Franz Mehring 19050301 Ein Vorgeschmack zur Schillerfeier

Franz Mehring: Ein Vorgeschmack zur Schillerfeier

1. März 1905

[Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 737-740. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 290-294]

Wir wissen es alle: Zwischen den besitzenden und den arbeitenden Klassen klafft ein Abgrund, von dem man im Schillerjahr sagen kann:


Über diesen grauenvollen Schlund

Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,

Und kein Anker findet Grund.


Und dennoch: wenn einmal ein flüchtiger Blitz in diesen Abgrund fällt, so erstaunt man unwillkürlich, wie bodenlos er ist.

Nämlich – während der Anfang der russischen Revolution und der Riesenstreik im Ruhrgebiet das deutsche Proletariat in seinen tiefsten Tiefen aufregt, hat sich auch eine „mächtige Bewegung der Geister" in den deutschen „Kreisen von Besitz und Bildung" geregt. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die „Freiheit" in ihrer höchsten Potenz, um die „geistige Freiheit", um die „Freiheit der Wissenschaft", um die „akademische Freiheit", und es ist beinahe rührend zu sehen, wie die deutschen „Geisteshelden" auf ihren morschen Beinen und mit ihren wackelnden Zöpfen herbeieilen, um die „teuersten Überlieferungen der deutschen Kultur" zu retten.

Billig denkende Leute werden geneigt sein, solchem Spuk nicht jede Berechtigung abzusprechen, und wir möchten um alles in der Welt über die „Geisteshelden" der deutschen Bourgeoisie nicht unbillig urteilen. Es gab wirklich einen Anlass zu so gewaltiger Aufregung. Kam dieser Tage der neue König von Sachsen nach Leipzig, um seine getreue Seestadt und seine allergetreueste Landesuniversität zu begrüßen. Der Rektor empfing ihn mit dem landesüblichen Brimborium von der „Freiheit der Wissenschaft", die sich nur durch die erkannte Wahrheit „binden" lasse, und von der „akademischen Freiheit", durch die selbständige Charaktere erwüchsen. Das war eitel Heuchelei, aber es war vom bürgerlichen Standpunkt aus wenigstens konsequente Heuchelei. Jedoch der neue König, dem selbst seine devotesten „Untertanen" noch nicht die Huldigung dargebracht haben, die sie seinem Großvater darzubringen pflegten, dass er „ein Gelehrter unter den Königen und ein König unter den Gelehrten" sei, antwortete kurz angebunden wie Gretchen in „Faust": Ach was, meine Herren! „Ihre Aufgabe ist es, unsere Jugend nicht bloß wissenschaftlich zu bilden, sondern ihr die wahren Gefühle der Gottesfurcht, Pflichttreue, Hingabe und Treue für König und Vaterland, Kaiser und Reich einzuflößen. Ja, ich halte diese Seite der Tätigkeit von Hochschullehrern für die allerwichtigste." Und darüber braust nun „ein gewaltiger Sturm der Entrüstung durch alle deutschen Gauen", darüber -

Ach nein, lieber Leser, darüber weht auch nicht das leiseste Lüftchen durch die „Kreise von Besitz und Bildung". Wie der Rektor der Leipziger Universität, der ehedem ein gar mächtiger Herr war und selbst fürstliche Ehren genoss, die deutliche Abfertigung des Königs stockmäuschenstill einsteckte, so auch die „führenden Geister" Allteutschlands. Das fehlte gerade noch, sich in Unkosten zu stürzen, wenn eine offizielle Heuchelei von alleroffiziellster Stelle entlarvt wird. Nein, was die „gebildeten Kreise" erregt, ist ganz etwas anderes. Die Studierenden der technischen Hochschule in Hannover haben ein Verbot der konfessionellen Verbindungen verlangt, und weil die Regierung, bei ihren zärtlichen Beziehungen zum Zentrum, dadurch angeärgert worden ist und ihren tölpelhaften Polizeistock über die unreifen Knaben geschwungen hat, die nach dem tölpelhaften Polizeistock in ihrem „geistigen Kampfe" gegen die „Geistesknechtschaft" des Ultramontanismus schreien, deshalb braust der schon erwähnte „Sturm" durch die „deutschen Gauen". Ein Bürgertum, das all seine politischen Ideale längst auf dem Tandelmarkt vertrödelt hat, steht auf wie ein vorsintflutlicher Landsturm, um den mittelalterlichen Zopf der „akademischen Freiheit" zu verteidigen, und zwar weil diese „Freiheit" den Anspruch erhebt, sich über die gemeine Vereinsfreiheit hinwegzusetzen, die sogar in der preußischen Verfassung, wenigstens auf dem Papier, verbrieft ist.

Da der liebe Gott nicht immer nur mit den starken Bataillonen, sondern auch manchmal mit der gerechten Sache ist, so hat die „gerechte Empörung" sogar einen Sieg erfochten. Die „starke" Regierung hat vor der „akademischen Freiheit" kapituliert, und sogar Herr Althoff, der unbeschränkte Beherrscher der preußischen Universitäten, hat im preußischen Abgeordnetenhause so etwas wie Reu und Leid getan, freilich mit einem kaustischen Beigeschmack, der dem heimlichen Freunde ultramontaner Füchse nicht übel anstand, aber von den nationalliberalen Helden vorsichtigerweise als staatsmännischer Ernst genommen wurde. Indessen, wenn Herr Althoff sich über diese Helden mit einem gewissen Recht lustig machte, so bleibt es für die Regierung eine nicht geringere Blamage, dass sie unerschöpflich an Ausflüchten ist, wenn es die Beschwerden von Arbeitern auf die lange Bank zu schieben gilt, während sie vor einer korrupten Laune von Studenten, die zu willigen Handlangern der herrschenden Klassen zu werden versprechen, alsbald die Segel streicht. Und es ist am Ende auch nur um so schlimmer, wenn sie dabei denken mag:


Der Knecht singt gern ein Freiheitslied

Des Abends in der Schenke.


Man wird hoffentlich keinem vernünftigen Menschen einreden wollen, dass die rebellischen Studenten auch nur von einer Spur idealer Gesinnung beseelt sind, indem sie im Namen der „akademischen Freiheit" nach einem reaktionären Handstreich gegen ihre anders denkenden Kommilitonen riefen, auch wenn sie sich dabei noch so trutziglich gebärdeten, auch wenn sie nach mittelalterlicher Weise mit einem Auszug drohten und im teutschesten Bierbass brüllten:


Wer die Wahrheit denkt und bekennt sie frei,

Der kommt nach Berlin auf die Hausvogtei.


Als dies Lied gedichtet wurde, war „Sands Himmelfahrtswiese" ein nationaler Wallfahrtsort für die deutschen Studenten; die Wiese bei Mannheim, wo der Burschenschafter Sand hingerichtet wurde, weil er einen russischen Spion erdolcht hatte, der an den Zaren über die deutschen Universitäten berichtete. Heute stehen die deutschen Universitäten, und in erster Reihe die Berliner Universität, unter zarischer Polizeiaufsicht, und zwar durch die Begünstigung der deutschen Regierung, und solange die deutschen Studenten für diese beispiellose Schmach keine Empfindung zeigen, sollen sie uns gefälligst mit ihrem albernen Trödel von „akademischer Freiheit" vom Halse bleiben.

Das schönste ist jedoch, wenn bürgerliche Blätter den „Kampf" um diesen Trödel die „würdige Feier" des „Schillerjahres" nennen. Dass du die Nas' im Gesicht behältst! würde Onkel Bräsig in diesem Falle sagen. Aber der famose Trumpf ist ein netter Vorgeschmack des verblüffenden Humbugs, den die „Kreise von Besitz und Bildung" zum 9. Mai loszulassen sich anschicken. Nicht als ob wir Schiller nicht zum Schwurzeugen annehmen möchten! Im Gegenteil! Als im Jahre 1792 in Jena auch ein Kampf um die „akademische Freiheit" entbrannte – nur entfernt nicht aus so ruppigem Anlass wie diesmal –, schrieb Schiller an seinen Freund Körner: „Wenn ich Dir von den hiesigen Unruhen nichts schreibe, so rührt es daher, dass sie gar zu erbärmlich sind und von beiden Seiten die höchste Mittelmäßigkeit sich dabei kundgetan hat." Man kann nicht treffender über den gegenwärtigen Kampf um die „akademische Freiheit" urteilen.

Im allgemeinen ist aber zu sagen, dass die bürgerliche Aufklärung, solange sie ein historischer Fortschritt und eine historische Macht war, den Universitäten ungefähr so gegenüberstand wie heute die Arbeiterklasse – mit einziger Ausnahme der deutschen Philosophen, die, als sie ihre vernünftigen Gedanken nur noch in einer unvernünftigen Sprache ausdrücken konnten, das akademische Katheder für den richtigen Resonanzboden dieser Sprache hielten. Voltaire meinte, noch nie sei der geistige und wissenschaftliche Fortschritt von Universitäten ausgegangen, und Lessing war durch keine Teufelsgewalt zum „Professorieren" zu zwingen, obgleich er sogar an der Moskauer Universität Professor werden konnte, was heute jeder echte teutsche Patriot nicht ohne Tränen innigster Rührung annehmen würde.

Schiller ist allerdings, zwar nicht durch Teufels, aber durch Hungers Gewalt, einige Jahre zum „Professorieren" gezwungen worden. Es war eine Tragikomödie eigener Art in seinem Leben. Die durchlauchtigsten Nutritoren der Universität Jena – ein halb Dutzend Herzöge in der thüringischen Gegend – beriefen ihn unter der vorsorglichen Bedingung, dass er von ihnen keinen Pfennig Gehalt beanspruchen dürfe, und betrachteten selbst den armen Teufel als willkommenes Ausbeutungsobjekt. „Diese Professur", schrieb Schiller am 17. Januar 1789 an Körner, „soll der Teufel holen: sie zieht mir einen Louisdor nach dem anderen aus der Tasche. Die Geheimen Kanzleien von Gotha und Coburg haben sich bereits mit Kontos für Expeditionsgebühren eingestellt, und mit jedem Posttage drohen mir noch zwei andere von Meiningen und Hildburghausen. Jede kommt mich auf 5 Taler und die gothaische auf 6 zu stehen. Der Magisterquark soll auch über 30 Taler und die Einführung auf der Universität ihrer 6 kosten. Da hab' ich nun schon eine Summe von 60 Talern erlegt, ohne was anderes als Papier dafür zu haben." Und als die Schraube immer fester gezogen wurde, schrieb Schiller am 9. März an Körner: „Könntest Du mir innerhalb eines Jahres eine Frau von 12.000 Talern verschaffen, mit der ich leben, an die ich mich attachieren könnte, so wollte ich Dir in fünf Jahren eine Frideriziade, eine klassische Tragödie und, weil Du doch so darauf versessen bist, ein halb Dutzend schöner Oden liefern, und die Akademie in Jena möchte mich dann —."

Sicherlich, wenn Schiller heute noch lebte, so würde er auch dem Fortschritt unserer glorreichen Zeit huldigen, und zwar so, dass er die höfliche Einladung, die er an die Universität Jena nur in Gedankenstrichen richtete, in kernigem Deutsch an die bürgerlichen „Geisteshelden" richten würde, die in dem gegenwärtigen „Kampf um die akademische Freiheit" eine „würdige Feier" des „Schillerjahres" erblicken.

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