Franz Mehring 19090625 Goethe am Scheidewege

Franz Mehring: Goethe am Scheidewege

25. Juni 1909

[Die Neue Zeit, 27. Jg. 1908/09, Zweiter Band, S. 425-432. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 74-83]

Goethes Briefe an Charlotte v. Stein. Herausgegeben von Jonas Frankel. Kritische Gesamtausgabe. Erster Band (1771 bis 1781). Mit einem Porträt, einem Faksimile und zwölf Handzeichnungen von Goethe. 443 Seiten. Zweiter Band (1782 bis 1786). Mit zwei Handzeichnungen von Goethe. 410 Seiten. Dritter Band (1786 bis 1789) mit dem Briefwechsel aus den Jahren 1794 bis 1826. Mit einem Faksimile, zwölf Handzeichnungen von Goethe und zwei Bildern von Tischbein. 477 Seiten. Jena 1908, verlegt bei Eugen Diederichs.

Als Goethe die Briefe Winckelmanns an Berendis herausgab, schrieb er: „Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann. Lebhafte Personen stellen sich schon bei ihren Selbstgesprächen manchmal einen abwesenden Freund als gegenwärtig vor, dem sie ihre innersten Gesinnungen mitteilen, und so ist auch der Brief eine Art von Selbstgespräch. Denn oft wird ein Freund, an den man schreibt, mehr der Anlass als der Gegenstand des Briefes. Was uns freut oder schmerzt, drückt oder beschäftigt, löst sich von dem Herzen los, und als dauernde Spuren eines Daseins, eines Zustandes sind solche Blätter für die Nachwelt immer wichtiger, je mehr dem Schreibenden nur der Augenblick vorschwebte, je weniger ihm eine Folgezeit in den Sinn kam. Die Winckelmannschen Briefe haben manchmal diesen wünschenswerten Charakter."

Auch die Briefe Goethes, wie sie in schier unabsehbarer Fülle vorliegen, haben nur manchmal diesen wünschenswerten Charakter. Sehen wir selbst von seiner Spätzeit mit ihrem umständlichen Geheimratsstil ab, so sind schon die Briefe Goethes an Schiller sehr stilisiert; was man sonst immer an ihnen rühmen mag, mit Recht oder auch mit Unrecht, so spürt man in jeder Zeile eine gewisse Zurückhaltung, die den Schreiber eben nicht sagen lässt, was ihn freut oder schmerzt, was seine innersten Gesinnungen sind. Dagegen bestehen die Briefe Goethes an Charlotte v. Stein in höchstem Grade die Probe, „eine Art von Selbstgesprächen" zu sein. Versteht sich, die Briefe aus den zwölf Jahren, wo ein vertrautes Verhältnis zwischen beiden bestand. Die Briefe Goethes aus der späteren Zeit, wo der Bruch wieder äußerlich eingerenkt war, sind bedeutungslos, und Herr Frankel hätte seine sonst vortreffliche Ausgabe nicht damit beschweren sollen. Was die Empfängerin von einem dieser Briefe sagt, gilt von ihnen allen, wie überhaupt von so vielen Briefen Goethes aus dieser Zeit, es sei, als ob „ein Herr mit Degen und Orden im Hofkleid" spräche.

Sind nun die Briefe Goethes an Charlotte v. Stein aus den Jahren 1776 bis 1788 eine „Art von Selbstgesprächen" des Dichters, so wird ihr Wert auch dadurch nicht geschmälert, dass die Antworten fehlen. Charlotte v. Stein hat sie sich, als sie mit Goethe brach, von ihm zurückerbeten und vernichtet, während sie seine Briefe sorgfältig hütete und ihren Erben hinterließ, die sie als geschäftskundige Leute für 70.000 Mark an das Goethe- und Schillerarchiv in Weimar losgeschlagen haben. Vorher waren sie jedoch schon in den Jahren 1848 bis 1851 von Schöll veröffentlicht und seitdem verschiedentlich neu aufgelegt sowie von den bürgerlichen Literarhistorikern bis aufs Tüpfelchen über dem i ausgebeutet und ausgedeutet worden, freilich in entgegengesetztem Sinne, als Goethe solche Briefe gelesen wissen wollte. Statt sich an den „Gegenstand" der Briefe zu halten, nämlich an das „Selbstgespräch", das Goethe darin mit sich führt, hefteten sie sich an ihren „Anlass", an Goethes Liebe für Charlotte v. Stein.

Da waren denn die Goethepfaffen und Goethephilister so recht in ihrem Element. Gegenüber den Geliebten Goethes spielen sie die Keuschheitskommissare und schnüffeln an ihnen herum, ob Friederike Brion von Goethe oder gar von einem anderen ein Kind gehabt oder ob Charlotte v. Stein, die, als Goethe sie kennenlernte, schon seit zehn Jahren verheiratet war und sieben Kinder geboren hatte, nun ihren ehelichen Pflichten untreu geworden sei, um Goethe zu beglücken. Einer dieser Käuze – irren wir nicht, war es Düntzer – hat für das ganze Jahrzehnt, um das es sich handelt, Tag für Tag nachgerechnet, dass Goethe und Charlotte keine Gelegenheit gehabt hätten, über den Strang zu schlagen, und so weist er der tugendhaften Frau „eine der ersten Stellen im Herzen des deutschen Volkes" an. Natürlich geht es weit über den Horizont solcher Spießbürger, einzusehen, dass, wenn sie ihren Tugendpreis mit Recht an Charlotte v. Stein verteilen sollten, die alternde und unschöne Frau, die sich zehn Jahre lang und länger von einem genialen Feuerkopf anschwärmen lässt, ohne ihm den gebührenden Minnesold zu gewähren, viel eher im Lichte einer berechnenden Kokette als einer unantastbaren Madonna erscheinen würde. Und da die untertänige Gesinnung der Grundton aller Philister ist, so geben sie selbst ihrem Götzen Goethe einen leisen Klaps, indem sie über das tragische Schicksal jammern, dass die „Frau Baronin", die „zartfühlende, hochgebildete, enthusiastisch liebende Freifrau", in Goethes Herzen durch ein „rohes Fabrikmädchen" verdrängt worden sei.

Gerade in diesem Punkte aber hat sich die „blöde Dummheit", die schon Gottfried Keller den „Muckern des Goethekultus" bescheinigte, so sehr überschlagen, dass selbst in der bürgerlichen Literaturgeschichte eine gewisse Reaktion dagegen sich geltend macht. Namentlich seitdem die Briefe von Goethes Mutter veröffentlicht worden sind, war das Geschwätz von dem „rohen Fabrikmädchen" nicht mehr aufrechtzuerhalten, und wenn so etwas wie Tragik in dem Schicksal Charlotte v. Steins liegen sollte, so ist es in der Tatsache enthalten, dass ihr strahlender Ruhm in dem Maße ins Wanken geraten ist, je mehr sich der jämmerliche Klatsch, den sie und ihre Freundin Charlotte Schiller über Goethes Gattin verbreitet haben, als nichtig enthüllt hat. Dadurch wurden die ersten Zweifel an ihrer Gottähnlichkeit geweckt, und sie wuchsen so schnell an, dass Herr Eduard Engel, der noch vor wenigen Jahren in seiner Literaturgeschichte das herkömmliche Idealbild der Frau v. Stein entwarf, nunmehr den Spieß einfach umkehrt, indem er in Aufsätzen und Vorträgen erklärt: Ja freilich hat Goethe vergebens geschmachtet, aber die unbezwingliche Sehnsucht – um in zarter Umschreibung anzudeuten, was sich durch ein volkstümliches Wort derber und deutlicher sagen ließe – schlug ihm aufs Gehirn, und er rannte wie toll einem Weibe nach, das immer am Staube klebte, allem Geistigen und Hohen wildfremd war, Kotzebue mehr bewunderte als Goethe, am Klatschen, Lügen und Verleumden eine nimmersatte Freude hatte.

Diese Reaktion ist bis zu einem gewissen Grade begreiflich, und es ist auch nicht zu bestreiten, dass Engel nicht so einfach ins Blaue hinein schwatzt, sondern eine ganze Reihe urkundlicher Beweise für seine geringe Einschätzung Charlottens beizubringen weiß. Auch ist es keineswegs durchschlagend, wenn der „Kunstwart" meint, durch solche Beweise lasse sich nicht das Wesen eines Menschen erkennen; selbst bei Lebenden brauche ein Psychiater Monate täglicher Beobachtung, um mit einiger Sicherheit zu wissen, wie es um sie stehe. Mit dieser Argumentation wäre das Wesen aller verstorbenen Menschen, soweit sie nicht monatelang in einem Sanatorium beobachtet worden sind, für ein unlösbares Rätsel erklärt. Aber den Nagel auf den Kopf trifft der „Kunstwart" mit den Worten: „Welches irgend wesentliche Interesse gebietet, an der Leiche der Toten herum zu sezieren, die denselben Namen mit jener Frau trug, die in Goethes Leben lebte? Den Freund der Dichtung geht sie nur etwas an, wie sie sich in Goethes Augen spiegelte." Den Freund der Dichtung und ebenso den historischen Forscher, den die Frage, weshalb Hans seine Grete oder Grete ihren Hans liebt, nicht berührt, wenn er nicht in den Sumpf sehr unhistorischen Klatsches geraten will. In so höchst persönlichen Dingen, wie der Liebe zwischen Mann und Weib, müssen wir uns im konkreten Falle als mit einer Tatsache abfinden, an der nichts weiter zu deuteln ist; wir können nicht wissen, aber wir brauchen auch nicht zu wissen, weshalb Goethe so lange Jahre in den Banden der Frau v. Stein gelegen hat, in die sich Herr Eduard Engel, wäre er ihr Zeitgenosse gewesen, als verständiger Mann sicher nicht verliebt haben würde, wofür er uns denn freilich auch noch eine Iphigenie und einen Tasso schuldig geblieben ist.

Sein Standpunkt ist am Ende nur der entgegengesetzte Pol desselben Unfugs, den die Goethepedanten treiben. Sosehr die Liebe zwischen den Geschlechtern der obligatorische Drehzapfen aller Poesie ist, sowenig dreht sich die Geschichte um sie; um das Kind, das Faust seiner Grete macht, bewegt sich eine gewaltige Tragödie; aber das Kind, das Goethe seiner Friederike gemacht haben soll, geht die Literaturgeschichte auch dann nichts an, wenn er es ihr wirklich gemacht hätte. Man sagt vielleicht, gerade weil die Liebesleidenschaft eine so große Rolle in der Kunst spiele, so müsse sie doch auch im Leben des Künstlers eine große Rolle spielen, wofür ja gerade Goethes Leben vorbildlich sei. Aber das ist eben nur insoweit richtig, als sich die Leidenschaft des Künstlers in seiner Kunst spiegelt. Gewiss gehört Charlotte v. Stein ins Leben Goethes, aber nur soweit sie zu seiner Kunst gehört. Es geht uns sehr viel an, dass sie ihm zu seiner Iphigenie und Leonore gesessen hat, aber es geht uns gar nichts an, ob sie wirklich eine Iphigenie oder Leonore gewesen ist. Ebenso interessieren uns seine Briefe an sie, weil sich sein Wesen in diesen Briefen widerspiegelt, aber ob Charlotte v. Stein würdig gewesen ist, sie zu empfangen, das braucht uns nicht zu kümmern.

Erfreulicherweise vertritt der neueste Herausgeber dieser Briefe dieselbe Auffassung. Mit wenigen Sätzen schiebt er all das Brimborium für und gegen Charlotte v. Stein beiseite; er nennt es kleinlich und ungerecht, neben dem idealen Bild, das von dieser Frau in der Seele des liebenden Dichters gelebt habe, das andere Bild zu erwecken, wie es sich dem kalten Blicke auf Grund sonstiger Zeugnisse darstelle. Aber nicht nur insoweit liest er Goethes Briefe mit Goethes Augen, sondern auch, indem er sie als Selbstgespräche Goethes auffasst, in denen sich die Entwicklung des Dichters in dem ersten Weimarer Jahrzehnt beinahe von Tag zu Tag verfolgen lässt. „Nur unter diesem Gesichtspunkt hat die Mitteilung der vielen, oft scheinbar nichtssagenden Billetts einen Sinn." Allein diese Briefe geben nur demjenigen ein sichtbar umrissenes Bild, der die unzähligen Reflexe, die das im Vordergrund sich bewegende Paar umspielen, mit den Lichtquellen verbinden kann, denen sie entspringen. Es war nötig, den Hintergrund der Bühne stets zu beleuchten, aber auch die Vorgänge hinter und zwischen den Kulissen dem Gesichtsfeld nahe zu rücken. So begleitet Herr Frankel die Briefe mit ausführlichen Anmerkungen und einem sachlichen Kommentar, wobei er nach Möglichkeit die Personen selbst reden lässt, aber von „Düntzers Weimarer Klatschbüchern" und ähnlichem Zeug absieht. Er kann sich an „philologischer Akribie" und „gelehrtem Apparat" mit den Goethepedanten reichlich messen, während er doch, im Unterschied von ihnen, einen sehr wertvollen Beitrag zum Verständnis Goethes und mittelbar auch zum Verständnis unserer klassischen Literatur liefert.

Eine eingehende Kritik der drei umfangreichen Bände, die übrigens von der Verlagshandlung sehr gediegen ausgestattet sind, müssen wir uns an dieser Stelle schon aus räumlichen Rücksichten versagen; nur über ihr wesentliches Ergebnis fügen wir noch einige Bemerkungen hinzu. Es besteht darin, dass die ersten zehn Jahre Goethes in Weimar ein „leidenschaftliches Ringen um die Welt der Wirklichkeiten" gewesen sind, dass der Trieb nach politischer Emanzipation in ihm auch lebendig war, wie in Lessing und Schiller, und dass die einseitig ästhetische Kultur, mit der sich unsere Klassiker bescheiden mussten, nicht die Vollendung, sondern eine Verkümmerung dieser großen Menschen war.

Für die Einseitigkeit der ästhetischen Kultur hatte schon der Jüngling Goethe einen scharfen Blick. Ehe er noch nach Weimar kam, schrieb er in der Rezension eines Wielandschen Romans: „Die marmornen Nymphen, die Blumen, die Vasen, die buntgestickte Leinwand auf den Tischen dieses Völkchens, welchen hohen Grad der Verfeinerung setzen sie nicht voraus? Welche Ungleichheit der Stände, welchen Mangel, wo so viel Genuss; welche Armut, wo so viel Eigentum ist." Mosers „Patriotische Phantasien" erwecken dann in seiner Seele hunderterlei Wünsche, Hoffnungen, Entwürfe, die er zu verwirklichen trachtet, als er mit dem Herzog von Weimar bekannt und von diesem nach Weimar eingeladen wird. Die Herzogtümer Weimar und Eisenach sind ihm „immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte" stünde. Nachdem er den Hof probiert hat, will er nun auch „das Regiment probieren", und in der Tat ist er schon nach einem halben Jahre Minister. „Es ist ein wunderbar Ding ums Regiment dieser Welt, so einen politisch moralischen Grindkopf nur halbwegs zu säubern und in Ordnung zu halten", gesteht er nach dem ersten Einblick in die Staatsmaschine.

Aber er macht sich unverdrossen ans Werk. Um das Ilmenauer Bergwerk wiederherzustellen, greift er das Studium der Geologie an; um auf der Zeichenakademie den Schülern die Anatomie des Menschen vorzutragen, beginnt er selbst eifrig vergleichende Anatomie zu treiben; ebenfalls aus praktischen Gründen verlegt er sich auf botanische Studien. Er beschäftigt sich mit dem Feldbau und den Problemen der Wiesenbewässerung. Er ist bei allen Kalamitäten zur Stelle, und während er sich in einem fernen Dorfe bei einem Brande an den Löscharbeiten beteiligt und sich die Augenbrauen versengt, entwirft er Ideen über eine zweckentsprechende Feuerordnung und führt sie im ganzen Ländchen ein. Er ordnet das vernachlässigte Steuerwesen, bekämpft die militärische Liebhaberei und die unmäßige Jagdlust des Herzogs, nicht minder den Aufwand des Hofes, der das Volk aussaugt. Er spricht offen von der „Verdammnis, dass wir des Landes Mark verzehren". Vor allem sorgt er um die unglückliche Lage des Landmanns. „Wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrierten Saft aus den Leibern. Und so geht's weiter, und wir haben's so weit gebracht, dass oben immer an einem Tage mehr verzehrt wird als unten in einem beigebracht werden kann." Zu den sozialen Reformplänen, mit denen Goethe sich trug, gehörte namentlich auch die Abschaffung der Zehnten. Und in alledem fühlt sich Goethe so glücklich, dass er gegen Ende 1778 in sein Tagebuch schreibt: „Der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens. Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit, die schönste der Gaben wird ihm ekel."

Aber sehr bald stößt Goethe auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Bereits im Jahre 1779 klagt er: „Das Elend wird mir nach und nach so prosaisch wie ein Kaminfeuer. Aber ich lasse doch nicht ab von meinen Gedanken und ringe mit dem unerkannten Engel, sollt' ich mir die Hüfte ausrenken. Es weiß kein Mensch, was ich tue und mit wie viel Feinden ich kämpfe, um das wenige hervorzubringen." Alle seine Bemühungen, aus dem Herzog von Weimar einen Kulturmenschen zu machen, sind zum Scheitern verurteilt; nach mehrjähriger Erziehungsarbeit muss er bekennen: „Der Herzog hat doch im Grunde eine enge Vorstellungsart, und was er Kühnes unternimmt, ist nur im Taumel; einen langen Plan durchzusetzen, der in seiner Länge und Breite verwegen wäre, fehlt es ihm an Folge der Ideen und an wahrer Standhaftigkeit." Und noch bitterer schreibt er am 10. März 1781 an Charlotte v. Stein: „Mich wundert nun gar nicht mehr, dass Fürsten meist so toll, dumm und albern sind. Nicht leicht hat einer so gute Anlagen wie der Herzog, nicht leicht hat einer so viel verständige und gute Menschen um sich zu Freunden wie er, und doch will's nicht nach Proportion vom Flecke, und das Kind und der Fischschwanz gucken, ehe man sich's versieht, wieder hervor. Das größte Übel hab' ich auch bemerkt. So passioniert er fürs Gute und Rechte ist, so wird's ihm doch weniger darinne wohl als im Unschicklichen, es ist ganz wunderbar, wie verständig er sein kann, wie viel er einsieht, wie viel er kennt, und doch, wenn er sich etwas zugute tun will, so muss er etwas Albernes vornehmen, und wenn's das Wachslichterzerknaupeln wäre. Leider sieht man daraus, dass es in der tiefsten Natur steckt und dass der Frosch fürs Wasser gemacht ist, wenn er gleich auch eine Zeitlang sich auf der Erde befinden kann."

Im Jahre 1782 hatte es die verschwenderische Wirtschaft des Herzogs bis zum völligen Bankrott gebracht. Goethe tritt noch einmal vor den Riss, und es gelingt ihm mit großer Mühe, die Finanzen des Ländchens zu ordnen. Aber als er nun die Zustimmung des Herzogs zu einem festen Jahresbudget verlangt, stößt er wieder auf den souveränen Dünkel, und er weiß nunmehr, dass er gegen ihn auf die Dauer nicht aufkommen kann. Nachdem er die bekannte Schrift Voltaires über den König Friedrich von Preußen gelesen hat, schreibt er am 5. Juni 1784 an Frau v. Stein: „Das Büchlein wird entsetzliches Aufsehen machen, und ich freue mich nur darauf, weil du es lesen wirst; es ist so vornehm und mit einem so köstlichen Humor geschrieben, als irgend etwas von ihm; er schreibt vom König von Preußen wie Sueton die Skandale der Weltherrscher, und wenn der Welt über Könige und Fürsten die Augen aufgehen könnten und sollten, so wären diese Blätter wieder eine köstliche Salbe. Aber man wird sie lesen wie eine Satire auf die Weiber, sie beiseite legen und ihnen wieder zu Füßen fallen." Und so schreibt er am 9. Juli 1786 wiederum an die Stein: „Ich sage immer, wer sich mit der Administration abgibt, ohne regierender Herr zu sein, der muss entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr sein." Wenige Wochen, nachdem er dies melancholische Geständnis abgelegt hatte, floh Goethe nach Italien, ohne dass der Herzog oder auch nur seine Geliebte wussten, wohin er ging.

Charlotte v. Stein hat die Flucht Goethes so aufgefasst, als flöhe er vor ihr, sie reimte: „Oh, wie bin ich nun allein, ewig werd' ich einsam sein … wie er mir sein Herz verschlossen, das er sonst so ganz ergossen, wie er sich von meiner Hand stumm und kalt hat weggewandt", und auf seine Briefe aus Italien antwortete sie in sehr unwirscher Laune. Aber Goethes Briefe selbst zeigen, dass sie noch immer den alten Zauber über ihn ausübte und dass er nicht um ihretwillen aus Deutschland floh. Was ihn vertrieb, zeigt die Bedingung, die er dem Herzog für seine Rückkehr stellte: Entbindung von allen Staatsgeschäften, und Herr Frankel hat auch darin recht, dass er sagt, wenn Goethe bei aller autobiographischen Mitteilsamkeit über alle anderen Perioden seines Lebens gerade über sein erstes Weimarer Jahrzehnt stets völliges Schweigen beobachtet habe, so sei die Ursache davon keineswegs die Rücksicht auf Charlotte v. Stein gewesen. „Tiefer lagen die Gründe verborgen. Er mochte den Stein nicht aufheben von dem Grabe, das langgenährte Wünsche, kühne Hoffnungen, schmerzvolle Enttäuschungen verschloss." In der Tat hat Goethe sich und andere nie daran erinnern mögen, dass etwas in ihm zerbrochen war, was ihm durch nichts ersetzt werden konnte, dass ihm fortan nur noch ein verkümmertes Dasein beschieden war.

Freilich spricht Herr Frankel an anderer Stelle wieder von dem „goldenen Kranze", den Goethe nach seiner Rückkehr aus Italien erworben habe, und man darf auch auf den Einwand der Goethephilister gefasst sein: Also, alles Herrliche, was der Dichter Goethe in seinem späteren Mannes- und Greisenalter geschaffen hat, soll nicht soviel wert sein, als wenn er das Herzogtum Weimar hätte reformieren können? Man könnte darauf erwidern, dass Goethe auch in der Zeit, wo er mit dem Herzog darum rang, einigermaßen menschenwürdige Zustände in Weimar herzustellen, eine Reihe der herrlichsten Dichtungen geschaffen hat, und dass auch nur die Abschaffung der Fronden in einem Winkel Deutschlands für die menschliche Kultur allerdings mehr bedeute als Goethes „Bürgergeneral" oder seine Gedichte an „Ihro der Kaiserin von Österreich Majestät" oder auch seine misslungene Polemik gegen Newtons Farbenlehre. Allein man würde mit dieser Antwort schon ein viel zu großes Zugeständnis an die Beschränktheit machen. Es handelt sich gar nicht um die Antithese: Minister oder Dichter; tatsächlich hat ja in Goethes späterer Zeit das, um mit Bürger zu sprechen, „Alltagsstück Minister" oft genug den „großen Künstler" verdeckt. Worauf es ankommt, ist die Frage, ob die rein ästhetische Kultur, auf deren Pflege Goethe sich nach seiner Rückkehr aus Italien beschränkte, sein wirkliches Lebensziel gewesen ist, oder ob er sich nur nach den schmerzlichsten Erfahrungen darauf beschränkte, weil ihm versagt war, was er in seinen kraftvollsten Jahren mit heißem Bemühen erstrebte, nämlich ein voller Mensch zu sein, der in und mit seinem Volke lebte.

Die Antwort auf diese Frage geben Goethes Briefe an Charlotte v. Stein; sie zeigen ihn am Scheidewege seines Lebens, und sie zeigen auch, wie er nur Schritt für Schritt zurückwich, bis er sich für das ärmere Teil entschied oder vielmehr entscheiden musste. Er selbst verliert dabei nicht, denn alles, was in seinem späteren Leben abstoßend und erkältend wirkt, tritt in ein milderes Licht, wenn man es als das auffasst, was es ist: als das Ächzen und Stöhnen des gefesselten Prometheus. Aber was dabei kaputt geht, und zwar von historischen Rechts wegen, das ist die Verhimmelung der rein ästhetischen Kultur, unter deren Deckmantel sich noch jede reaktionäre Torheit zu flüchten gewusst hat. Es ist nicht von ungefähr, dass sich die unbedingteste Goetheverehrung mit dem unglaublichsten Stumpfsinn gegenüber dem nationalen Leben und seinen Bedürfnissen, gegenüber den politischen und sozialen Problemen der Gegenwart paart.

Darauf haben die braven Spießer freilich die Antwort: Aha, Goethe sollte wohl ein politischer oder gar ein revolutionärer Dichter sein, dann wäre er euer Mann. Da es sich nicht lohnt, mit dieser Rederei zu streiten, so sei sie wenigstens durch eine kleine historische Erinnerung beleuchtet. Der Freiherr vom Stein hat manches von dem, was Goethe als Weimarischer Minister vergebens erstrebte, als Preußischer Minister durchgesetzt, nicht weil er genialer oder revolutionärer war als Goethe, sondern weil er, an Jahren beträchtlich jünger, die Schlacht bei Jena als gütige Patronin hatte. Stein war weder ein Demokrat noch auch nur ein Liberaler; er steckte voll mittelalterlicher Schrullen, und in vieler Beziehung hatte Goethe freiere Anschauungen; in dem Unsinn, den beide über die große französische Revolution produziert haben, mag die Waage etwa gleich stehen. Nun machten sie im Juli 1815 zusammen eine Rheinreise, wobei Goethe der Gast Steins war. Nach dem Zeugnis Arndts war Stein so liebenswürdig, wie es seiner knorrigen Art sonst nicht entsprach, am wenigsten gegen kleinstaatliche Minister und Napoleonverehrer, wie Goethe war; Stein sah in Goethe nur den Mann, der dem deutschen Volke Ehre machte, und raunte seinen Begleitern zu: „Nur nichts Politisches, das mag er nicht; das können wir freilich nicht loben, aber er ist doch zu groß." Goethe aber bedankte sich für die genossene Gastfreundschaft mit den Worten: „Ich finde mir eine neue Ansicht des Lebens und der Erkenntnis eröffnet, indem ich durch Dero Vertrauen hellere Blicke in die uns zunächst umgebende moralische und politische Welt richten sowie eine freiere Übersicht über Fluss- und Landgegenden gewinnen konnte. Hierzu kommt noch, dass die schönen Stunden, die mir in Ihrer Nähe gegönnt waren, Vorboten eines höchst bedeutenden Ereignisses geworden" – es war nämlich das Kommandeurkreuz des k. k. Leopoldordens „nebst einem ehrenvollen Handschreiben des Fürsten von Metternich Erlaucht" in Weimar einpassiert, desselben Metternich, der in allen nationalen Fragen der grimmigste Gegner Steins war.

Hier sieht man gleichsam einen echten Menschen und eine höfische Pagode gegenübergestellt, und man mag daraus erkennen, was selbst ein altfränkischer Reichsritter durch seine lebendige Teilnahme am Leben der Nation gewinnen, was selbst ein großer Genius verlieren muss, wenn er von dieser Teilnahme ausgeschlossen ist.

Die Goethepfaffen werden sich dadurch freilich nicht beirren lassen. Ihr bloßes Dasein ist der schlagendste Beweis für die Einseitigkeit der rein ästhetischen Kultur, aber da sie in dieser Einseitigkeit leben und weben, so scheuen sie die historische Wahrheit über Goethe wie die Maulwürfe das Tageslicht.

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