Franz Mehring 19050128 Ein Gipfel

Franz Mehring: Ein Gipfel

28. Januar 1905

[ungezeichnet. Leipziger Volkszeitung Nr. 23, 28. Januar 1905. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 268-270]

Nichts komischer als das Lamento der bürgerlichen Presse über das „wahre Gesicht", das die Sozialdemokratische Partei durch ihre Sympathie für die Anfänge der russischen Revolution enthüllt haben soll. Als ob für Leute, die lesen können und lesen wollen, seit dem Bestehen der deutschen Sozialdemokratie je ein Zweifel darüber bestanden hätte, dass alle ihre Wünsche mit der russischen Revolution sind. Ja, noch mehr, als ob heutzutage für irgendeinen Menschen, dem die Forderungen menschlicher Gesinnung nicht bloß leere Schlagworte sind, ein anderer Standpunkt möglich wäre, als den Sturz des zarischen Despotismus zu wünschen und mit allen Kräften zu beschleunigen.

Doppelt komisch macht sich jenes Lamento gerade zu einer Zeit, wo man kein bürgerliches Zeitungsblatt aufschlagen kann, ohne auf irgendeine ästhetische oder moralische Salbaderei über Schiller zu stoßen, dessen hundertster Todestag bekanntlich in wenigen Monaten wiederkehrt. Wissen denn die kapitalistischen Zeitungsschreiber nicht mehr, mit welcher Begeisterung ihrer Zeit die großen Denker und Dichter des deutschen Bürgertums – mit wenigen Ausnahmen – die große französische Revolution begrüßt haben? Nicht etwa nur in ihren sogenannt unschuldigen Anfängen – wir sagen „sogenannt unschuldig", denn schon lange ehe Haufen Arbeiter und Kleinbürger am 14. Juli 1789 die Bastille erstürmten, hatten zahllose Bauernaufstände mit den französischen Junkern die einzige Sprache gesprochen, die diese verrottete Klasse noch verstand – also nicht nur in ihren sogenannt unschuldigen Anfängen haben die großen Dichter und Denker des deutschen Bürgertums die große französische Revolution freudig begrüßt, sondern auch noch lange nachher, bis in die Schreckenszeit hinein.

Speziell das Bürgerrecht, das Schiller ebenso wie Klopstock und Pestalozzi von der Französischen Revolution erhielt, datiert vom 10. Oktober 1792. Es fällt also hinter die Entthronung des Königs, hinter die Erklärung der Republik, hinter die Septembermorde und hinter den jammervollen Rückzug der preußisch-österreichischen Heere in den Kot der Champagne. Schiller war damals außerordentlicher Professor in Jena mit dem kolossalen Gehalte von 200 Talern jährlich, das der Herzog von Weimar wirklich seiner Jagd-, Militär- und Mätressenwirtschaft abgezwackt hatte, wofür ihn heute noch die bürgerlichen Literarhistoriker als den edelsten Mäzen der deutschen Geschichte preisen. Dieser Biedermann steckte als preußischer General mit im Kote der Champagne, aber seine heimgebliebene legitime Gattin vergaß ihre erhabenen Regentenpflichten nicht und ließ Schiller wissen, die Mitglieder des Pariser Konvents seien ja allesamt Räuber, und „so mag wohl für jetzt das französische Bürgerrecht das Banditenrecht sein".

Allein Schiller lachte die Übermittlerin dieser herzogischen Botschaft aus und schrieb an seinen Jugendfreund und späteren Schwager Wolzogen, der damals in Paris lebte: „Wer Sinn und Lust für die große Menschenwelt hat, muss sich in diesem weiten großen Element gefallen; wie klein und armselig sind unsre bürgerlichen und politischen Verhältnisse dagegen." Er las regelmäßig den „Moniteur", das offizielle Blatt der jungen französischen Republik, fühlte sich durchaus als konventionell und feierte den Pariser Konvent als das große „Vernunftgericht" der Menschheit.

Selbst als die französische Republik deutsches Land eroberte und Schillers persönliche Interessen empfindlich verletzte, änderte sich seine Ansicht nicht. Da ihn der Herzog von Weimar verhungern ließ und Schiller gerade in dieser Zeit tatsächlich verhungert wäre, wenn ihn nicht einige dänische Adlige durch ein paar tausend Taler über Wasser gehalten hätten, so beruhten seine Hoffnungen für die Zukunft darauf, dass der Koadjutor v. Dalberg ihm eine Anstellung oder Pension versprochen hatte, sobald er (Dalberg) auf den erzbischöflichen Stuhl von Mainz gelangt sein werde. Nun wurde Mainz aber am 21. Oktober 1792 durch den französischen General Custine erobert, und das Gerücht gelangte nach Jena, die rheinischen Staaten könnten überhaupt dem Deutschen Reiche verlorengehen. Worauf Schiller jedoch kaltblütig antwortete: „Die mainzischen Aspekten werden sehr zweifelhaft für mich, aber in Gottes Namen. Wenn die Franzosen mich um meine Hoffnungen bringen, so kann es mir einfallen, mir bei den Franzosen selbst bessere zu schaffen." Es war dieselbe Gesinnung, aus der heraus Fichte zur selben Zeit schrieb: „Es ist nichts gewisser, als das Gewisseste, dass, wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Übermacht erringen und in Deutschland, wenigstens in einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird."

Schiller und Fichte! Fichte und Schiller! Das sind die großen Leuchten, die das deutsche Bürgertum heraussteckt, wenn es seine „freiheitliche" und „nationale" Gesinnung illuminieren will. Man sieht aber, wie recht Lassalle hatte, als er meinte, dass diese edle Klasse in ihrem heutigen Verfall ihre eigenen Vorkämpfer zerfleischen würde, wenn sie wirklich deren Werke gelesen hätte. Schiller jeden neuen Tag mit einem neuen Trompetenstoße verherrlichen und gleichzeitig die Arbeiterpresse schmähen, weil sie den Anfängen der russischen Revolution zujubelt – das ist wieder einmal ein Gipfel bürgerlicher Intelligenz und Moral.

Vielleicht findet sich aber ein weißer Rabe, der voll sittlicher Empörung krächzt: „Wie? Hat Schiller nicht die Französische Revolution verleugnet, als Ludwig XVI. guillotiniert wurde?" Soweit ist es ja aber in Russland noch nicht, und wenn es soweit kommt, so werden wir die Autorität Schillers der bürgerlichen Presse gern unbeschädigt zurückerstatten; Fichte behalten wir dann auch noch für uns. Einstweilen jedoch haben wir volles Recht zu der Feststellung, dass, wer die deutsche Arbeiterpresse schmäht, weil sie dem Erwachen des revolutionären Geistes in Russland zujubelt, den Namen Schillers nicht in den Mund nehmen darf, ohne ihn zu besudeln.

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