Franz Mehring 19110127 Eine Schiller-Ausgabe

Franz Mehring: Eine Schiller-Ausgabe

27. Januar 1911

[Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 611-614. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 302-306]

Eine Ausgabe von Schillers Werken, die der Verlag des „Vorwärts" vor einigen Monaten veranstaltet hat, mit einer von mir verfassten Einleitung1, ist im Feuilleton des „Vorwärts" durch Kurt Eisner einer vernichtenden Kritik unterzogen worden. Da diese Kritik von vollkommen irrigen Voraussetzungen ausging, so glaubte ich mich mit dem Verfasser durch eine in parteigenössisch-sachlichem Tone gehaltene Erwiderung verständigen zu können, fand damit aber weder bei ihm noch beim Feuilleton des „Vorwärts" irgendwelche Gegenliebe; ich wurde vielmehr mit einigen in hochfahrendem Tone gehaltenen Zeilen abgefertigt.2 Mich nochmals an das Feuilleton des „Vorwärts" zu wenden hatte danach keinen Zweck, zumal da es sich neuerdings weniger mit ästhetischer Kritik als mit künstlerischer Produktion befasst und hierin, wie ich gern anerkenne, wirklich etwas leistet; indem es einerseits durch Heinz Sperber die Sophokles, Shakespeare, Goethe zum alten Eisen werfen, andererseits durch Kurt Eisner die ausgefallensten Marotten alexandrinischer Literatenkritik verfechten lässt, so steht es freilich mit beiden Füßen zugleich auf den entgegengesetzten Gipfeln ästhetischen Überschwanges, reproduziert aber eben dadurch in ganz vortrefflicher Weise den Koloss von Rhodos, der zu den sieben Weltwundern der antiken Kunst gehörte.

Somit bleibt mir nur übrig, das, was sich von allgemeinem Interesse an die Schiller-Ausgabe des Vorwärts-Verlags knüpft, an dieser Stelle auszuführen. Zunächst hat sie irgendwelche literarische Ansprüche in keiner Weise erhoben, am allerwenigsten den Anspruch, eine Ausgabe Schillers von Partei wegen zu sein. Ich selbst habe früher den Gedanken einer Klassikerbibliothek für Arbeiter lebhaft vertreten und vor zwei Jahren, als weder Kurt Eisner noch die sonstigen ästhetischen Zionswächter der Partei daran dachten, eine Diskussion darüber im Feuilleton der „Neuen Zeit" angeregt3, bin aber damals durch sachkundige Genossen überzeugt worden, dass sich die Sache nicht durchführen lässt, ohne dringendere und wichtigere Aufgaben der Partei zu gefährden. Im wesentlichen werden die Arbeiter auf die billigen Ausgaben der Klassiker angewiesen bleiben, die in bürgerlichen Verlagen erschienen sind, und ich bin der letzte, zu bestreiten, dass sich hierunter Leistungen befinden, die alles Lob verdienen; speziell die Klassikerausgaben des Bongschen Verlags, und ganz besonders auch die Schiller-Ausgabe dieses Verlags habe ich im Feuilleton der „Neuen Zeit" mit lebhafter Anerkennung angezeigt.4

Dennoch haben alle diese bürgerlichen Ausgaben der Klassiker einen großen Mangel: nämlich die biographischen Einleitungen der Herausgeber, die alle vom patriotischen Oberlehrer- oder Privatdozentenstandpunkt aus verfasst sind und das historische Wesen der Klassiker in einem Lichte zeigen, das die Leser aus der Arbeiterklasse durchaus irreführen muss. Bei keinem der deutschen Klassiker ist dieser Mangel aber so empfindlich wie bei Schiller. Man könnte vielleicht Lessing ausnehmen, dessen Borussifizierung zum Allerheiligsten der bürgerlichen Literarhistorie gehört, jedoch wenn die Kastrierung Lessings wohl noch eifriger und gröblicher betrieben wird als die Kastrierung Schillers, so wirkt sie doch nicht so gemeinschädlich wie der Unfug, der mit dem – gefälschten oder missverstandenen – „Idealismus" Schillers getrieben wird. Wie sehr dieses Gespenst die deutsche Bourgeoisie schon in ihren kräftigeren Jugendtagen genarrt hat, ist aus der deutschen Geschichte hinlänglich bekannt, namentlich aus den Vortagen der Märzrevolution, woraus sich denn auch die unverkennbare Abneigung erklärt, die Marx und Engels gegen Schiller verraten, wo immer sie auf ihn zu sprechen kommen.

Unter diesen Umständen glaubte ich den Vorschlag, den mir der Verlag des „Vorwärts" machte, eine historisch orientierende Einleitung zu einer von ihm beabsichtigten Schiller-Ausgabe zu schreiben, nicht von der Hand weisen zu sollen. Weshalb Genosse Bruns gerade mir den Vorschlag machte, weiß ich nicht. Vielleicht ist er durch das überschwängliche Lob, das eine ästhetische Autorität von der Bedeutung des Genossen Morgenstern in Leipzig meinem Büchlein über Schiller gespendet hat, vor die unrechte Schmiede geleitet war. Vielleicht wollte er aber auch dadurch, dass er mich wählte, nur bekunden, dass er keine Schiller-Ausgabe von der epochemachenden Bedeutung zu veranstalten beabsichtige, wie sie, wenn er sich an die ästhetischen Autoritäten der Partei gewandt hätte, von diesen zu erwarten gewesen wäre. Der Verlag des „Vorwärts" ging von rein praktischen Gesichtspunkten aus; er meinte, dass in weiten Arbeiterkreisen ein lebhaftes Bedürfnis nach einer Schiller-Ausgabe vorhanden sei, die einen reinen Text des Dichters böte, mit einer vom historisch-materialistischen Standpunkt geschriebenen Einleitung und zu einem noch billigeren Preise, als die bürgerlichen Schiller-Ausgaben notieren. Und der Erfolg hat diese Ansicht als richtig bestätigt.

Selbstverständlich musste davon abgesehen werden, in dieser Ausgabe alles zusammenzufassen, was Schiller je veröffentlicht hat. Er hat nur allzu viel, ohne Antrieb des Genius, für Zwecke des Broterwerbs schreiben müssen; anderes wieder hat eine mehr oder minder große biographische, aber keine künstlerische Bedeutung und ist ohne einen schwerfälligen Apparat von gelehrten Anmerkungen nicht verständlich. Meine ursprüngliche Absicht war sogar, die Ausgabe auf Schillers Gedichte, Dramen und Erzählungen zu beschränken, doch musste ich mir sagen, dass wenigstens seine ästhetischen und historischen Hauptschriften mit hineingehörten, da sich nur aus ihnen die Umwandlung des „revolutionären" in den „idealistischen" Dichter erklären lässt, zumal da ästhetische Autoritäten der Partei bei der Jahrhundertfeier von Schillers Tod jene Umwandlung aus der „höfischen Assimilation" des Dichters und ähnlichen „historisch-materialistischen" Gründen erläutert hatten5 Im Übrigen habe ich mich nur um einen korrekten Text bekümmert, und in dieser Beziehung hat ja Kurt Eisner auch keine Ausstellungen gemacht.

Ob es ratsam ist, dass ein Parteiverlag eine Schiller-Ausgabe von so bescheidenen Ansprüchen veranstaltet, das ist gewiss eine Frage, über die sich streiten lässt, und wenn Parteigenossen, die sich mit dem Problem, wie die bürgerlichen Klassiker den Arbeitern zugänglich zu machen seien, je ernsthaft beschäftigt haben, sie verneinen sollten, so lasse ich mich gern eines Besseren belehren. Sicherlich gibt es in der Sache ein Für und ein Wider, und wenn mir die bejahenden Gründe zu überwiegen schienen, so verkenne ich deshalb nicht das Gewicht der verneinenden Gründe. Ich beanspruche nur eine sachliche Kritik und wehre mich nur gegen ein ästhetisches Gerede ins Blaue hinein, wie es Kurt Eisner in seinen Artikeln verübt. Er entwirft das Idealbild einer Schiller-Ausgabe, wie sie nach seiner Ansicht von Partei wegen veranstaltet werden müsste, und indem er daran die Schiller-Ausgabe misst, die der Verlag des „Vorwärts" veranstaltet hat, kommt er zu seinem vernichtenden Urteil.

Nun hat das Idealbild Eisners freilich eine tröstliche Seite. Die bloße Möglichkeit, dass es jemals verwirklicht werden könnte, beschwichtigt gewiss meinen Kummer darüber, dass Klassikerausgaben von Partei wegen überhaupt unmöglich sind. Eisner missachtet völlig das gute Recht des Dichters, seine Werke in der Form, die er ihnen in der Fülle und Reife seiner Kraft gegeben hat, der Nachwelt zu hinterlassen; er will aus den Papierkörben des Dichters einen – Notabene nach Eisners Ansicht –„revolutionären" Schiller zurechtflicken und diese Puppe dann noch nach einer höchst privaten Melodie am Faden der Kantischen Philosophie tanzen lassen. Wenn Karl Marx einmal „die Schillersche Flucht ins Kantische Ideal" einfach auf „die Vertauschung der platten mit der überschwänglichen Misere" reduzierte6, so war das sicherlich ein viel zu schroffes und wesentlich ungerechtes Urteil, aber Eisners Orakel über Kants Kritizismus sind schon, ehe es einen Eisner oder auch nur einen kritischen Kant gab, von Sterne vorausgeahnt, als er im „Tristram Shandy" sagte: Of all the cants which are canted in this canting world the cant of criticism is the most tormenting. Was, wenn man cant höflich genug mit Kauderwelsch übersetzt, im Deutschen heißen würde: Von allem Kauderwelsch, das in dieser kauderwelschen Welt gewelscht wird, ist das Kauderwelsch des Kritizismus das quälendste. Genug, das Idealbild von Schiller-Ausgabe, das Eisner im Feuilleton des „Vorwärts" entworfen hat, mag für einen engen Kreis von Literaten interessant genug sein, auf einen für Arbeitermassen bestimmten Schiller ist es die reine Karikatur.

Allein wenn dem auch nicht so wäre, so wäre es immer noch eine offenbare Unbilligkeit, die Schiller-Ausgabe des Vorwärts-Verlags an einem Ideal zu messen, dem nachzustreben ihr niemals eingefallen ist. Sie will nur in den beiden Punkten, die ich angegeben habe, den Arbeitern die Werke Schillers verständlicher und zugänglicher machen, als sie ihnen durch die bürgerlichen Klassikerausgaben verständlich und zugänglich sind. Hierauf geht Eisner nun insoweit freilich ein, als er zunächst behauptete, die Bongsche Schiller-Ausgabe sei ebenso billig wie die Schiller-Ausgabe des Vorwärts-Verlags; da jene nun aber 6, diese dagegen 3,50 Mark kostet, so musste er vor Adam Ries weichen. In der hochfahrenden Notiz, durch die er mich endgültig abfertigte, zog er sich dann darauf zurück, dass der „schöne Band des Marbacher Schillervereins, der alle Dramen und Gedichte enthalte", nur 1 Mark koste. Das stimmt, aber dieser Band enthält – bis auf ein paar kahle Notizen – überhaupt keine historische Einleitung und ebenso wenig etwas von Schillers Erzählungen oder seinen ästhetischen und historischen Schriften. Nun sind meine kaufmännischen Talente zu gering, um mir ein maßgebendes Urteil darüber zu erlauben, ob die Preise beider Ausgaben in richtigem Verhältnis zueinander stehen. Und wenn Eisner sagen sollte: Der billigere Schund ist immerhin dem teureren Schund vorzuziehen, so würde ich gegen diese Logik nichts einwenden. Aber – so wirft man mir vielleicht ein – die Marbacher Ausgabe ist ja nach Eisners Zeugnis „schön" und die Vorwärts-Ausgabe „betrüblich" und „übel". In der Tat! Beide Ausgaben stimmen nämlich, soweit es auf den Text der Gedichte und Dramen ankommt, Wort für Wort überein; alle Versündigungen, die Eisner der Vorwärts-Ausgabe an den Gedichten und Dramen vorwirft, treffen Punkt für Punkt auf die Marbacher Ausgabe zu; erfreulicherweise vertritt der Schwäbische Schillerverein, ebenso wie der Verlag des „Vorwärts", den einzig vernünftigen Standpunkt, dass eine Verbreitung von Schillers Werken in den Massen sich an den Text des reifen Dichters zu halten hat und sich nicht aus Schillers Papierkörben „einen freien und wahren Volksschiller" zurechtflicken darf. Wenn jedoch Eisner die Marbacher Ausgabe den Arbeitern als „schön" empfiehlt, die Vorwärts-Ausgabe ihnen aber als „betrüblich" und „übel" denunziert, so glaube ich viel höflicher als gerecht zu urteilen, wenn ich diese Art Kritik ein ästhetisches Gerede ins Blaue hinein nenne.

Schließlich pocht Eisner darauf, dass seine Vermöbelung der Vorwärts-Ausgabe „bereits allgemeine Geltung erlangt" habe. Es freut mich, diese Behauptung bestätigen zu können, wenn auch nur insoweit, als sich die „Allgemeinheit" auf die ästhetischen Zionswächter in der Partei erstreckt. Solange sich jedoch aus deren Kreisen, noch nie ein Wort des Protestes erhoben hat gegen das unglaubliche Zeug, das aus manchem ästhetischen Hauptquartier, beispielsweise der Parteibuchhandlung an der Pleiße, in Parteikreisen verbreitet wird, lässt es mich kalt, ob die „Allgemeinheit" von der lieben Gewohnheit, Kamele zu schlucken, einmal abweicht, um Mücken zu seihen. Ist die Schiller-Ausgabe des Vorwärts-Verlags ein Missgriff gewesen, so will ich mich gern durch jeden Parteigenossen, dem die Frage der Arbeiterbildung eine ernste Sache ist, ohne jede Rechthaberei bekehren und belehren lassen; durch ästhetische Bluffs lasse ich mich aber aus alter Gewohnheit lieber nicht verblüffen.

1 Schillers Werke in 10 Bänden. Mit einer Biographischen Einleitung von Franz Mehring, Berlin (1910), Buchhandlung Vorwärts. Die biographische Einleitung Mehrings, die inhaltlich durchaus der Broschüre „Schiller. Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter" folgt, wurde in die „Gesammelten Schriften" nicht aufgenommen.

2 Siehe dazu Kurt Eisner: Der „Vorwärts"-Schiller. In: Vorwärts, 29. Dezember 1910. Eisner beschwert sich dort insbesondere darüber, dass Mehring keine Ausgabe geschaffen habe, die den „revolutionären Schiller" würdige. Mehring antwortete im „Vorwärts" vom 3. Januar 1911. Eisners Erwiderung darauf findet sich in der gleichen Nummer.

3 Mehring spielt auf seinen Artikel „Eine Klassikerbibliothek für Arbeiter" an. (In: Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Zweiter Band, S. 40-44.) Der Artikel erschien als Diskussionsmaterial des Bildungsausschusses der SPD. Mehring griff darin eine Anregung Clara Zetkins auf. Er entwickelte ein ganzes Programm für die Herausgabe einer solchen Klassikerbibliothek.

4 Siehe den Artikel „Die Schiller-Ausgabe von Artur Kutscher".

5 Mehring spielt hier auf den 1905 erschienenen Artikel Kurt Eisners „Über Schillers Idealismus" an. Eisner erklärt das Schaffen Schillers nicht aus den gesellschaftlichen Bedingungen des damaligen Deutschlands, sondern vorwiegend ideengeschichtlich, vermischt mit vulgär-materialistischen Zügen. Er schrieb unter anderem, Schillers Lossage von der Französischen Revolution sei daraus zu erklären, dass er „dem Bann der Höfe verfiel". „Die höfische Akklimatisation hatte ihr Opfer gewonnen." (In: Kurt Eisner: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Berlin 1919, S. 226.)

6 Tatsächlich stammte der zitierte Artikel von Engels.

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