrenstellen und Ämter an die Meistbietenden verkaufte und den trauernden Patrioten von seiner Türe stieß." Der Räuber erscheint hier als Rächer der beleidigten Menschheit an Schurken, auf die jeder Zeitgenosse, der das Schauspiel las oder sah, mit Fingern zeigen konnte.

Den Stoff seines Dramas entnahm Schiller einer Erzählung Schubarts, des schwäbischen Dichters, den der Herzog von Württemberg ohne Urteil und Recht, ohne einen andern Grund als seine hochfürstliche Laune für zehn Jahre in einen schauderhaften Kerker geworfen hatte. Die Erzählung Schubarts war die Geschichte zweier adliger Brüder, Karls und Wilhelms, die in feindlichem Gegensatz standen: Karl als die geniale, überschäumende Kraft, die leichtherzig darauflos lebt, Wilhelm als der nüchterne Alltagsmensch, der fromme Strenge heuchelt, um heimlich desto ruchloser zu sündigen. Durch Lug und Trug sperrt Wilhelm dem reuigen Bruder das Herz des Vaters, so dass Karl ins Elend wandern muss. Doch als Holzhacker in einem bäuerlichen Dorfe rettet er den Vater, der im Wald von Banditen überfallen wird, von Banditen, die Wilhelm gedungen hat. Schubart lässt seine Geschichte versöhnlich ausklingen; Karl erhellt das Alter des Vaters als liebevoller Sohn, während Wilhelm seine Schande in einem verlorenen Winkel verbergen darf, als Haupt einer Sekte von Zeloten.

Wie Schubarts Erzählung, so beruht auch Schillers Schauspiel auf den entgegengesetzten Charakteren der beiden Brüder, aber mit mächtigem Griff hat der Dichter sie aus der spießbürgerlichen Sphäre Schubarts auf historische Höhe zu heben gewusst. In dem tückischen Bösewichte Franz Moor ist der revolutionäre Zweifel der bürgerlichen Aufklärung nicht weniger lebendig geworden als in dem edlen Räuber Karl Moor ihre revolutionäre Begeisterung. Schiller selbst meinte, einen so kaltblütigen Schurken wie Franz Moor auf die Bühne zu stellen hieße mehr gewagt, als das Ansehen Shakespeares entschuldigen könne, der einen Jago und einen Richard erschaffen habe; er fragte selbst, wie es sich psychologisch solle erklären lassen, dass ein Jüngling, der in einer friedlichen schuldlosen Familie aufgewachsen sei, zu einer so herzverderbenden Philosophie habe kommen können.

Die Antwort gibt niemand schlagender als Schiller selbst. Die materialistischen Sophismen und Zynismen, mit denen Franz seine Gräueltaten vor seinem Gewissen zurechtzulegen versucht, waren dem Dichter nicht fremd geblieben; ohne ein tiefes Interesse für die materialistische Weltanschauung hätte Schiller die Monologe des Franz nicht schreiben können. Aber noch lebte er in religiösen Anschauungen und Vorstellungen, die er gegen alle Zweifel schützte, indem er diese Zweifel auf die Seele eines Bösewichtes ablud, der dann doch unter dem Gerichte Gottes zusammenbrach. Über diesen Zwiespalt ist Schiller niemals völlig hinweggekommen, auch nicht, nachdem er mit dem religiösen Bekenntnis seiner Jugend völlig gebrochen hatte. Immer stand ihm eine ideale Welt über der wirklichen Welt. Aber freilich ist er auch niemals der blutlose Schemen von Idealist gewesen, als den ihn seine bürgerlichen Verehrer darstellen möchten; schon als Jüngling bekannte er, dass die Räsonnements, mit denen Franz sein Lastersystem aufstutze, die Ergebnisse eines aufgeklärten Denkens, eines liberalen Studiums seien, dass die Begriffe, die sie voraussetzten, ihn hätten veredeln sollen.

Leichter verständlich als Franz ist Karl Moor. In ihm flammt und leuchtet die revolutionäre Begeisterung der bürgerlichen Aufklärung, die an allen Fesseln und Ketten des verrotteten Feudalismus rüttelt: „Da verrammeln sie sich die gesunde Natur mit abgeschmackten Konventionen, belecken den Schuhputzer, dass er sie vertrete bei Ihro Gnaden, und hudeln den armen Schelm, den sie nicht fürchten … Nein, ich mag nicht daran denken. Ich soll meinen Leib pressen in eine Schnürbrust und meinen Willen schnüren in Gesetze. Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus." Dabei ist Karl Moor der echte deutsche Revolutionär, den es immer wieder sehnsüchtig treibt in das väterliche Heim, in die Arme eines geliebten Mädchens, den ein schöner Sonnenuntergang zum „heulenden Abbadona" macht, dem sein revolutionärer Trotz in „eitler Kinderei" zusammenbricht, in dem elenden Geständnis, dass zwei Menschen, wie er, den ganzen Bau einer sittlichen Welt zugrunde richten würden.

So überliefert er sich selbst dem Henker, der ihn aufs Rad flechten wird. Diesen lahmen Ausgang teilen Schillers „Räuber" mit dem bürgerlichen Schauspiel seiner Zeit überhaupt, in dessen Hintergrund immer Kerker und Galgen stehen. Dennoch war es von einem echt revolutionären Hauche beseelt, wie immer ein echter Dichter es schuf. Sosehr auch unser revolutionäres Denken ein völlig anderes geworden ist, sosehr ein proletarischer Revolutionär von heute, der im Stile Karl Moors handeln oder auch nur sprechen würde, unmöglich wäre, so ist die Revolution, die diese Gestalt atmet, doch einmal echt gewesen, und ihr Atem weht auch den heutigen Hörer vertraulich an. „Die Räuber" gehören, nachdem sie bei ihrer ersten Aufführung in Mannheim das überfüllte Theater in einen wahren Wirbelwind von Entsetzen und Entzücken rissen, zu dem unverwüstlichen Besitz der deutschen Bühne.

Vor den beiden Brüdern verschwinden einigermaßen die übrigen Gestalten des Dramas. Am wenigsten noch die Räuber, die Spiegelberg, Schweizer, Roller, Grimm, Schufterle, zu denen dem Dichter seine Mitschüler auf der Karlsschule gesessen haben. Schiller rühmte nicht ohne Grund von ihnen: „Jeder hat etwas Auszeichnendes, jeder das, was er haben muss, um auch noch neben dem Hauptmann zu bestehen, ohne ihm Abbruch zu tun." Weniger gelungen ist der alte Moor, der als ein schwacher und zärtlicher Vater erscheinen soll, tatsächlich aber als ein ganz einfältiger und kindischer Greis erscheint. Er lässt sich durch die denkbar abenteuerlichste und plumpste Intrige verleiten, seinen Sohn zu verfluchen, und zeigt in allem, was er spricht und tut, einen so vollendeten Stumpfsinn, dass er irgendein regeres Interesse nicht zu erwecken vermag.

Damit hängt denn auch zusammen, dass Schiller auf die Intrige nie große Sorgfalt zu verwenden pflegt; er war, wie Goethe später von ihm sagte, um eine ins einzelne gehende Motivierung stets unbekümmert. So steht auch das Motiv, durch das Schiller den Zwist zwischen den beiden Brüdern verschärfen will, die Liebe zu demselben Mädchen, auf schwachen Füllen. Als sein eigener Kritiker meinte Schiller: „Ich habe mehr als die Hälfte des Stücks gelesen und weiß nicht, was das Mädchen will, noch was der Dichter mit ihm gewollt hat, ahne auch nicht, was etwa mit ihm geschehen könnte." In der Tat dient Amalia nur dazu, die dramatische Handlung äußerlich vorwärtszubewegen; die einzige weibliche Gestalt des Schauspiels ist auch die einzige Gestalt, die völlig misslungen ist. Als der Dichter sie schuf, war er noch „ganz unbekannt mit dem schönen Geschlecht"; er meinte, dass die Tore der Karlsschule sich Frauenzimmern nur öffneten, ehe sie anfingen, interessant zu werden, und wenn sie aufgehört hätten, es zu sein.

Die Spuren der „Sklavenplantage" zeigt auch die Komposition des Schauspiels. Es ist keine einheitliche Schöpfung, vielmehr in einzelnen Szenen entstanden, wie sie dem Dichter aufgingen, wie sie, hinter dem Rücken der Aufseher und Lehrer, in nächtlicher Weile aufs Papier geworfen wurden. So fehlt es nicht an lahmen Auftritten, die nur ersonnen sind, um die Kette der Handlung herzustellen. Wieder hat der Dichter das treffendste Urteil über sein Werk gefällt, wenn er sagt, dass es in der Mitte erlahme. Nach den ersten Aufzügen, in denen die Handlung Schlag auf Schlag aufsteigt, bis zum Triumphe des Franz über den Scheintod des Vaters, bis zu dem Kampf in den böhmischen Wäldern, wo der Dichter das Leben der Räuber in all seiner Gemeinheit und all seiner Grässlichkeit doch zu heldenhafter Größe zu erheben weiß, spannt die elegische Stimmung des dritten Aufzuges ab, und nur ein äußerlicher Notbehelf, die Episode Kosinskys, dessen trauriges Geschick den Räuber Moor an sein verlorenes Liebesglück erinnert, setzt einen neuen Hebel in die Handlung ein. Dann aber erhebt sie sich mächtiger denn je, im vierten und fünften Aufzuge, in dem gewaltigen Auftritt Karl Moors am Hungerturm und in dem zermalmenden Gerichte, das über Franz Moor hereinbricht.

Alle Mängel des Schauspiels aber, die der Nachwelt noch weit erkennbarer sind, als sie der Mitwelt waren, haben seinen Triumphzug nicht hindern können. Es ist lebendig geblieben, weil es einmal von dem sprudelnden Blut des Lebens getrunken hat. Schiller selbst hatte das Gefühl, nicht bloß eine literarische, sondern auch eine soziale Tat vollbracht zu haben. „Wir wollen ein Buch machen", sagte er zu seinem Freunde Scharffenstein, „das durch den Schinder verbrannt werden muss." Und dieser Freund sagte später: „Die Räuber schrieb Schiller zuverlässig weniger um des literarischen Ruhmes willen, als um ein starkes, freies, gegen die Konventionen ankämpfendes Gefühl der Welt zu bekennen. Wäre Schiller kein Dichter geworden, so war für ihn keine Alternative, als ein großer Mensch im aktiven, öffentlichen Leben zu wandern, aber leicht hätte die Festung sein unglückliches, doch gewiss ehrenvolles Los werden können."

Man könnte selbst umgekehrt sagen: Da Schiller kein großer Mensch im öffentlichen Leben werden konnte, weil es zu seiner Zeit kein öffentliches Leben in Deutschland gab, so wurde er ein großer Dichter. Sein innerstes Wesen war aufs Handeln und Kämpfen gestellt, und nicht ohne ein bitteres Gefühl des Entsagens hat er sich später beschieden, im still umfriedeten Tempel der Muse zu leben, statt im Sturm und Drang des öffentlichen Marktes. Der elende Despot, der ihm seine Jugend gestohlen und ihn dann mit einem elenden Gehalt als Regimentsauditeur in ein verachtetes Infanterieregiment gesteckt hatte, sah mit dem sicheren Instinkt des Argwohns, was in dem jungen Feuerkopfe gärte und sprudelte; als die „Räuber" erschienen waren und, wie ihr Held, mit den Schritten eines Unbesiegten durch das todesstille Deutschland gingen, verbot der Herzog von Württemberg seinem Regimentsmedikus bei Strafe der Kassation, Komödien zu schreiben, und dieser Versuch eines moralischen Meuchelmordes trieb den Dichter in die Fremde.

Seinem freien und starken Gefühl opferte er Familie und Vaterland; in langen Tagen des Elends zog er ein unglückliches, doch ehrenvolles Los, und für immer sind seine „Räuber" geweiht nicht nur durch das Gedächtnis des Dichters, sondern auch des Kämpfers.

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